Trnava | Coburgovo  Wo ein Neuanfang ein Erfolg ist

Coburgovo Foto: © privat

Das Viertel Coburgovo in Trnava ist so attraktiv, dass der Erfolg seiner Bewohner*innen an der Fähigkeit gemessen wird, freiwillig von hier wegzugehen. Ein junger Sozialarbeiter wollte sich nicht damit abfinden.

Die Straße Coburgova Ulica in Trnava war in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts mal eine bessere Wohngegend. Die Wohnblocks hatten Gärten, es gab ein Gemeindezentrum und ein Schwimmbad. Mit dem allmählichen Niedergang des Sozialismus und den in unmittelbarer Nähe der Straße gelegenen Autofirmen begann der Niedergang des gesamten Viertels. In den 1980er Jahren zogen dann die ärmsten Einwohner der Stadt hierher, vor allem Roma.

In den 1990er Jahren war ein Teil der Coburgova das größte soziale Brennpunktgebiet der Stadt. Zu Beginn der 2000er Jahre lebten hier rund 1000 Menschen, es gab eine Zuflucht für Obdachlose und Wohnungen für einkommensschwache Familien. Die Gegend hatte einen sehr schlechten Ruf, manche Einwohner*innen von Trnava hatten sogar Angst, hierher zu kommen.
 
Einem jungen Sozialarbeiter gefiel dies ganz und gar nicht: Juraj Štofej ist studierter Ethnologe und arbeitet bereits seit dem Abschluss seines Studiums mit Menschen am Rand der Gesellschaft. Damals war er für die größte slowakische Nichtregierungsorganisation tätig, die Pflegekinder betreut und gefährdete Familien unterstützt. Da Juraj solchen Familien half, ihre Kinder zurückzubekommen, beschloss er, gemeinsam mit seinen Kollegen von der Organisation Úsmev ako dar (etwa: Lächeln als Geschenk), sich genau an den Orten zu engagieren, wo die meisten Familien in Not waren. Inzwischen sind fast zwanzig Jahre vergangen, und Juraj ist immer noch für die Einwohner*innen des Viertels da, seit zehn Jahren als Leiter der gemeinnützigen Organisation Komunitné centrum Koburgovo (Gemeinschaftszentrum Koburgovo).

Am Anfang war ein Kindertag und Kinder wie Sand am Meer

„Ich wollte dort mal hingehen und mir anschauen, wie die Leute in einer solchen Umgebung leben können. Eine Freundin schlug vor, dort eine Veranstaltung zum Kindertag zu machen. Die Idee gefiel mir, weil ich so die Gelegenheit hatte, die Gegend und die Menschen kennen zu lernen. Als wir dort ankamen, rannten uns furchtbar viele Kinder entgegen. Sie waren sehr interessiert an den Aktivitäten. Auch ihre Eltern waren begeistert. Wir sagten uns, dass wir solche Veranstaltungen wiederholen könnten. Wir beschlossen, ein Zentrum zu gründen, um Familien zu helfen, denen drohte, dass ihre Kinder in ein Kinderheim geschickt werden“, beschreibt Juraj seine Anfänge in der Coburgova.

Sie gründeten das Centrum Mak, das speziell für Kinder und Familien mit den schwierigsten Problemen gedacht war. Das Ziel war es, vormittags Beschäftigung und Betreuung für Vorschulkinder und nachmittags niedrigschwellige Programme und Beratung anzubieten. Trotz intensiven, täglichen Engagements stellte sich dieses Vorhaben bald als unrealistisch heraus. Es waren einfach viel zu viele Kinder, die das Zentrum besuchen wollten. Und das war laut Juraj dann der Grund, warum man sich speziell auf die Vorschulkinder konzentrierte. „Wir sahen, dass die älteren Kinder in der Schule waren, während die Vorschulkinder draußen auf der Straße herumliefen und nichts zu tun hatten. Sie gingen nicht den Kindergarten oder in eine Vorschule. Also richteten wir tägliche Angebote für sie ein, und ich machte Sozialberatung. Ziel war es, die Lebensbedingungen der Familien zu verbessern, sodass die Kinder in ihren Familien bleiben konnten. Wir halfen dabei, Plätze in Kindergärten für die Kinder zu bekommen, damit sie es später in der Schule leichter hatten.“ Das Centum Mak hilft bis heute.

Auf der Seite der Menschen, gegen die sich die gesamte Umgebung verschworen hatte
Vor zehn Jahren war die Notlage der ausgegrenzten Familien so schlimm wie nie zuvor. Damals bezeichneten sogar die Medien, mit Unterstützung der Stadt, die Leute in der Coburgova als „nicht gesellschaftsfähig“ und man sprach davon, wie gefährlich es dort sei. Es wurde Stimmung dahingehend gemacht, dass man diese Menschen „loswerden“ müsse. Ein ortsbekannter Neonazi organisierte in der Straße einen Aufmarsch und Stadträte wollten sich offen von den Lösungen eines anderen Faschisten inspirieren lassen, der es bis ins slowakische Parlament geschafft hatte.

Damals wurden zahlreiche Bewohner*innen vertrieben, viele von ihnen zogen in andere Stadtteile oder sogar ganz aus der Stadt weg. Es reichte also nicht mehr aus, sich nur um die Kinder in der Coburgova zu kümmern, sondern auch die weggezogenen Menschen benötigten ein Angebot an Leistungen und Möglichkeiten. Juraj gründete deshalb eine neue Organisation, die auch in anderen Gegenden den von sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen Hilfe anbot.

Das neue Gemeinschaftszentrum Komunitné centrum Koburgovo erweiterte die Zielgruppe auf Kinder im Schulalter und übernahm das im Zentrum Mak eingeführte Modell. Es wurde getestet, validiert und schrittweise verfeinert, so dass es heute höchst effektiv ist.

Die stetige Arbeit der Ameisen bringt Ergebnisse

Nach dem Amtsantritt eines neuen Bürgermeisters hat sich die Situation erheblich gebessert. Das Zentrum hat seine Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung und anderen Hilfsorganisationen ausgebaut. Die Stadt selbst lobt die Ergebnisse der Arbeit. Demzufolge hat sich das Verhalten der Kinder vor Ort verbessert, der Schulbesuch ist regelmäßiger, die Kinder schwänzen weniger. Die Kriminalität ist zurückgegangen und die Jugendlichen begehen weniger Verkehrsdelikte und Diebstähle. Die Rückkehr von Kindern aus Heimen in ihre Familien und der reibungslose Übergang aller Kinder in die obligatorische Vorschulerziehung werden gesichert.

Seit letztem Jahr hat das Zentrum Koburgovo seine Einrichtungen um eine Sozialherberge erweitert, die am Rande der Stadt liegt und von der Außenwelt abgeschnitten ist. Die Ausgrenzung der dort untergebrachten Familien zeigt sich darin, dass ihr vorübergehendes Zuhause durch keine Straße und keinen Weg mit der Stadt verbunden ist.
 
Coburgovo

Coburgovo | Foto: © privat

Hinter den positiven Indikatoren stehen die Geschichten bestimmter Menschen

Vor allem zwei Arten von Tätigkeiten tragen dazu bei, das Leben der Kinder zu verbessern: die erste ist niedrigschwellige Arbeit mit kostenlosen Dienstleistungen, Einsatz am Wohnort der Klient*innen, dem Aufstellen von Regeln, und dem Schaffen von Wahlmöglichkeiten. Die Einbeziehung der Klient*innen in die Entscheidungsfindung steht im Zusammenhang mit der zweiten Art der Tätigkeit: der Sozialarbeit im Terrain, bei der man direkt in die Familien geht.

„In diesen Familien herrscht typischerweise großes Misstrauen gegenüber den meisten Institutionen, aber dank des Kontakts zu den Eltern können wir aktuelle Probleme sofort kommunizieren. Wir sprechen darüber, warum das Kind heute nicht zum Angebot des Zentrums kommt, welche Probleme es gerade hat, wie man aktuelle Probleme lösen könnte, ob es Möglichkeiten zur Bildung gibt. Von dem Punkt aus können wir dann nahtlos in die Beratung übergehen. Erfahrungen wie diese helfen ihnen, auch in Zukunft Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. So können sie erfolgreicher sein, haben mehr Fähigkeiten und Möglichkeiten und schieben ihr Versagen nicht nur auf die Gesellschaft. Ein Teil unseres Angebots ist auch sonderpädagogischer Unterricht, bei dem die Kinder von einer Lektorin unterrichtet werden“, erklärt Juraj.

Er weist gleichzeitig darauf hin, dass es nicht darum ginge, Talente der Kinder zu fördern, das sei die Aufgabe der betreffenden Organisationen. Das Zentrum Koburgovo ist lediglich die erste Anlaufstelle für Menschen, die sich in einer Krisensituation in einem sozial ausgegrenzten Bereich der Stadt befinden. Ziel ist es, den Klienten zu helfen, auf eigenen Füßen zu stehen und ihren Weg zu finden.

Juraj zufolge gelingt es jedoch nicht allen, aus der Gegend oder aus ihren Schwierigkeiten herauszukommen. „Bei einigen verschlimmert sich die Lebenssituation trotzdem immer weiter. In diesem Punkt erinnert mich unsere Arbeit an die Onkologie. Man weiß, dass viele Klienten es nicht schaffen werden, man erlebt viele Geschichten mit Misserfolgen.“

Umgekehrt erfahren die Mitarbeiter*innen des Zentrums in der Regel aber auch nichts über diejenigen, die es am Ende schaffen. Tatsächlich wird der Erfolg hier oft an der Fähigkeit gemessen, aus der Gegend wegzugehen und sich in das Leben außerhalb zu integrieren.

Manchmal ist es ein Erfolg, die Familie zu verlassen

Starke Familienbande haben auch eine Kehrseite. Wenn jemand den Ehrgeiz und die Fähigkeit hat, wegzugehen und mehr zu erreichen, wird die Person ohne Hilfe von außen von den ihr nahestehenden Menschen zurückgehalten.

Zum Beispiel Ela*, ein sehr kluges Mädchen. Sie konnte singen und tanzen, arbeitete ehrenamtlich im Zentrum und leitete mit dessen Unterstützung einen Freizeitclub für Kinder. Eigentlich sollte sie aufs Gymnasium gehen, aber ihre Mutter war dagegen. Sie war der Meinung, dass ihre Tochter in der Familie nützlicher wäre. Also blieb Ela zu Hause und kümmerte sich um ihre Familie und ihre bisherigen Aktivitäten. Mit Hilfe des Zentrums bekam sie später eine Stelle in Bratislava, in einer Kunstschule. Sie lernte dort ihren Freund aus der Ostslowakei kennen. Und das war ein Problem. Ihre Familie wollte nicht, dass sie weggeht. Dank der unermüdlichen Unterstützung fand Ela trotz des enormen Drucks ihrer Familie in sich selbst die Kraft, sich durchzusetzen und sich vom Druck der Menschen in ihrem Umfeld zu lösen. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann und den gemeinsamen Kindern im Osten der Slowakei.

Manchmal ist ein Erfolg, bei der Familie zu bleiben

Eine andere Familie war tief in der Misere. Der Vater saß im Gefängnis, die Mutter, Klientin des Zentrums, war drogensüchtig. Anna* lebte mit ihren Kindern in einem Keller, sie mussten in einem Kinderheim untergebracht werden. „Manchmal sind wir verzweifelt, weil wir oft miterleben, wie alles noch schlimmer wird“, gibt Juraj zu. Das Zentrum hat Anna während des gesamten Prozesses begleitet. Sie besuchten die Kinder mit ihr zusammen, brachten sie zu Weihnachten oder in den Sommerferien zu ihr, sie telefonierten oft und so schlief die Beziehung nicht ein. Die Mutter schaffte es, ihre Sucht zu überwinden, sie fand Arbeit und eine Wohnung. Sie kam so weit zurecht, dass sie ihre Kinder nach und nach wieder zu sich nehmen konnte und sie nun als Familie zusammenleben. „Aber wenn wir nicht gewesen wären, hätte sich niemand anderes um die süchtige Mutter gekümmert. Das Sozialsystem hat natürlich die Kinder in dem Sinne aufgefangen, dass sie in einem Kinderheim untergebracht wurden. Anna aber wäre sich selbst überlassen geblieben. Niemand hätte ihr geholfen, denn die öffentliche Meinung lautet, dass sie selbst an ihrer Situation schuld ist. Sie wäre auf der Straße geblieben. Die Kinder hätten zwar überlebt, aber sie hätten ihre Mutter verloren“, erklärt er.

Während ich darüber nachdenke, dass nur einem einzigen Menschen zu einem besseren Leben zu verhelfen dasselbe sein kann, wie die Welt zu verändern, meint Juraj Štofej: „Ich bin eigentlich ein glücklicher Mensch, weil ich sehe, dass man auch mit Wenigem große Dinge machen kann.“

* Namen der Klient*innen geändert

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