Ein Mann an der Sollbruchstelle der Gegenwart: Ab dem 11. Juni läuft Štěpán Altrichters Verfilmung Nationalstraße nach einem Roman von Jaroslav Rudiš in den deutschen Kinos. Was ist Protagonist Vandam für ein Typ? Und welche Gemeinsamkeiten haben Deutschland und Tschechien? Der tschechische Regisseur Štěpán Altrichter, der seit 18 Jahren in Berlin lebt, im Interview.
Damit wir alle einen vergleichbaren Wissensstand haben: Kannst du kurz erläutern, welche Bedeutung die titelgebende Prager Nationalstraße (Národní třída) für das kollektive Gedächtnis Tschechiens hat?
Seit der Nazizeit versammelten sich traditionell am 17. November Studenten, um für die Freiheit zu kämpfen. 1989 wurden sie auf der Nationalstraße, die vom Nationaltheater zum Wenzelsplatz führt, von der Polizei – viele sagen auch: der Geheimpolizei – und Schlägertrupps eingekesselt und errichteten eine Sitzblockade. Dann gab es diesen ersten berühmten Schlag gegen einen Studenten. Noch in der Nacht war der Mythos entstanden, dass jemand getötet worden wäre, was sich später aber als unwahr erwies. Wie die Bereitschaftspolizei auf die Studenten einprügelt, dieses Bild gehört zum kollektiven Gedächtnis des Landes. Die große Demonstration folgte erst danach, doch das war der Auslöser der Samtenen Revolution.Zur Zeit der Samtenen Revolution warst du acht Jahre alt. An was kannst du dich erinnern? Was hat dieser Systemwechsel für dich persönlich bedeutet?
Ich habe damals im sechsten Stock eines Plattenbaus gewohnt. Ich kann mich daran erinnern, dass ich es toll fand, als die Polizeitransporte vorbeifuhren, und ich das meiner Mutter aus dem Fenster gezeigt habe. Sie fand es natürlich nicht so toll. Für mich als Kind war das eher ein Event. Zu meinem Geburtstag ein paar Tage später habe ich mir gewünscht, auf die Demonstrationen zu gehen, was wir dann auch taten. Davon handelt mein Kurzfilm, den ich als großer Knight-Rider-Fan Did Michael Knight End the Cold War? nannte. Die erste Auswirkung des Umbruchs habe ich in der Schule mitbekommen – zuvor war die Lehrerin Frau Genossin, danach haben wir sie mit Frau Lehrerin angesprochen. Was ich gespürt habe war die Zeit Anfang der Neunziger, als ich etwas älter war. In Prag herrschte eine unglaubliche Euphorie, alles schien möglich.Der Stoff von „Nationalstraße“ ist ziemlich brutal. Was hat dich daran gereizt?
Der Stoff wurde von einem der erfolgreichsten tschechischen Produzenten, Pavel Strnad, an mich herangetragen, der die Art mochte, wie ich Sachen filmisch umsetze, dass Tragik, Komik und Mystik in einem eher angelsächsischem Erzählstil zusammenkommen. Ich habe mich mit Jaroslav [Rudiš] getroffen, der 500 Meter von mir entfernt wohnt, was wir gar nicht wussten – er in Kreuzberg, ich in Neukölln. Dann habe ich sein Buch gelesen, das düster ist, da hast du recht. Ich fand es beeindruckend. Meine Mutter, die das Buch kannte, meinte sofort: Das ist unverfilmbar. Mich hat diese Herausforderung gereizt.Ich habe das Gefühl, im deutschen Kino geht man oft eher programmatisch an Stoffe heran, sagt: „Lass uns was zum Thema Integration machen!“, während das tschechische Kino sich traut, ambivalente Charaktere zu zeigen. Ich mag Filme wie Trainspotting, in denen man in Abgründe abtaucht, die aber nicht schwarzweiß sind, sondern trotzdem unterhalten. Vandam ist ziemlich böse, er hat aber auch eine gute Seite. Das fand ich unglaublich spannend. Und er zeigt eine Art Sollbruchstelle, die zurzeit nicht nur in Tschechien, sondern überall in Europa gesellschaftlich zwischen den Abgehängten und den Profiteuren geht. Mir ist es wichtig, dass meine Filme sich trauen, das Leben auch in seinen Absurditäten zu erzählen. Das ist für mich authentischer als so zu tun, als verliefe Geschichte gradlinig.
Du hast das Drehbuch zusammen mit Jaroslav Rudiš entwickelt. Wie kann man diese Buchvorlage, die hauptsächlich aus Monologen und Dialogen besteht und keinen Plot im eigentlichen Sinne hat, filmisch umsetzen?
Das war ganz schön schwierig. Literatur und Kino funktionieren anders, Kino ist überspitzt gesagt etwas primitiver. Es gibt diesen Spruch von Miloš Forman: Möchte man einen Roman verfilmen, sollte man bloß nicht den Fehler machen, den Roman zu verfilmen. Wir haben versucht, dem zu folgen, Stimmung, Aussage und Figur herauszuziehen. Dafür haben wir jedes Wort gemeinsam an einem Computer geschrieben. Jaroslav hatte schon zwei erfolgreiche Verfilmungen hinter sich und deswegen das Mindset, dass man sich nicht Wort für Wort ans Buch halten muss. Bei seinen Texten weiß man oft nicht, ob man lachen oder weinen soll, und das wollten wir auf filmische Art vermitteln, einen guten Film machen, der nicht nur intellektuell funktioniert, sondern die Energie, den Witz und auch die Trauer, die in Vandam steckt, aufnimmt und rockt. Das war ganz schön schwierig, aber Vandam ist auch ein schwieriger Mensch.
Szene aus dem Film: Vandam (Hynek Čermák) auf der titelgebenden Nationalstraße in Prag | Foto: © Falcon a.s.
Du hast den Protagonisten Vandam bereits ein wenig beschrieben. Was ist das für ein Typ? Und nach welchen Kriterien castet man den Schauspieler für diese Rolle?
Was er für ein Typ ist, ist eine der spannendsten Fragen des Films. Damit spielen wir. Nach den Vorführungen entwickeln sich oft interessante Diskussionen unter den Zuschauern. Wir haben das bewusst bis zum Ende offengelassen. Es war ein Balanceakt, das ausgeglichen zu erzählen. Und das fing schon beim Casting an. Vandam wird gespielt von Hynek Čermák, einem sehr bekannten tschechischen Schauspieler, vergleichbar vielleicht mit Jürgen Vogel in Deutschland. Ich habe mich erst dagegen gewehrt, die Rolle mit einem so bekannten Schauspieler zu besetzen. Als junger Regisseur will man etwas Neues machen und nicht in Fußstapfen treten. Wir haben dann ganz Tschechien durchgecastet und festgestellt: Er ist einfach der Beste für diese Rolle. Er verkörpert diese Mischung, man mag ihn und gleichzeitig ist er total brutal. Hynek Čermák spielt im tschechischen Fernsehen und Mainstreamkino oft die Rolle des coolen Cops oder Detektivs, ist am Theater aber auch von seiner intelligenten, zärtlichen Seite zu sehen, die er in Nationalstraße voll ausspielen kann.Vandams Ziel ist, seine Stammkneipe zu retten. Welche Bedeutung hat die Kneipe als sozialer Ort in der tschechischen Kultur?
Ich habe mal in Polen eine Stadtführung gemacht, und als wir an einer Stelle vorbeikamen, an der eine Kirche von Kommunisten abgerissen wurde, sagte der Guide: Ich erkläre dir das auf die tschechische Art: Das ist, als hätte man in Tschechien eine Kneipe abgerissen. Für uns ist die Kneipe, was die Kirche für Polen ist. Und für Vandam ist die Kneipe ganz speziell. Jaroslav meinte letztens, Vandam befände sich selbst in einer Art Selbstquarantäne, indem er in dieser Welt von früher lebt. Er wohnt in einem Plattenbaugebiet von damals, das nach und nach von der turbokapitalistischen Gesellschaft aufgefressen wird, und die Kneipe ist sein letzter Fleck. Vandam hat viel damit zu kämpfen, dass er nicht mehr in diese Zeit passt. Und so fühlen sich heute, meine ich, viele von uns. Egal wie alt. Es bleibt also die Frage, was es über die heutige Zeit sagt, wenn sie so viele Menschen abhängt.Stichwort Plattenbau: Wie war es, einen Film in der Südstadt Prags und somit fern der üblichen Prag-Bilder zu drehen?
Du meinst damit die üblichen Prag-Bilder, die deutsche Zuschauer im Kopf haben? Für uns ist das überhaupt nicht ungewöhnlich, wir würden nicht auf die Idee kommen, etwa auf der Karlsbrücke zu drehen. Die normalen Prager wohnen nicht in einer schönen Altbauwohnung im Stadtzentrum. Dort halten sich die Touristen auf. Die normalen Prager leben im Plattenbaugebiet am Stadtrand, wo das normale Leben spielt. Wie Deutschland ist Tschechien geteilt zwischen Stadt und Land, nur ist es hier noch konzentrierter. Sehr vereinfacht gesagt wohnen in der Stadt die Gewinner und die Verlierer auf dem Land oder im Plattenbau in der Peripherie.Du selbst lebst seit 2002 in Berlin, nicht in Prag, wo du aufgewachsen bist. Wieso?
Um ganz genau zu sein wohne ich wie Jaroslav im Zug zwischen Prag und Berlin, vorzugsweise im Speisewagen. Nein, nein. Ich mache Witze. Ich lebe seit 18 Jahren in Neukölln und liebe es hier. Ich habe erst in Prag studiert und dann an der Filmuniversität Konrad Wolf in Babelsberg. Ich dachte immer, ich könnte in beiden Ländern Filme machen – es ist ja schließlich EU und das Jahr 2020. Aber mir fiel auf, dass bei vielen Tschechien und Deutschland wie zwei Welten im Kopf getrennt sind. Leider auch in den Köpfen vieler Entscheider vor allem in der deutschen Filmindustrie.Wann lief in Deutschland das letzte Mal ein tschechischer Film? Das Interesse in Deutschland an allem Osteuropäischen ist sehr gering geworden, obwohl man in den sechziger Jahren die tschechische neue Welle liebte, in den siebziger Jahren mit Filmen wie Drei Haselnüsse für Aschenbrödel aufgewachsen ist, der ja bis heute Kult ist. Es gibt in deutschen Kinos eine Konzentration auf amerikanische und höchstens westeuropäische Filme. Deswegen freue ich mich umso mehr, dass unser Film in Deutschland im Kino läuft. Ich würde mir aber auch wünschen, dass es aus Deutschland heraus leichter wird, solche Filme zu machen, die lustig und ernst zugleich sein können, die unterhalten, aber auch was zu erzählen haben. Die mehr „echtes Leben“ sind, wie ich es empfinde. Und ich glaube, das ist auch, was viele Menschen in Deutschland sehen wollen.
Du hast gerade das Pendeln erwähnt. Wie machst du das zu Coronazeiten?
Ich war die Zeit nur noch in Berlin und hatte für drei Monate auch meine Drehbuchautorin aus Prag bei mir untergebracht, die hier gestrandet war. Das Bedrückende ist, dass es viele Leute in Tschechien gibt, die es gar nicht so gestört hat, dass keiner raus kann. Das war wie früher.Wieso glaubst du, ist das so?
Das wage ich gar nicht zu beurteilen. Vielleicht aus Angst vor der neuen Welt, weil sich Leute ganz gut damit fühlten, dass wir mal so eingeschlossen gelebt haben. Man möchte da gar nicht drüber nachdenken.Du hast eben schon über die Kinoszene gesprochen. Als Grenzgänger zwischen zwei Kulturen – welche Unterschiede und welche Gemeinsamkeiten haben die deutsche und die tschechische Kultur?
Jaroslav, als jemand der Geschichte studierte und sehr geschichtsversiert ist, sagte mal: Es gibt keine tschechische ohne die deutsche Kultur. Und umgekehrt. Es gibt nur die europäische Kultur. Schon immer: Tschechien war zum Großteil deutschsprachig. Und wir sind zwar Slawen, aber wenn ich nach Russland fahre, merke ich, dass wir heute der deutschen Kultur viel näher sind als der russischen, was unser tägliches Leben angeht. Man denkt, durch das Internet wird alles zugänglich und wächst zusammen, aber manchmal ist es schwierig – wie zum Beispiel, wenn keine osteuropäischen Filme in Deutschland laufen (wobei sich die Tschechen übrigens auch eher als Mitteleuropäer bezeichnen würden). Und in Tschechien werden deutsche Filme auch nur äußerst selten und eher im Rahmen des deutschen Filmfestes, das unter anderem vom Goethe-Institut organisiert wird, gezeigt. Es scheint fast so, als gäbe es zunehmend mehr Grenzen und nicht weniger. Nicht nur zwischen den Ländern.Was meinst du damit?
Interessant finde ich zum Beispiel, dass in Deutschland – im Unterschied zu etwa England, Frankreich und den USA – Geschichten von Menschen mit einem Migrationsbackground kaum Eingang in die Kinos finden. Das kenne ich auch aus eigener Erfahrung. Wenn man hier einen solchen Stoff einreicht, können die Gremien, die fast ausschließlich aus Deutschen bestehen, diese Geschichten oft nicht nachvollziehen. Dabei sind es die Geschichten von den circa 25 Prozent der hier lebenden Menschen, denn so viele haben in Deutschland einen Migrationshintergrund. Und wenn man so eine Geschichte einreicht, so muss sie dann aber bierernst und ganz leidend sein.Wie oft ich schon gehört habe, ich dürfe meine oft der Realität entsprungenen Geschichten, die einfach lustig sind, nicht mit Humor erzählen, das sei nicht „authentisch” – von einem Deutschen. So etwas steht dann in einer Absage einer Filmförderung. Da ist nach wie vor eine Mauer im Kopf, die ich spüre, und ich denke, dass den Zuschauern einfach tolle, witzige und berührende Geschichten vorenthalten werden. Allgemein finde ich es nicht nur schön, sondern ungemein wichtig, wenn man sich mit den anderen beschäftigt, statt sie abzustempeln. Das ist einer der Gründe, aus denen ich diesen manchmal unglaublich anstrengenden Beruf überhaupt mache.
Juni 2020