Konsumismus, Geschichtsverdrängung, Fremdenhass – In „Empfänger unbekannt“ von 1983 erzählt der iranische Filmemacher Sohrab Shahid Saless eine deutsch-türkische Dreiecksgeschichte und liefert damit ein düsteres Porträt der westdeutschen Gesellschaft.
„Wenn Ihr uns stecht, bluten wir nicht?“ Die Frage von Shylock aus William Shakespeares Drama Der Kaufmann von Venedig steht als Motto am Anfang des Films Empfänger unbekannt. Der iranische Regisseur Sohrab Shahid Saless (1944 - 1998) setzt sich darin mit dem Verhältnis von Deutschen und Migranten in der Bundesrepublik auseinander. Es ist Anfang der 1980er-Jahre: Die westdeutsche Wirtschaft steckt in der Krise, die Zahl der Arbeitslosen steigt auf 1,8 Millionen und der Anteil der Geflüchteten an der Bevölkerung wächst, etwa infolge der Islamischen Revolution im Iran und des Iran-Irak-Kriegs, des Militärputschs in der Türkei und der Verhängung des Kriegsrechts in Polen.Empfänger unbekannt, uraufgeführt 1983 auf dem 13. Internationalen Forum des jungen Films der Berliner Filmfestspiele, beginnt mit dem Scheitern einer Ehe. Marianne Eschbach (Iris von Reppert-Bismarck), Jahrgang 1945, lässt ihr Leben mit Ehemann (Manfred Zapatka), einem Versicherungsunternehmer, zwei Kindern und dem gemeinsamen Haus in Wiesbaden zurück, um in West-Berlin mit einem arbeitslosen türkischen Architekten (Umran Ertok, der im Film auch so heißt) zusammenzuleben.
Shahid Salessʼ Film hat zwei Stränge, die parallel verlaufen: Wir nehmen Teil an den Gesprächen von Marianne und Umran, in denen er ihr resigniert von seinen Erlebnissen als Ausländer erzählt, vom Gefühl des Fremd- und Nicht-Gewollt-Seins in Westdeutschland. Zum anderen erfahren wir durch Briefe, die Marianne und ihr Mann austauschen, wie verschieden sich beide Eheleute entwickelt haben, wie wenig von der gemeinsamen 68er-Zeit übrig geblieben ist – und wie wenig er ihre Bedürfnisse kennt, in ihr im Grunde nur noch Mutter und Hausmanagerin sieht, der er alles überlassen kann.
Als ich ein Türke war
Empfänger unbekannt hat formal und stilistisch nur wenig mit Sohrab Shahid Salessʼ erstem Migrantenfilm In der Fremde (1975) gemein. Im Gegensatz zu den langen, ruhigen Einstellungen von In der Fremde arbeitet sein zweiter Film mit schnelleren Schnitten, mit Zooms, Schwenks und Voice-over. Auch Musik wird stärker eingesetzt. So erfährt man den Unterschied der Kulturen auch anhand der türkisch-arabesken Musik, die Umran hört, und anhand der klassischen Musik, die der namenlose deutsche Ehemann spielen lässt.Empfänger unbekannt ist essayistisch, aufgebaut wie eine Collage, in der Handlung und Reflexion aufeinanderfolgen. Wir sehen die Figuren sprechen, Bücher lesen, sinnieren, Briefe schreiben und lesen. Literatur und Kunst dienen dabei einerseits der Unterhaltung – und zwar des Ehemanns, wenn er abends im Ohrensessel sitzt und bei Kaminfeuer Graham Greenes Roman Das Ende einer Affäre (1951) liest oder in die städtische Oper geht und die Ballett-Aufführung in einem Pausengespräch als „schön“ bezeichnet.
Andererseits spiegeln Journalismus, Literatur und Kunst die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und Gegenwart wider. So sieht man in einer Szene auf dem Schreibtisch des Unternehmers die Ende 1982 erschienene Reportage Als ich ein Türke war von Gerhard Kromschröder liegen, in der dieser die Diskriminierung beschreibt, die er als verkleideter türkischer Hilfsarbeiter in Frankfurt am Main erfährt.
Marianne und Umran betrachten ihrerseits zusammen einen Band über den deutschen Faschismus mit Illustrationen von Renzo Vespignani. Später liest Marianne die Briefe an einen deutschen Freund von Albert Camus. In der Wohnung von Umran hängt zudem ein Ausstellungsplakat des in Deutschland lebenden türkischen Künstlers Mehmet Güler, der wie Umran als Architekt durch seine Tätigkeit das damals gängige Klischee von Türken als „Gastarbeitern“ möglicherweise durchbrechen soll.
Bei euch sagen alle: Die Ausländer sollen sich integrieren lassen, die Sprache lernen. Aber stell dir vor: Die ausländischen Kinder, die zur Schule gehen, in deutsche Schulen und das deutsche ABC lernen, um es dann überall lesen zu können: ,Ausländer raus. Türken raus.ʻ Wozu dann diese Sprache lernen? Wozu sich anpassen?“
Umran im Gespräch mit Marianne
Durch die Gespräche mit Umran lernt Marianne ihr Land von einer ihr bisher unbekannten Seite kennen und beginnt, ihre Umwelt genauer zu beobachten. Einmal sieht sie im Bus, wie zwei ältere Frauen einen Migranten von einem Platz für Menschen mit Behinderung wegdrängen, um sich dann um den Sitz zu streiten. Mariannes Ehemann beobachtet seinerseits, wie in seinem Unternehmen Mitarbeiter zwei türkische Putzfrauen verdächtigen, Geld gestohlen zu haben. Obwohl er weiß, dass eine der Sekretärinnen die Täterin war, nimmt er es hin, dass eine der Putzfrauen ihren Job verliert.
Umran selbst stößt in der Ausländerbehörde auf Unverständnis, als er mit dem zuständigen Beamten diskutiert und eine Aufenthaltsverlängerung von nur drei Monaten bekommt. „Wir dachten“, so sein Resümee, „wir seien eingeladen worden. Wir dachten, wir seien Gäste. Es dauerte lange, bis wir verstanden, dass wir hier zwar Gäste sind, dass es aber keinen Gastgeber gibt, der für uns sorgen könnte.“
Umran muss, weil er keinen Job findet, Deutschland verlassen. Marianne bleibt zurück in West-Berlin und verzweifelt an der „Uneinsichtigkeit“ ihrer Landsleute, aus dem Hitler-Faschismus zu lernen und Konsequenzen für das eigene Handeln zu ziehen: „Warum wollen die Menschen hier nicht wahrhaben, dass der Krieg uns gleichgültig und gefühllos gemacht hat?“
Die Kunst des Liebens
Mariannes Ehemann, ein Betriebswirtschaftler, steht im Film für jene aus der 68er-Generation, die beruflich erfolgreich geworden sind, sich Neuwagen, Reisen und Affären leisten, deren kritisches Bewusstsein und Engagement aber einer Gleichgültigkeit gewichen ist, die nur die Kräfte stärkt, die die Schuld für die schlechte Wirtschaftslage und hohe Arbeitslosigkeit den Migranten zuschreiben.„Der Selbstsüchtige interessiert sich nur für sich selbst; er will alles für sich; er hat keine Freude am Geben, sondern nur am Nehmen. Die Außenwelt interessiert ihn nur insofern, als er etwas für sich herausholen kann. Die Bedürfnisse anderer interessieren ihn nicht und er hat keine Achtung vor ihrer Würde und Integrität. Er kann nur sich selbst sehen.“ Mariannes Ehemann zitiert diese Sätze seiner Frau einmal aus Erich Fromms Kunst des Liebens, doch sein eigenes Verhalten reflektiert er nicht.
Shahid Saless klagt in Empfänger unbekannt – darin ähnelt sein Film Rainer Werner Fassbinders Die Ehe der Maria Braun (1979) – die westdeutsche Gesellschaft der Nachkriegszeit an: Sie hätte sich in Wiederaufbau und Konsumismus gestürzt, sich aber einer ernsthaften Auseinandersetzung mit sich selbst, der eigenen Schuld und mit den weitreichenden Folgen der zwölf Jahre währenden NS-Diktatur verweigert.
Marianne wird nicht zu ihrer Familie zurückkehren. Ihr Mann findet sein letztes Schreiben an sie mit dem Vermerk „Empfänger unbekannt“ im Briefkasten. Am Ende sehen wir, wie die Kamera von einem Foto Mariannes, neben dem ein Bericht über sie steht, zurückfährt und die Titelseite einer Bild-Zeitung vom Herbst 1982 erkennbar wird, die die neue Regierung Kohl/Genscher und Wahlen zum Bundestag für März 1983 vermeldet.
Mariannes letzte Tat vorher im Film ist die Verkündung eines „Gebets für Nichtgläubige“. Während sie es im Voice-over vorträgt, sehen wir Passanten, die bei Regen in einer Fußgängerzone einkaufen, Schaufenster mit Perücken, Parfüms, Schmuck und Uhren, eine ältere Frau, die ihren Hund liebkost und Angebote für günstige Trinkschokolade:
Mein Deutschland
meinen Taschenrechner vergaß und kein Geld heute auf die Bank brachte.
Ich verspreche dir, mich in Zukunft zu bessern, artig mehr in die Welt zu reisen,
jeden Tag das Wirtschaftsblatt zu lesen und aktiv an der Politik teilzunehmen.
Schütze meinen Hund vor den Menschen, Kindern und anderen bösen Tieren
und sorge, dass er nie hungern muss.
Danke für die tägliche Schokoladentorte mit Sahne und das nackte Mädchen am Frühstück und...
weil der Wind weht an den Herzen der Menschen vorbei,
ziehen Wolken dicht und dichter in diesem Land herbei.
Im Rahmen einer lockeren Serie stellen wir diese und weitere Filme von Sohrab Shahid Saless vor:
- Das stille Leben
Über die Filme Hans – Ein Junge in Deutschland (BRD / ČSSR 1985) und Der Weidenbaum (BRD / ČSSR 1984). - „Es war wie im Freilichtstudio“
Interview mit Bert Schmidt, langjähriger Regieassistent von Sohrab Shahid Saless - Kein schöner Land
Über den Film In der Fremde (BRD / Iran 1975) - Die Ehe der Marianne Eschbach
Über den Film Empfänger unbekannt (BRD / Iran 1983) - Kulturgut (im) Fernsehen
Interview mit Jürgen Breest, der als Fernsehredakteur an den Saless-Filmen Grabbes letzter Sommer (BRD 1980), Der Weidenbaum (BRD / ČSSR 1984) und Wechselbalg (1987) mitwirkte
Sohrab Shahid Saless
Geboren 1944 in Teheran.
Ab 1963 Aufenthalt und Filmstudium in Wien. Erkrankung an Tuberkulose. 1967 Fortsetzung des Studiums in Paris. 1968 Rückkehr in den Iran.
Mehrere Dokumentarfilme für das iranische Kulturministerium. Zwei Spielfilme, Ein einfaches Ereignis und Stilleben, im Iran gedreht.
1974 Emigration in die Bundesrepublik. 13 Fernseh-, Kino- und Dokumentarfilme für das deutsche und slowakische Fernsehen.
Auswahl:
- In der Fremde (1975)
- Reifezeit (1976)
- Die langen Ferien der Lotte H. Eisner (1979)
- Anton P. Čechov – Ein Leben (1981)
- Empfänger unbekannt (1983)
- Wechselbalg (1987)
Seit 1984 Mitglied der Akademie der Künste, Berlin. 1984 Übersiedlung in die ČSSR. Ende der 1980er Rückkehr in die BRD. 1994 Übersiedlung in die USA.
Gestorben 1998 in Chicago.
Zahlreiche Filmpreise.
Auswahl:
- Goldener Ibex für die beste Regie beim Internationalen Teheraner Filmfestival für Ein einfaches Ereignis (1973)
- Silberner Bär bei den Berliner Filmfestspielen für Stilleben (1974)
- Adolf-Grimme-Preise in Gold für das beste Drehbuch, den besten männlichen Schauspieler und die beste Regie für Grabbes letzter Sommer (1981)
- Preis der Akademie der Darstellenden Künste für Utopia (1984)
Der iranische Drehbuchautor und Regisseur Sohrab Shahid Saless ist im deutschsprachigen Raum nur wenigen bekannt. Und doch erleben seine Arbeiten derzeit eine (Wieder-)Entdeckung im In- und Ausland. Das Goethe-Institut hat den transnational lebenden und arbeitenden Künstler bereits zu seinen Lebzeiten als Teil des Neuen Deutschen Films betrachtet und ihn 1979 mit in die USA eingeladen, als dort neueste deutsche Autorenfilme vorgestellt wurden. 1983 wurde ihm eine eigene Werkschau in Paris gewidmet.
November 2017