Die Ökofeministinnen Annie Sprinkle und Beth Stephens sind nach Prag gekommen, um einen Vortrag zum Thema „Die Erde als Liebhaberin“ sowie einen Workshop über Ökosexuologie zu halten. Magdalena Šipka ist hingegangen und dort auf ihre inneren Dämonen gestoßen.
Beim Einführungsvortrag im Kampus Hybernská ist es voll. Annie Sprinkle, promovierte Künstlerin am Institut für fortgeschrittene Studien zur menschlichen Sexualität in San Francisco (Institute for Advanced Study of Human Sexuality) präsentierte gemeinsam mit ihrer Partnerin Beth Stephens, Künstlerin und Dozentin mit der Spezialisierung auf visuelle Künste, einen Zusammenschnitt von Clips aller Hochzeiten, die sie organisiert hatten. Sie haben also die ganze Erde mitgebracht und dazu noch alle Elemente. Jede dieser Hochzeiten war ein stilisiertes, queeres Ritual, an dem Gäste, Performende, Künstler*innen und Pornodarsteller*innen mitgewirkt hatten. Ihre bevorzugte Gruppe von Menschen.Aktuell arbeiten sie an einem Film über ihre Beziehung zum Feuer, und das ist auch hier ihr Hauptthema. Beth erklärt, dass es in früheren Zeiten nicht üblich gewesen sei, Häuser mitten im Wald zu bauen, dass wir in den Bereich des Feuers eingedrungen seien und die Feuer ihn sich jetzt zurückholten. Wir sehen uns Aufnahmen von ihr und Annie an, wie sie durch die Wälder spazieren. Annie hat ihre schöne große Handtasche dabei und wirkt umständlich und zugleich umwerfend.
Im Gespräch kommen wir am Rande auf die politische Situation in den USA zu sprechen. Sprinkle scheint mir die perfekte Person zur Befriedung von Kulturkämpfen zu sein. Beth erzählt davon, wie Annie im Hotel glänzende Augen bekam, als Take me home, country roads gespielt wurde, sie trägt ein tolles Makeup und hat eine Karriere als Pornostar hinter sich, ihr Ansatz zum Schutz des Planeten ist durch die Liebe zur uns umgebenden Natur, zu uns selbst und zu aller Diversität motiviert.
Annie und Beth erklären, wie man Rituale queer macht, wie man einen sensiblen Porno dreht, wie man die Landschaft des weiblichen Körpers nicht nur als zu erforschendes Objekt, als schwarzes Loch einer alles verschlingenden Mutter oder idealisierte jungfräuliche Artemis präsentiert. Sie treten gegen Frauenfeindlichkeit und Objektifizierung an. Alles in ihrer Konzeption hat irgendwie einen Bezug zum Leben. Selbst die Einbettung der Elemente in Beziehungen. Später lese ich in Annies Buch über den Orgasmus, dass wir auch andere erotische Erlebnisse haben als einfach nur Sex. Ebenso kann auch das Baden in einem See erotisch sein. Das Wasser tritt zwischen uns, bildet eine weitere anwesende Entität.
We stand with Kača Olivová
Nach dem Ende des Vortrags wartet in der Eingangshalle ein üppiges Werk aus Essen, Obst, Gebäck und Pasten auf uns. Es sieht aus wie eine über den ganzen Tisch arrangierte Blume. Eine Weile essen wir davon, dann aber merkt jemand an, dass noch etwas übrig bleiben soll für die Vortragenden, die noch im Diskussionsraum sind. Überall liegen Aufkleber verstreut, die zur Unterstützung der Pädagogin Kača Olivová aufrufen. Sie und Darina Alster haben Annie Sprinkle und Beth Stephens nach Prag eingeladen. Zugleich sehen sich Kača Olivová, Eva Koťátková, die Akademie der bildenden Künste, der Jindřich-Chalupecký-Preis [für Nachwuchskünstler, Anm.d.Red.] und die Nationalgalerie einem Gemisch von Kritik und persönlichen Angriffen in Form einer Petition ausgesetzt, die von einer Gruppe „verdienter“ Künstlerinnen und Künstler unterzeichnet wurde. Es spricht nicht gerade für die Petition, dass sie von der Frau eines Dozenten erstellt worden ist, der von der Akademie entlassen wurde, weil er seine Tochter durch die Aufnahmeprüfungen bringen wollte. Die Kunstwelt wie auch feministisch orientierte Institutionen bemühen sich um einen Dialog, man nimmt auch die Argumente der Gegenseite ernst, auch wenn diese in manchen Aspekten herabwürdigend sind.Die „verdienten“ Künstler kritisieren beispielsweise eine allzu kollektivistische Orientierung der Akademie der bildenden Künste oder einen fehlenden Wettbewerb (etwa beim Jindřich-Chalupecký-Preis). Die Initiator*innen der Petition vermitteln den Eindruck, die Qualität der Bildung an der Akademie sei schlecht und breche mit der Tradition, die Garant für die Qualität der Lehre gewesen sei. Dabei sind einige Richtungen, die beispielsweise der Jindřich-Chalupecký-Preis einschlägt, in völligem Einklang mit den neusten pädagogischen Erkenntnissen – wie etwa die Unterdrückung des Wettbewerbsgedankens im Sinne einer Skalierung sowie die Konzentration auf den Beitrag jedes und jeder einzelnen Beteiligten. Außerdem die Betonung aktueller und für die Studierenden lebendiger Themen. Und ebenso eine gewisse Selbstkritik sowie der Hinweis auf die Problematik vorherrschender Handlungsweisen in unserer Gesellschaft, die Bemühung darum, auch problematische (kolonialistische) Aspekte unserer Kultur zu sehen, nicht nur das ständige sich Verstecken hinter dem Narrativ der tschechischen Nation als größtes Opfer der Geschichte.
Beth Stephens und Annie Sprinkle gestalten bereits seit zwanzig Jahren künstlerische Projekte über Liebe, Sex und Queerness. Annie war von 1973 bis 1995 Sexarbeiterin und wurde nach und nach zur feministischen Performerin und Sexualpädagogin. Beth war Bildhauerin, sie schuf Installationen und wurde Kunstprofessorin an der Universität. Sie lehrte 27 Jahre an der Kalifornischen Universität in Santa Cruz. Aktuell produzieren die beiden Filme mit Umwelt- und ökosexueller Thematik, sie veranstalten Symposien, beschäftigen sich mit Theater und performativem Aktivismus. Ihr Text Ecosex Manifesto setzte die ökosexuelle Bewegung in Gang. Gerade drehen sie einen Film über Feuer, für den sie 2021 ein Guggenheim-Stipendium erhalten haben. Ihr neues Buch Assuming the Ecosexual Position-the Earth as Lover (University Minnesota Press) ist eine Chronik ihrer epischen Liebesgeschichte und ihrer Abenteuer in Kunst und Leben.
Mehr zu ihrer Arbeit hier.
Die Schwere kollektiver Entscheidungen
Den Workshop beginnen wir am nächsten Tag in den Dachgeschoss-Räumlichkeiten des Ateliers Nová média II mit einem gemeinsamen Kreis. Die Teilnehmenden kommen auch aus Österreich, der Slowakei und aus Polen, es sind insgesamt an die vierzig Personen. Uns wird das Ecosex Manifesto vorgestellt. Wir stimmen uns mit Bewegung ein, atmen in einem Rhythmus, nennen unsere Namen und unsere ökosexuellen Namen und teilen unsere süßen und herzhaften Pausensnacks miteinander, bevor wir in Gruppen eingeteilt werden, in denen wir uns auf einen performativen Spaziergang durch den Stromovka-Park vorbereiten sollen. Wir gehen durch den Park, als hätten wir ein Stelldichein auch mit den Bäumen, als wäre das ganz alltäglich, gehöre zum Schaum der Tage dazu und wäre zugleich eine Kunstform, eine rituelle Verbindung aller drei Elemente.Unsere Gruppe ist heterogen, letztendlich kommen alle diejenigen dazu, die gerade nicht aufgepasst haben, als die Gruppeneinteilung vorgenommen wurde; die anderen fangen erst am nächsten Tag an. Wir versuchen, unsere Ideen für den Spaziergang auf ein großes Blatt Papier zu schreiben. Ich bemühe mich, alle meine Moderationsfähigkeiten zu aktivieren, doch das klappt nicht besonders, am nächsten Tag werde ich in der Morgenrunde sagen, ich hätte von den Seelen zweier Frauen geträumt, die keine ausreichend gute Arbeit hätten, was ihnen ihre Familie vorwerfe.
Zuweilen sehne ich mich danach, dass jemand von außen käme und uns sagen würde, was genau wir tun sollen und wie. Dass jede*r zum Beispiel drei Minuten hätte und wir uns abwechseln sollten. Dass jemand einschreiten und für uns entscheiden würde. Es kommt nur Beth mit ihren neuen Ideen und der Tarot-Karte „Der Tod“, mit der sie gerade in einem Seminar gearbeitet hat. Das ist wichtig und interessant, vielleicht auch eine persönliche Erkenntnis von ihr, hilft meiner Ansicht nach aber überhaupt nicht weiter. Wir bleiben mit der Notwendigkeit zu entscheiden allein.
Ich bin angeblich streitlustig und aggressiv
Wieder und wieder kommt es zu Spaltungen innerhalb der Gruppe, zum komplizierten Ringen um Autorität, zu Boykotten. Dafür habe ich, ehrlich gesagt, keine Nerven mehr, deshalb fordere ich die in der Ecke miteinander Tuschelnden auf, sich einzubringen. Ich schlage eine gemeinsame Meditation im Park vor, wo später auch der Spaziergang stattfinden soll, denn jetzt ist die Atmosphäre zu angespannt. Dank der „angespannten“ Atmosphäre und noch zwei weiterer „allzu aktiver Teilnehmerinnen“ kann die Gruppe überzeugt werden und geht geschlossen in den Park. Francesca, eine Teilnehmerin unserer Gruppe, beginnt dort mit den anderen die Meditiation und geht in eine Imagination über, deren Ergebnisse wir uns daraufhin mitteilen und die etwas über unsere Beziehung zum eigenen Ego, zur Partnerschaft, zu den zu erwartenden Nachkommen aussagen soll.In dem Augenblick brodelt alles in mir, denn ich verstehe überhaupt nicht, wie diese Übung keine zwei Stunden vor Ablauf der uns zugeteilten Zeit uns herausziehen und helfen soll, unseren Teil der Performance vorzubereiten. Was ich im Anschluss an die Mitteilungen Francesca auch sage, ich streite mich noch mit einem weiteren Gruppenmitglied, bin angeblich streitlustig und aggressiv und habe für den ganzen Prozess nicht die richtige Energie. Ich will gehen. Schreie einen jungen Mann an, der währenddessen unablässig feministische Artikel zitiert, er solle mir nicht sagen, was ich mit meiner Energie zu tun habe. Er hält inne und entschuldigt sich plötzlich, was mich rührt, aber dann erklärt mir ein anderer Mann, dass ich zu aggressiv sei. Ich gehe langsam weg.
Francesca läuft mir hinterher und redet auf mich ein, dass so doch Gruppen entstünden, dass wir uns doch erst seit Kurzem kennen würden und noch etwas. Ich bin ihr dafür dankbar, gehe dennoch nach Hause. Im Bett liegend, weiß ich überhaupt nicht, ob ich am nächsten Tag überhaupt in der Lage sein werde zu kommen. Ich schreibe den Lehrenden, diese klären es mit dem Rest der Gruppe. Mir fällt ein, dass ich während der Vorbereitung des Workshops ein Gedicht darüber geschrieben habe, wie müde ich bin, und mache mit den anderen Gruppenmitgliedern ab, dass ich es vorlesen werde. Meine Gruppe verabredet derweil – zum Teil am selben Abend an der Bar, zum Teil per WhatsApp – eine Tanz-Performance.
Wir werfen alte Leiden ab
Die Performance am nächsten Tag ist wie eine Auferstehung. Alle tragen schöne bunte Kleidung, sind gelockert, glänzen, irgendwie ordnen wir uns dem Ereignis unter, die Konflikte des vergangenen Tages lösen sich auf. Die Rituale lassen sich nicht nur queer machen, sondern stellen darüber hinaus eine allen zugängliche Plattform dar, in der wir einen Platz finden können, die eine eigene, von uns oder von anderen Leuten unabhängige Kraft besitzt. Und die verbunden ist mit dem Ganzen, nicht nur mit dem Ganzen unserer zerstrittenen Gruppe. Es ist wirklich schön, wir gehen mit dem Wasserlauf, werfen alte Leiden ab und verbrennen sie im Feuer.Charon bringt uns in die Mitte der Moldauinsel Štvanice, wo wir ein Feuer aus ineinander verschlungenen Körpern, den Tanz mehrerer und dann wiederum zweier Menschen betrachten. Wir lehnen uns gegen Bäume und aneinander an. Da lege ich mich auf den Boden, die Arme lege ich über mich, lasse alles abfließen. Annie Sprinkle kommt zu mir, fotografiert mich und sagt, das sei schön. Ja, Mädchen, endlich hast du dich zu Boden geworfen, jedem hier war klar, dass du das mehr brauchst als wieder die Wichtige zu spielen.
Dann ist für unsere Gruppe die Zeit gekommen, sich dem Thema Erde zu widmen. Ich bemerke, dass andere aus der Gruppe, „die Mädchen, die das Heft immer zu fest der Hand halten“ es trotz der Unstimmigkeiten mit der Gruppe schaffen, sich wunderbar einzubringen, in ihren eigenen Kostümen, mit ihrer eigenen Identität. Eine verwandelt sich in Maria Magdalena. Schneller als ich geben sie es auf, am gemeinsamen Teil des Rituals mitzuwirken. Sie sind nicht zwangsläufig kollektiv, bleiben aber anwesend. Der Lernprozess in diesem „aktivistischen“ Kollektiv ist für mich die große Schule der Ausgeglichenheit mit mir selbst und den anderen.
Lernen durch die Konfrontation mit sich selbst
Bei der gelegentlichen Teilnahme an Performances habe ich transformative Kräfte erlebt, die diese Erfahrung mit sich bringen kann. Die Vertiefung in ein Ritual kann einer Trance nahekommen, ist mit großer physischer Anspannung und darauffolgender Ermüdung verbunden, ist eine grundlegende Lebenserfahrung mit der Möglichkeit zur Veränderung. Das Ritual, an dem ich jetzt teilgenommen habe, war umso intensiver, denn ich habe auch seine anstrengende Vorbereitung erlebt. Insgesamt muss ich zugeben, dass es mich viel über mich selbst gelehrt hat. Ich bin mir meiner aktuellen Situation als eine Art „Energielevel“ bewusst geworden, und ebenso meiner Mechanismen, mit denen ich mich selbst täusche, wenn ich die Kontrolle über eine Situation erlangen will, anstatt mich zu entspannen. Außer der Beziehung zu mir selbst habe ich mir auch vieles über mein Verhältnis zu anderen klargemacht. Das Erlebnis hat mich wohl auch weitergebracht in Bezug auf meine Fähigkeit zu kommunizieren und mich in einer größeren Gruppe von Leuten mit oftmals unterschiedlichem kulturellen und persönlichen Hintergrund zu verständigen. Eben die Fähigkeit, mit Leuten zu kommunizieren und gemeinsame Lösungen zu finden, sind meiner Überzeugung nach eine grundlegende Kompetenz für ein gutes Leben in den Zeiten, die vor uns liegen.Und gleichzeitig war das alles verdammt schwer. Ich hätte bei alldem gerne jemanden gehabt, der mich hindurchlenkt, hätte mir gewünscht, einfachere Lösungen zu sehen sowie eine Katharsis auch auf einer ausgesprochenen, reflektierten, bewussten Ebene. Ich hätte in alldem gerne funktionierende Methoden und Werkzeuge angewendet, ohne so viel umherirren zu müssen. Gleichzeitig hat mich diese Konflikterfahrung in gewisser Weise wachgerüttelt, dadurch, dass der gesamte Workshop mit einer intensiv erlebten Performance und im Anschluss daran noch mit einem Tag endete, der anhand von Bewegungs- und Atemübungen mit Ališe Červinková all das Erlebte sich setzen lassen sollte. Der Rahmen, denke ich, war in Ordnung.
Übrigens war der Workshop für Hochschulstudierende gedacht, Leute, die formell, aber nicht ausschließlich ihrem Geburtsdatum nach erwachsen sind. Mich begleitet auch ein gewisses Vertrauen, begründet darin, dass wir im Rahmen der Gruppe nicht jene Themen ansprechen, gegen die wir als Einzelne gar nicht ankommen können. Niemand hat mich zu keiner Zeit genötigt, aktiver zu sein oder mehr mitzuteilen, ich habe selbst entschieden, wie viel von mir ich in die ganze Sache einbringe.
Die Initiator*innen der Petition gegen die Leitung der Akademie der bildenden Künste meinen, es käme zur „Liquidation der Struktur, der Methodik und des Lehrsystems“, und da stimme ich insofern zu, dass es tatsächlich zu einem Wandel dieser Strukturen kommt. Allerdings nicht willkürlich, sondern im Einklang mit den aktuellen pädagogischen Richtungen. Und zugleich wird an viele Traditionen angeknüpft, vielleicht finden davon gar mehrere Eingang in die Bildung, sodass es nicht nur auf eine westliche Richtung hinausläuft. Und was die Strukturen angeht, so sind sie durch die Hinwendung zu einem horizontalen Unterrichtsstil, der auf das Kollektiv zielt, nötiger denn je. Sie werden nicht mehr von der „Leitung“ zusammen- und durch Gehorsamkeit am Laufen gehalten, denn an ihrer Ausbildung beteiligt sich, im Gegenteil, jedes Mitglied. Damit alles funktioniert, sind geteilte Werte und der geteilte Wunsch zu Lernen nötig. Diese kollektiv geteilte Verantwortung hat das Potenzial dazu, weit mehr beizubringen und ist ganz sicher kein Versuch hin zu mehr Bequemlichkeit.
Oktober 2024