Wie wird unser Leben in gut zehn Jahren aussehen? Vielleicht werden wir morgens mit unserer Holo-Assistenz frühstücken und uns danach im Flug-Auto auf den Weg zur Arbeit machen – vielleicht auch nicht. Klar ist: Die Welt von morgen wird eine andere sein. Auch für die Generation Alpha, die derzeit zur Welt kommt.
Ein Tag im Jahr 2035: Alice in Köln lässt sich von ihrer smarten Wohnung wecken, ihr digitaler Assistent Neo bestellt per Lieferdienst Kaffee nach und bereitet alles vor für einen Tag im Homeoffice. Leonie wacht in Wuppertal in ihrer WG auf, ihr selbstprogrammierter Assistent Buddhy hat über Nacht ihre Vitalwerte gecheckt und reduziert deswegen die Koffeindosis in ihrem Morgenkaffee. Nach der Arbeit im Homeoffice trifft sich Leonie mit einer Freundin zum Holo-Konzert von Beyoncé, deren Abschiedstournee weltweit gestreamt wird. Baram in Herne fährt am Morgen wiederum mit dem autonomen Bus zur Arbeit auf die Baustelle. Seine Freizeit verbringt er in virtuellen Gaming-Räumen, wo er sich mit Freund*innen trifft. Seine digitale Assistentin Dana erinnert ihn beim Zocken daran, rechtzeitig schlafen zu gehen. Andernfalls bekommt Baram Minuspunkte auf seinem Gesundheitskonto.Diese drei Menschen existieren nicht – sie sind sogenannte Personas, prototypische Abbilder von Menschen, die 2021 für den Zukunftsreport Generation Alpha des WDR Innovation Hub entwickelt wurden. Daran beteiligt waren Mitarbeitende des Westdeutschen Rundfunks (WDR), aber auch Zukunftsforscher*innen, Expert*innen aus Jugend- und Generationenforschung, aus der Technologie-Branche sowie Formatentwicklung. Der Report befasst sich mit der nächsten Generation, die nach X, Y und Z bereits jetzt in den Startlöchern steht: den Alphas. Der WDR wollte vor allem herausfinden: Wie ticken die Alphas in Bezug auf ihre Mediennutzung? Und wie kann man sie als künftige Arbeitnehmer*innen gewinnen?
Generation Alpha
Als Generation Alpha werden in der Regel jene Menschen bezeichnet, die zwischen 2010 und 2024 geboren wurden oder werden. Im Jahr 2035 werden einige von ihnen bereits junge Erwachsene sein, die sich im Job, Studium oder Ausbildung befinden. Vor allem in der Marktforschung wird die Generation Alpha bereits intensiver untersucht.
Der Name wurde geprägt vom australischen Sozialforscher und Unternehmensberater Mark McCrindle. Er nutzte den Begriff bereits 2008 in einer Online-Umfrage, die er für seine Agentur durchführte. McCrindle wählte für die neue Generation das griechische Alphabet, um zu verdeutlichen, dass Alphas nicht nur die erste Generation sein wird, die komplett im 21. Jahrhundert geboren und aufwachsen wird. Ebenso wird es eine Generation sein, die digital immersiv aufwächst, also kein Leben mehr ohne digitale und personalisierte Technologien kennt. Nach McCrindle wird es hochgerechnet im Jahr 2025 rund zwei Milliarden Alphas geben – damit wird es die größte Generationenkohorte sein, die es jemals gab. Und: davon kommen laut Unicef 40 Prozent aus nur fünf Ländern – Indien, China, Nigeria, Pakistan und Indonesien.
Die Eltern der Alphas: Zwischen Krisen und Bewältigungsoptimismus
Die wissenschaftliche Studienlage über Alphas ist derzeit eher dünn. Das liegt auch daran, dass viele von ihnen noch Kleinkinder sind – oder eben noch gar nicht auf der Welt. Um die Herausforderungen und Themen der Alphas zu skizzieren, kann man sich jedoch anschauen, was bereits ihre Eltern und Geschwister umtreibt: Die ziemlich gut erforschten Generationen Y und Z.Diese sind in der Gegenwart – Mitte 2022 – mit teils massiven Krisen konfrontiert. Die Corona-Pandemie hat den „Normalalltag“ vielerorts umgekrempelt und grassiert zugleich weiter in Ländern mit schlechterer Gesundheitsinfrastruktur. Der Ukraine-Krieg droht, Zentral- und Westeuropa mitzureißen, viele spüren zum ersten Mal, was für ein unhinterfragtes Privileg Sicherheit ist. Hinzu kommen die Klimakrise und die Vertiefung gesellschaftlicher Brüche. Die Welt wird derzeit düsterer und ungerechter – was macht das mit jungen Menschen?
Die Generation Alpha wird nicht an Krebs sterben. Davon bin ich überzeugt. Das bringt natürlich nur nichts, wenn uns die Erde abfackelt.“
Zukunftsforscher Tristan Horx
Trend- und Zukunftsforscher Tristan Horx, selbst Jahrgang 1993 und Mitwirkender am WDR Zukunftsreport, findet ebenfalls klare Worte: „Die Generation Alpha wird nicht an Krebs sterben. Davon bin ich überzeugt.“ Der medizinische Fortschritt werde weitergehen, aktuell stecke durch die Corona-Pandemie auch viel Geld in der Forschung. „Es bringt natürlich nur nichts, wenn man nicht an Krebs stirbt, wenn uns die Erde abfackelt“, so der Forscher zum Thema Klimawandel, den er als „die Mutter aller Krisen“ bezeichnet. „Wenn die [Alphas] 20 sind, werden wir rausgefunden haben, ob wir das mit dem Klima auf die Reihe gekriegt haben oder nicht. […] Die anderen Generationen müssen dieses Problem für diese Generation [Alpha] lösen, weil die noch nicht in dem Alter sind, in dem sie was dran ändern können“, so Horx.
Neben der Klimakrise sieht Hanna Christiansen, Professorin für klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Philipps-Universität Marburg, ein weiteres Problemfeld: soziale Ungleichheit unter den Jugendlichen und damit den Eltern der künftigen Alphas: „Diese Erfahrung, nicht dazuzugehören und die Chancen zu haben, aufzusteigen, wirkt sich einfach massiv demoralisierend aus“, so Christiansen. „Das ist letztendlich ‚vererbt‘; also Wohlstand vererbt sich und Armut vererbt sich. Von sozialer Gleichheit profitieren alle in der Gesellschaft, auch die oberen Schichten.“
Zurück ins Nest
Neben den Krisenerfahrungen ist auch entscheidend, wie Generation Y und Z diese bewältigen – oder sie aussitzen. In der Forschung zeigt sich, dass ein Rückzug ins Private erfolgt, wenn es zu Krisen und Verunsicherungen kommt, sagt Christiansen. „Dahin, wo man sich sicher fühlt, wo man das Gefühl hat: Das habe ich unter Kontrolle, da ist es kuschelig, da fühle ich mich wohl.“ Die Familie werde zum Ort des Selbstschutzes, so die Psychologin. So seien die Eltern-Kind-Beziehungen in den vergangenen Jahren besser geworden, harsche und autoritäre Erziehung gebe es seltener. Vielmehr wollen manche Eltern sogar die besten Freund*innen ihrer Kinder sein – und überforderten sie damit auch mal, weiß die Professorin. Tim Gensheimer vom Sinus-Institut bestätigt den Trend: „Familie und insbesondere die Eltern, teilweise auch die Großeltern, das sind ganz zentrale Zukunftsvorbilder für die Jugendlichen.“ Die Eltern und Großeltern stünden für Ehrlichkeit, Unverstelltheit, Erfolg, Fleiß, Lebenserfahrung, aber auch einfach das Kümmern um die Familie. Jugendliche aus bildungsstärkeren Milieus bewunderten ihre Eltern auch für berufliche Leistungen; Kinder aus bildungsferneren oder ärmeren Familien schätzen diese für ihre emotionale Fürsorge, so Gensheimer.Wohlstand vererbt sich und Armut vererbt sich. Von sozialer Gleichheit profitieren alle in der Gesellschaft, auch die oberen Schichten.“
Kinder- und Jugendpsychologin Hanna Christiansen
Das könnte soweit gehen, dass es wieder zu einer Re-Traditionalisierung kommt, erwartet die Psychologin Christiansen: „Wir hatten jetzt mit Corona auch noch diesen klassischen Roll-Back. Die Mütter waren diejenigen, die zu Hause waren, die sich gekümmert haben, das wird mit Zukunfts-Krisen sehr ähnlich sein.“
Horx wiederum interpretiert den Mangel an Reibung zwischen den Generationen anders: „Es gibt nicht mehr so viel zum Gegen-Rebellieren“, so der Trendforscher. „Das ist eigentlich auch was Schönes, aber das macht es auch ein bisschen schwierig. Wir haben alle so eine Phase im Leben, während der man sich auch durch die Abnabelung von den Eltern definiert.“ Vor allem in den 1960er Jahren hätten sich Jugendliche deutlicher von ihren Eltern distanziert, sie stärker hinterfragt aufgrund ihrer Vergangenheit im Nationalsozialismus. Heute sieht er eine Art „umgedrehte Rebellion“: „Wenn deine Eltern liberale Hippies sind, dann wird man eben Versicherungsvertreter, um ihnen eins auszuwischen“, so Horx.
Zentraler Vergleichspunkt ist für alle drei Expert*innen die Generation der 1968er. Diese steht für Aufbruch, sichtbare Rebellion und einen harten Bruch mit den Werten ihrer Eltern. Im Vergleich dazu wirken Jugendliche heute viel weniger aufsässig – vielleicht auch weil es mehr Anpassungsdruck von außen gibt, vielleicht, weil praktisch jede neue Jugend- oder Subkultur schnell kommerziell ausgeschlachtet wird. Die Felder der Rebellion werden somit nischiger und exotischer – zugleich gibt es weiterhin „klassische“ Außenseiter*innen, „Misfits“, Kids, die nirgendwo richtig reinpassen. Nicht zuletzt werden Gesellschaften heterogener – es gibt unterschiedliche kulturelle Konzepte von Familie und Jugend, von Respekt, Unterordnung und Rebellion, die nicht direkt westlich-eurozentrischen Konzepten entsprechen müssen.
Wenn deine Eltern liberale Hippies sind, dann wird man eben Versicherungsvertreter, um ihnen eins auszuwischen.“
Zukunftsforscher Tristan Horx
Weltraumtourismus und Datenüberwachung: Die Zukunft der Alphas
Neben ganz handfesten Krisen und einem gewissen Grad an Re-Traditionalisierung erwartet die Generation Alpha aber auch Spannendes und Neues. Tristan Horx sieht einen klaren Vorteil für die nächste Kohorte: „Meine Generation hat das Problem: Wir sind alle zu spät geboren, um den Planeten noch zu erkunden, und zu früh geboren, um das Weltall zu erkunden. Aber bei der [Generation] Alpha könnt sich’s ausgehen“, vermutet der Experte. Derzeit fängt der kommerzielle Raumfahrt und Weltraumtourismus an, sich zu etablieren – und die menschliche Besiedlung des Mars ist eher eine Frage von „Wann“ als von „Ob“.Mobilität wird ein zentrales Thema sein, denn die Möglichkeiten und der Wunsch danach werden dafür weltweit zunehmen, ist sich Horx sicher. Gleichzeitig zeichne sich in Industrienationen durch die Corona-Pandemie ein Trend ab, dass der Lebensmittelpunkt fluider zwischen Stadt und Land wechseln könnte – „Rurbanisierung“ (ein Kofferwort aus „Urbanisierung“ und „rural“, engl. „ländlich“) heißt das Trendwort dazu, so Horx. Man säße dann nicht mehr lebenslang an einem Ort fest, sondern suche sich je nach Lebensphase die Stadt (zum Arbeiten und Studieren, für den Ruhestand) oder das Land (zur Familiengründung) aus.
Jugendliche wissen, dass digitale Medienkompetenz auch eine zentrale Voraussetzung ist für gesellschaftliche Teilhabe. Vieles läuft über learning by doing.“
Tim Gensheimer | SINUS-Institut
In Sachen Digitalisierung sind sich die meisten Berichte, aber auch die drei Expert*innen einig, wird die Generation Alpha einen enormen Schub nach vorne machen. Denkbar ist, dass es praktisch keine Trennung mehr geben wird zwischen on- und offline; keinen Stecker, den man mehr ziehen kann; ebenso wird Technologie hochgradig individualisiert. Zahlreiche digitale Produkte und Erlebnisse werden einen immersiven Charakter haben, also mit der „Offline-Welt“ verschmelzen oder sie auch zunehmend ersetzen. Ebenso könnten smarte Implantate den menschlichen Körper unterstützen oder als Gimmick benutzt werden. Aber: Wie schon bei Generationen zuvor werden wohl nur wenige Alphas etwas von Programmieren und der digitalen DNA jener Produkte verstehen, die sie täglich nutzen. Ebenso wenig werden sie wissen, welche Daten wer über sie speichert und wann abruft. Die Generation Alpha wird noch vor ihrer Geburt bereits einen eindeutigen digitalen Fußabdruck haben – vor allem in den sozialen Medien und Messengern ihrer Eltern. Es wird zunehmend undenkbar, in einem Raum außerhalb digitaler Abbildung und Dokumentation zu existieren. Für Horx zeichnet sich dabei auch das Ende eines Interneterlebnisses ab, das bislang geprägt war durch spielerische Sorglosigkeit, Anonymität und einem Hauch Anarchie. Stattdessen könnte es so kommen: Zunehmender Verlust der Datenautonomie und zunehmende Überwachung bis hin zu Verfolgung, Sabotage und Doxing. Nicht zuletzt führt eine informelle und unstrukturiert erworbene Medienkompetenz auch in Zukunft dazu, dass Menschen leichter manipuliert werden können – sei es, um ihnen Geld abzuzocken oder sie zu radikalisieren.
Wie gerecht ist die Zukunft?
Ausblicke rund um die Generation Alpha sind alle noch eher vage – und deutlich geprägt davon, wer heute schon etwas über diese Generation wissen will. Tim Gensheimer weist zudem darauf hin, dass es nicht „die Jugendlichen“ und nicht „eine Generation“ gebe: „Wir [SINUS] machen schon seit mehreren Jahren Jugendforschung, es dürften mittlerweile Jahrzehnte sein. Und wir sagen: Es gibt auch innerhalb einer Generation große Unterschiede zwischen den Jugendlichen.“ Tristan Horx verweist wiederum auf den eurozentrischen Blick bei der Frage nach Generationen: „Diese klassischen Generationsmodelle, die wir hier besprechen, die funktionieren ja auch nur bei uns, weil die Babyboomer-Generation hier so groß war“, so der Trendforscher. In anderen Teilen der Welt ist die Alterspyramide noch eine tatsächliche Pyramide und nicht zuletzt werden Europa und Nordamerika zahlenmäßig bei der Generation Alpha nicht den Ton angeben.Dies bedeutet teils enorme Verschiebungen – denkbar sind konservativ-traditionelle Alphas, aber auch stärker religiös geprägte Jugendliche. Das könnte ein Roll-Back für Genderrollen und Familienbilder bedeuten. Gleichzeitig werden Alphas aus Weltregionen dominieren, die eher krisenerfahrener sind und die weniger Wert auf Hyper-Individualität legen (oder sie teils erst entdecken).
Was dabei nicht aus dem Blick geraten sollte, ist zum einen die Frage nach der sozialen Herkunft, nach Aufstiegsmöglichkeiten, Chancengleichheit und dem Aufbrechen sozialer Hierarchien. Zum anderen reicht es nicht, bei der Klimakrise auf kapitalistische Lösungen und Produkte zu setzen. Keine Marsbesiedlung und keine Digitalisierung werden uns diese drängenden Fragen abnehmen – auch nicht den Alphas und allen, die nach ihnen kommen.
Juni 2022