Die Zukunft des Schulwesens  Die Schule als Ort der Sinne und Sinnhaftigkeit

Die Schule als Ort der Sinne und Sinnhaftigkeit Foto: Robert Collins via unsplash | CC0 1.0

Wie könnte die Bildung in 10 Jahren aussehen? Auf jeden Fall ohne Ställe und Schlachthöfe, sondern mit Bewegung und aktiven Sinnen, wenn es nach Magdaléna Šipka vom Projekt Futuropolis geht.

Das tschechische Schulwesen steht vor einem Wendepunkt, das ist offensichtlich. Der Rahmenlehrplan wird einer Überprüfung unterzogen, das Europäische Parlament macht auf die Diskriminierung von Roma-Schüler*innen aufmerksam, es gibt auch Anzeichen für die Unzufriedenheit vieler Lehrenden, für deren Anfälligkeit für Stress und Depressionen. Die internationale Kommission der UNESCO für die Zukunft von Bildung (Futures of Education) weist darauf hin, dass uns die Veränderungen in der Gesellschaft vor neue Herausforderungen stellen werden – unser Planet ist bedroht und es ist an der Zeit, dass Bildung eine neue Rolle erfüllt. Der neue Vertrag zur Bildung soll auf die voranschreitende Klimakatastrophe reagieren, soll die Fähigkeiten der Studierenden, demokratische Gemeinschaften zu errichten, im Fokus haben, in den Klassen Raum schaffen für Transformation und die Formung einer neuen Welt. Leider stehen die Ziele der UNESCO im Widerspruch zu den Veränderungen, die vor kurzem im tschechischen Rahmenlehrplan gemacht wurden. Bei diesen Änderungen wurden gerade solche Bereiche, die den Schwerpunkt auf Klimabildung oder das Stärken von Solidarität zwischen den Menschen legen, gestrichen.

Ställe und Schlachthöfe

Der Wandel in seiner Gesamtheit betrifft sowohl Inhalte als auch Form der Bildung. Der Hochschullehrer Radim Šíp vergleicht in seinen Büchern das sterile schulische Umfeld mit Ställen und Schlachthöfen. Ein präzise abgemessener Ort für die einzelnen Schüler*innen, zeitliche Eingrenzung der Stunden durch Uhren, die ständige Beobachtung von Bewegungen, die „Aufsichtspflicht“ auf den Fluren. In einer Umfrage unter Lernenden über Verbesserungen in der Schule fiel mehrmals das Wort „Gefängnis“. Die Tatsache, nicht vor dem Klingeln die Klasse verlassen zu dürfen, die Notwendigkeit jedes Mal zu fragen, bevor man zur Toilette gehen darf, manchmal nichts essen oder trinken zu dürfen, obwohl man es gerne würde – das alles ruft diesen Eindruck hervor. Es geht nicht nur um die äußeren Bedingungen, sondern oft auch um die Werte, auf die eine Schule verweist. Häufig ist das eine nicht anzuzweifelnde Art des Gehorsams im Stil von „weil ich es gesagt habe“.

Für das Jahr 2032 stelle ich mir eine Schule vor, in der es für die Lernenden noch mehr Platz gibt, um sich zu bewegen. Wie schon heute an einigen Schulen verbringen sie mehrere Stunden draußen, für Gruppenarbeiten können auch andere Räume der Schule als das Klassenzimmer genutzt werden. Die Körper sind nicht an Stühle gekettet. Die Sinne werden durch den Unterricht angeregt und nicht betäubt.

Wie die Künstlerin Eva Koťátková schreibt, die sich für das Projekt Futuropolis der Konzeption von Themen und visuellen Inhalten widmet:

„Warum sind die Sinne und ihre Einbindung in den Bildungsprozess so wichtig? Bildung, die den Status Quo und das derzeitige System unterstützt, in dem wir leben, hat einen großen Anteil daran, dass wir die Verbindung zu uns selbst, zu anderen und der Natur verlieren. Eine solche Abkoppelung dient dem System, das für sein Funktionieren deaktivierte Individuen benötigt, die ihre Aufgaben erfüllen, ihre physischen und psychischen Grenzen überschreiten. Sie werden zu Konkurrenzkampf und empathielosem Handeln gedrängt (und werden nicht dazu motiviert, in eine Situation derer einzugreifen, die ein größeres Ausmaß an Benachteiligung oder Unterdrückung erleben, sondern verdrängen solche Schicksale) und produzieren keine Zukunftsvisionen, die dieses auf Überproduktion und Ausbeutung ausgelegte System bedrohen könnten.“

Mit der Aktivierung der Sinne und der Erhöhung von Empathie geht die Zeit einher, die der Erforschung von menschlichen Beziehungen gewidmet ist. In den Schulen wird über die Möglichkeiten menschlicher Zusammenarbeit diskutiert, über das friedliche Lösen von Konflikten. Durch die Zusammenarbeit einer ganzen Klasse wird unsere Vorstellung von einem ganz anderen Funktionieren auch jenseits der Schulmauern weiterentwickelt.

Was ich mir vorstelle

Ich stelle mir vor, dass wir im Jahr 2032 die Ungleichheiten in unserem Bildungssystem überwinden könnten. Dass wir zum Beispiel Kinder nicht nach Hautfarbe trennen und so ihre soziale Ausgrenzung verstärken. Im Jahr 2032 müsste kein Kind mehr in der Mittagspause hungern. Es wäre möglich, sich alle wichtigen Hilfsmittel zu leihen – ob Gymnastik-Reifen, Fahrräder, Hefte, Lehrbücher für das Basteln mit Perlen oder ein Atlas über Korallenriffs. Für die grundlegenden Lehrinhalte ist während der Schulstunden genug Zeit, die Lernenden nehmen keine Arbeit mit nach Hause und sind was den Wissenserwerb angeht, nicht auf die Bildung oder die Verfügbarkeit ihrer Eltern angewiesen. Dank einer geringeren Anzahl von Kindern in der Klasse ist es nicht notwendig, Erziehungsmaßnahmen anzuwenden, die andere erniedrigen. Kommt es zu Störungen oder Streitigkeiten, sind die Gegenmaßnahmen nicht bloß repressiver Natur, sondern erfüllen ihren Zweck und tragen zum Wohlbefinden der ganzen Gruppe bei. Die Dynamik in der Klasse zielt auf Zusammenarbeit und das Nutzen der einzigartigen Fähigkeiten und Talente der Individuen ab, nicht nur auf den Wettbewerb untereinander im mit Noten messbaren Bereich. Die Lehrenden kommunizieren ihre Entscheidungen offen. Das Interesse der Lernenden und ihre aktuelle Situation werden in Betracht gezogen. Projekte werden damit verknüpft, was für die Klasse aktuell relevant ist.

Queere Heranwachsende können mit Namen und Geschlecht angesprochen werden, die sie selbst wählen, ohne dass sie diese Entscheidung lange verteidigen oder sich einem chirurgischen Eingriff unterziehen müssen. Es wird offen über andere Beziehungen als nur die heterosexuellen gesprochen, und die Familie mit gleichgeschlechtlichem Paar wird als genauso legitim wahrgenommen wie eine, die von Mann und Frau gegründet wurde. Studierende, die gerade an psychischen Beschwerden leiden, können ihre Situation mit jemandem besprechen und ihren Studienplan entsprechend anpassen.

Lesen, Rechnen, Emotionen

Die Bewertung ist verständlich und dient der Entwicklung der Lernenden. Sie steht in Verbindung zu deren neu erlernten Fähigkeiten und Bereichen, die einen gewissen Impuls oder eine Veränderung benötigen. Die Sprache wird so deskriptiv wie möglich sein, um die einzelnen Leistungen konkret zu benennen – Lesen, Addition, das Ausdrücken von Gefühlen, dem Gesang der Vögel lauschen. Am Ende sind alle Lernenden fähig, sich selbst zu bewerten und ihre Leistung mit Abstand zu betrachten. Sie erhalten so die Fähigkeit die eigene Ausbildung zu lenken, die Bereiche zu wählen, in denen sie sich weiter entwickeln wollen. Die Selbstbeteiligung an der Bildung hält die Lernenden so vor allem bei ihren eigenen Verpflichtungen, Vorsätzen, sie entwickelt und „imaginiert“.

Das schulische Umfeld und die Themen, die dort durchgenommen werden, werfen die teilnehmenden Menschen nicht in eine schizophrene Situation, in der sie das Geschehen außerhalb verleugnen müssen. Die Schule ist mit dem Leben verbunden, mit lebendigen Themen wie der Klimakrise, der Gesundheit oder der Transformation der Gesellschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit. Sie ist mit dem lokalen Leben verbunden, auf dem Schulgelände wird Gemüse angebaut. Die Schule versucht durch ihr Funktionieren, das Funktionieren der demokratischen Gesellschaft zu formen. Schulparlamente werden wirklich ernst genommen und Führung und Lehrende schenken ihren Ideen Beachtung. Die Lehrer und Lehrerinnen selbst werden zur gegenseitigen Unterstützung ermuntert, zum Teilen von erfreulichen Erfahrungen und Schwierigkeiten im Unterricht. Die Anforderungen des Lehrplans werden an die jeweiligen Möglichkeiten der einzelnen Klassen und Individuen angepasst.

Jeder hat ein Recht auf Entwicklung

Ob diese Pläne umsetzbar sind, ist nur sehr schwer zu beantworten. Schon jetzt lernen viele Kinder unter einigen der oben beschriebenen Bedingungen in alternativen Schulen, bei aufgeklärten Lehrenden oder auch im Heimunterricht. Auch Mainstream-Schulen entwickeln sich langsam weiter. Wenn wir aber wollen, dass unsere Zivilisation überlebt, müssen wir uns einer Transformation unterziehen. Und wenn diese Transformation eine demokratische sein soll, dann müssen wir unsere Fähigkeiten zur Zusammenarbeit um ein Vielfaches verstärken. Das Schulwesen ist einer der Bereiche, in dem wir beginnen sollten, den Kreislauf aus heimtückischer Unterdrückung und einer Dressur, die widerspenstige Geister bricht, aufzulösen.

Diese notwendige, große Bewegung weg von Gehorsamkeit zu Schaffenskraft, von Konsum zu Beziehungen, von Abgrenzung zu Aufeinandertreffen finde ich im Schulwesen und in der gesamten Gesellschaft bis jetzt nur in kleinen Dosen. Die Lehrenden sind unter dem Einfluss verschiedener Krisen oft noch größerem Druck ausgesetzt und es bleibt ihnen nicht der nötige Raum, um sich an der Umwandlung zu beteiligen. Wenn wir einen neuen Vertrag über die Bildung zwischen Schule und Gesellschaft schließen wollen, müssen wir zuerst von dem bestehenden ablassen. Mehr Vertrauen in den gesamten Prozess der Umwandlung haben, Kinder als Menschen sehen und nicht als zukünftige Geldfabriken. Es sollte die Voraussetzung gelten, dass jeder ein Recht auf Entwicklung hat.
 

Die Vision des Projektes Futuropolis

Das Projekt Futuropolis: Eine Schule der Emanzipation hat sich das Ziel gesetzt, zusammen mit Pädagogen eine neue pädagogische Methode für die die 2. Grundschulstufe [in Tschechien die Klassen 6 bis 9, Anm. d. Red.] zu erstellen und zu testen. Das Hauptziel ist es, die Schule als wichtigen Akteur zu etablieren, der sich kritisch und kreativ in das aktuelle Geschehen mit einbringt.

„Wir wollen erkunden, wie eine transformative Bildung funktionieren kann, also eine solche, die zu einem Wandel in Individuen, Kollektiven und der Gesellschaft führt. Das Projekt soll unentwegt den gegenwärtigen nicht haltbaren Status quo kritisch hinterfragen, gemeinsam neue Kenntnisse fördern und Handlungen unterstützen, die die Welt um uns herum verändern. […] Wir erschaffen eine Bildung, die Schülerinnen und Schüler als sinnvoll erachten und die sie mit den Kompetenzen der Empathie, des kritischen und systemischen Denkens sowie visionären Herangehensweisen ausstattet, damit sie selbst die Welt der Zukunft gestalten, in der sie leben möchten.“

Mehr Informationen (tschechisch) auf futuropolis.cz

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