Vermenschlichte Tiere  Kommissar Kater löst einen Kriminalfall

Kommissar Kater löst einen Kriminalfall Foto: Jason Leung via unsplash | CC0 1.0

Auto fahrende Kröten, Kaninchen unter Zeitdruck und eine hilfsbereite Python: Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert bevölkerten zahlreiche Tiere mit menschlichen Zügen die Literatur. Wie sieht es in zeitgenössischen Texten aus?

„Jemine! Jemine! Ich komme bestimmt zu spät!“ Als Alice ein weißes Kaninchen sieht, das hektisch an ihr vorbeiläuft, denkt sie sich zunächst nichts Besonderes dabei. Doch weil das Tier nicht nur eine Weste trägt, sondern daraus auch noch eine wertvolle Uhr hervorzieht, wird sie stutzig und folgt ihm in den Kaninchenbau – von dem aus sie in eine Welt voller Absurditäten und sprechender Tiere katapultiert wird.

Alice im Wunderland von Lewis Carroll, das 1865 in Großbritannien veröffentlicht wurde, zählt nicht nur zu den bekanntesten Kinderbüchern der Welt, es ist auch eines der wichtigsten Beispiele für „Anthropomorphismus“: Der Begriff bezeichnet die Darstellung von Tieren, die menschliche Eigenschaften haben. Manchmal sind sie sogar gekleidet wie Menschen. Die Wasserpfeife rauchende Raupe oder das Kaninchen unter Zeitdruck sind zwar auch für Alice klar als Tiere erkennbar; sie können jedoch sprechen und verkörpern mit ihrem Verhalten die moralischen Zwänge und sittsamen Gepflogenheiten des damaligen viktorianischen Zeitalters – oder führen sie ad absurdum.
 

„Ein Schluck Wein?“ fragte der Schnapphase einladend. Alice sah sich auf dem Tisch um, aber da stand nur eine Teekanne. „Ich sehe keinen Wein“, bemerkte sie. „Ist auch gar keiner da“, sagte der Schnapphase. „Dann war es nicht sehr höflich, welchen anzubieten“, sagte Alice zornig.

Sprechende Füchse und Wölfe tauchen schon in den Fabeln von Aesop (circa 600 v. Chr.) auf, später auch in den Fabeln von Jean De Lafontaine (17. Jahrhundert) oder den Märchen, die die Gebrüder Grimm um 1800 aufschrieben. Den Tieren wurden dort Eigenschaften zugeschrieben, die unsere Wahrnehmung wahrscheinlich bis in die heutige Zeit prägen: Füchse sind meistens schlau und hinterlistig, Bären gutmütig und plump, Schlangen sollte man nicht trauen und Hasen stehen für Klugheit und Schnelligkeit.

Der Dachs im Ohrensessel

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bekamen die oftmals moralinsauren Fabeln und Märchen allerdings ernsthafte Konkurrenz: Vor allem im englischsprachigen Raum tauchten zunehmend putzige Tiere in der Kinderliteratur auf, die den jungen Leser*innen die Identifikation mit ihnen erleichterten und nicht ganz so streng und belehrend waren. Sie wurden als familiäre und liebevolle Wesen dargestellt, die Pfeife rauchend im Ohrensessel in ihrer Bibliothek sitzen – und die pflichtbewusst ihr Haus putzen, ihr Bett machen und stets gastfreundlich und aufmerksam gegenüber anderen Tieren sind.

So wie Maulwurf, Kröte, Ratte und Dachs, die Protagonisten in Kenneth Grahames 1908 erschienenem Roman Der Wind in den Weiden. Zwar haben auch sie die Vorlieben ihrer jeweiligen Art nicht verloren – der Maulwurf wohnt unter der Erde, die Ratte ist am liebsten in der Nähe des Flusses und der Dachs lebt zurückgezogen in einem Bau im wilden Wald – doch kommen eindeutig humane Eigenschaften hinzu. So zeigt der Kröterich, der zu Größenwahn neigt und jede Woche ein neues teures Hobby beginnt, manisch-depressive Tendenzen und auch der gutmütige Dachs macht es sich lieber allein mit seinen Filzpantoffeln gemütlich.
 

„Der Dachs hatte einen langen Schlafrock an und Hausschuhe, die in der Tat hinten ziemlich ausgelatscht waren. In der Pfote hielt er einen Leuchter, und es schien, als sei er gerade auf dem Weg ins Bett gewesen, als sie ihn aufgescheucht hatten. Er blickte freundlich auf die beiden herab und tätschelte ihnen den Kopf.“

Zwölf Jahre früher hatte Rudyard Kipling seine jungen Leser*innen bereits mit in die Tierwelt genommen: Im indischen Dschungel springt das Menschenkind Mowgli von Ast zu Ast und wird dabei von Panther Bagheera und Bär Baloo ausgebildet und beschützt. Die beiden Raubtiere, die sich im echten Leben sicherlich nicht so gut verstehen würden, sind in der literarischen Vorlage weniger drollig als in der Disney-Verfilmung – und doch gutmütig und hilfsbereit. Das gilt auch für die Schlange Kaa: Auf die Python ist Verlass, wenn es darum geht, der bunten Truppe um Mowgli zur Seite zu stehen. Den sie übrigens, anders als im Film, niemals bedroht. Ihren Ruf im Dschungel hat sie sich hart erarbeitet:
 

„Kaa war keine Giftschlange. Er verachtete Giftschlangen sogar und hielt sie für feige. Seine Stärke war die tödliche Umarmung. Sobald er um jemanden seine mächtigen Schlingen gewickelt hatte, erübrigte sich für das Opfer jedes weitere Wort.“

Schafe lösen Kriminalfälle

Während sich Zeitgenossen aus der Fauna seit der Jahrhundertwende unbeschwert in der Kinderliteratur tummeln, haben sie in Romanen für Erwachsene erst vor ein paar Jahren wirklich Fuß gefasst. Auch dort werden sie, ähnlich wie in der Kinderliteratur, häufig eher niedlich dargestellt; etwa wenn bei Rita Mae Brown eine Katze oder bei Leonie Swann Schafe einen Kriminalfall lösen.

Dass letztere sich dabei mitunter etwas trottelig verhalten, entspricht der weitläufigen Vorstellung von Schafen als friedliebende, Gras kauende Wollknäuel. Die Geschichte von Glennkill liest sich schnell und humorvoll, die Grenze zwischen Gut und Böse ist schnell gezogen, moralische Erziehung der Leser*innen spielt keine Rolle. Dienen vermenschlichte Tiere in Büchern für Erwachsene also nur der Belustigung? Oder propagieren Schriftsteller*innen, indem sie ihre Eigenschaften, Prinzipien und Weltanschauungen bisweilen nahtlos auf tierische Protagonist*innen übertragen, damit weiterhin das Bild des Menschen als Krone der Schöpfung? Wieso maßen wir uns an, das Verhalten von Tieren verstehen zu können?

Es ist in erster Linie die Genreliteratur wie Krimis oder Fantasy, die Tieren ein ausgeklügeltes Innenleben zuschreibt. Überwiegend grenzen diese sich aber klar von den Menschen ab und ähneln ihnen auch im Verhalten nicht. Etwa im Roman Anima von Wajdi Mouawad. 2012 erschienen, erzählt er die Geschichte eines Mannes, der sich auf die Suche nach dem Mörder seiner Frau macht. Was er dabei erlebt, wird jedoch nicht etwa von ihm selbst berichtet, sondern durch die Augen zahlreicher Tiere, zum Beispiel einer Fledermaus:
 

„Ich stieß eine Reihe von Schreien aus, deren Echo mir sagte, dass der voluminösere der beiden Männer sich entfernte. […] Wie ein schwarzer Vorhang, den jemand in tausend Stücke reißt und im Abendwind zerstreut, lösten wir uns von der Decke und flogen unter lautem Flügelschlag los.“

Hier sind es Regenbogenforelle, Fuchs und Goldfisch, die versuchen, das Verhalten der Menschen in ihrer Umgebung zu verstehen und dabei oft ratlos zurückbleiben – die Handlungen der Zweibeiner erscheinen ihnen irrational und sinnlos. Das gilt auch für den Fuchs, der im 2018 publizierten Fuchs 8 von George Saunders erzählt – er schreibt so, wie er hört –, wie er die Menschen beobachtet. Es empört ihn ziemlich, dass sie aus seiner Sicht völlig falsche Geschichten über Tiere erzählen; zum Beispiel, dass Füchse Hühner reinlegen, um sie zu essen: „Wir legen keine Hüner rein! […] Mit Hünern haben wir einen super fären Dil, der get so: Si machen die Aja, wir nemen die Aja, sie machen noie Aja.“ Das er nebenbei „Mänschisch“ lernt, wird ihm später aber noch hilfreich sein.

Popularität ungebrochen

Sprechende Tiere in der Literatur: Der Unterschied zu den Texten des „nature writing“, das sich auf einfühlsam-wissenschaftliche Herangehensweise mit dem Habitat von Aal, Eichhörnchen und Esel beschäftigt, könnte nicht größer sein. Und doch ist ihre Popularität auf dem Buchmarkt, ebenso wie die von ermittelnden Katzen, seit Jahren ungebrochen. Womöglich verbirgt sich dahinter die Sehnsucht nach einem naturverbundenen Leben, von dem die meisten in Großstädten lebenden Menschen weit entfernt sind. Oder bedeutet Anthropomorphismus, die Wildheit der Tiere auf ein für uns verständliches und erträgliches Maß zu reduzieren?

Letztendlich bietet es Kindern und auch Erwachsenen die Möglichkeit, der Phantasie freien Lauf zu lassen und über die Grenzen des eigenen Denkens hinauszugehen. Das wusste schon die Weiße Königin, der Alice im Wunderland begegnet: „Zuzeiten habe ich vor dem Frühstück bereits bis zu sechs unmögliche Dinge geglaubt.“

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