Wie erleben die außerordentliche Situation in Tschechien Vietnames*innen? Von Freude ist die Rede, die ältere Menschen empfinden, wenn sie helfen können, Menschen, die sich bis dahin an den Rand der Gesellschaft gedrängt gefühlt hatten. Man hört aber auch von Verlegenheit über das plötzlich erwachte Interesse.
Deník Referendum. Wir bedanken uns für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Dieser Artikel erschien zuerst auf der InternetplattformDoch die Sorge, eine Ansteckung innerhalb der Community könnte die Behörden dazu veranlassen, die Asiamärkte zu schließen, die Arbeitsplatz vieler Vietnames*innen sind, war groß und durchaus berechtigt. So kam es nicht von ungefähr, dass der Verband der Vietnamesen nur einen Tag, nachdem in Tschechien der erste Corona-Fall gemeldet wurde, einen Aufruf an die Community sendete. Darin wurden alle Rückkehrer aus einem Risikogebiet gebeten, sich in eine freiwillige vierzehntägige Quarantäne zu begeben, sowie alle Gewerbetreibenden aufgerufen ihre Bestellungen aus den Risikogebieten zu beschränken oder aber die Bestellmodalitäten zu überprüfen, und von allen Großveranstaltungen abzusehen.
Außerdem fordert der Verband der Vietnamesen die Community dazu auf, der tschechischen Regierung gänzlich zu vertrauen, so wie sie es auch in Vietnam üblich ist. Es ist allerdings nicht ganz eindeutig, wie der Aufruf gemeint war. Ob der Regierung, ähnlich wie in Vietnam, komplett freie Hand gelassen werden soll, oder ob es sich um eine Empfehlung handelt in Anspielung an den alten slawischen Spruch: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“.
Während die Tschech*innen allmählich den Gedanken verinnerlicht haben: „Mein Mundschutz schützt dich und deiner mich“, sehen das die Vietnames*innen ein wenig anders. Denn in Vietnam gehört der Mundschutz bereits seit zehn Jahren zum alltäglichen Gegenstand. Die Menschen schützen sich mit ihm vor der immer stärkeren Luftverschmutzung.
Auch sind die meisten Vietnames*innen davon überzeugt, dass solche Mundmasken im Allgemeinen vor ansteckenden Infektionen schützen. Die Kiosk-Verkäufer*innen haben ziemlich schnell begonnen, Masken zu tragen, noch bevor eine allgemeine Pflicht wurde. Nicht selten ernteten sie dafür komische Blicke. Die anfänglich eher nachlässige Einstellung der Tschech*innen hat die Community ziemlich verunsichert, vor allem, nachdem die Regierung am 11. März beschlossen hatte, die Schulen zu schließen.
Ab diesem Tag wurde in der Community ernsthaft darüber diskutiert, ob Eltern ihre meist schon in Tschechien geborenen Kinder nicht nach Vietnam schicken sollten. Es schien, dass Vietnam die Situation gut unter Kontrolle hatte und außerdem schien es eine gute Gelegenheit für die Kinder zu sein, Vietnamesisch zu lernen. Viele fragten sich auch, ob das tschechische Gesundheitssystem sie nicht als Bürger*innen zweiter Klasse ansehen würde, falls es zu vielen Ansteckungen kommt.
Gründe zu solchen Überlegungen gab es mehrere und einige haben sich dann tatsächlich auf die Reise gemacht. Der Vertreter der vietnamesischen Minderheit wandte sich deshalb an die Menschenrechtsbeauftragte der tschechischen Regierung Helena Válková und bat sie diesbezüglich um eine offizielle Stellungnahme. Válková versicherte, in Tschechien werde allen Kranken unabhängig von ihrer Nationalität oder Staatsangehörigkeit [In Tschechien wird zwischen Nationalität und Staatsangehörigkeit unterschieden, Anm. d. Ü.] gleichermaßen medizinische Hilfe geboten, das einzige Kriterium sei der Krankheitsverlauf.
Erst die Beteuerung der Menschenrechtsbeauftragten, dass sie im Rahmen ihrer Kompetenzen „alle Mittel zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung, inklusive der Einschaltung des Gesundheitsministers und der Tschechischen Ärztekammer einsetzen würde“, hat der Community wieder ein wenig beruhigt. Da ahnte man noch nicht, dass die Situation drei Tage später schon ganz anders aussehen würde, als die tschechische Regierung den Notstand ausrief, auf den nur die wenigsten vorbereitet waren.
MedViet in Aktion
Doch bei weitem nicht alle Vietnames*innen haben die Rückkehr nach Vietnam als Möglichkeit erwogen, auch wenn es aus vielerlei Hinsicht eine nachvollziehbare Entscheidung gewesen wäre, sei es aus Angst um die eigene Gesundheit oder einer Unsicherheit im Hinblick auf die eigene gesellschaftliche Stellung. Im Gegenteil, die meisten wollten bleiben. Und nicht nur das, viele wollten auch etwas tun.MedViet ist eine Gruppe von Mediziner*innen und Medizinstudierenden mit vietnamesischem Hintergrund, die sich tagtäglich zwischen zwei Welten bewegen. Auf der einen Seite ist das ihre professionelle Welt innerhalb des tschechischen Gesundheitssystems, auf der anderen Seite die Welt ihrer vietnamesischen Eltern und Verwandten mit den unterschiedlichen Traditionen und Gewohnheiten, die sie aus ihrer Heimat mitgebracht haben. In Vietnam, das als Entwicklungsland gilt, ist die medizinische Grundversorgung auf einem ganz anderen Niveau als in Tschechien.
Seit einigen Jahren informiert nun MedViet die vietnamesische Community über die Notwendigkeit von regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen, über die Möglichkeit, Blut oder Stammzellen zu spenden und so weiter. Es waren auch MedViet-Mitglieder, die als erste den Mundschutzmangel, zum Beispiel im Prager Krankenhaus Bulovka, bemerkt haben.
Frau L. Ist Modedesignerin. „Dank“ des Notstands begann sie im großen Stil Mundschutzmasken zu nähen, als sich zeigte, dass sie Mangelware sind. MedViet und der Verein vietnamesischer Eltern (Làm Cha Mẹ CZ unterstützten die Idee und beteiligten sich. Diese wohl die allererste gemeinschaftliche Mundschutz-Nähaktion verbreitete sich so deutlich schneller als die Epidemie selbst.
Gemeinsam starteten die Initiativen auch eine Spendenaktion, um Stoff und anderes Material kaufen zu können. Auf dem transparenten Spendenkonto von Làm Cha Mẹ CZ kann man zusehen, wie schnell die Spendensumme seit dem 15. März gewachsen ist. Wie ein Vereinsmitglied sagte, würden auch Spenden von den sogenannten „Onkels“ kommen, wie die Inhabern der berühmt-berüchtigten vietnamesischen Markthalle SAPA in Prag genannt werden – các bác chủ chợ, und plötzlich würden „die Unterschiede zwischen den Menschen verschwinden“.
Er erzählte auch von rührenden Szenen, wenn ältere Frauen bis tief in die Nacht Masken nähen und danach überglücklich sind, dass sie helfen können. Trotzdem haben sie kein Bedürfnis, dass die Öffentlichkeit von ihnen erfährt. Diese Einstellung ist innerhalb der Community keine Ausnahme.
Nicht selten hört man von älteren Menschen, sie hätten nichts zu tun gehabt und freuten sich nun, gemeinsam mit ihren Kindern die Mundschutzmasken zu nähen. Die Dankesnachrichten von den angenehm überraschten Nachbar*innen behalten sie meist für sich, ohne damit hausieren zu gehen. Es gibt auch solche, die einen Schenkungsvertrag abschließen wollen, in dem festgeschrieben ist, dass der Name der Geber*innen anonym bleibt. Manche andere haben sich als Freiwillige in ihrem Stadtviertel registrieren lassen.
Erst am 16. März haben auch die tschechischen Medien über das Engagement der vietnamesischen Minderheit berichtet. An diesem Tag ist zum erstem Mal in den sozialen Medien das rote Herz erschienen mit dem Motto: „Vietnamesen helfen“. Zusammen mit dem Hinweis „Kaffee und Getränke für Rettungskräfte umsonst. Dankeschön!“ fand es seinen Weg in die vietnamesischen Spätshops und Kiosks. Das war natürlich ein Aufhänger für die Medien.
Einen Tag später rief der Verband der Vietnamesen die Community zu einer Spendenaktion für den Kauf von medizinischen Hilfsgütern auf, die lokalen Gruppen des Verbands sollten in ihren Städten und Gemeinden entsprechende Aktionen ins Leben rufen. Von der Mobilisierungskraft des Verbands quer durch die Republik zeugen Bilder, die seit diesem Tag in den sozialen Medien kursieren und die meist beschrieben sind mit „Die vietnamesische Community der Stadt X schenkt der Stadt Y soundso viele Masken.“
Da war zum Beispiel eine Spende von 140.000 Kronen (etwa 5.200 Euro) für Ventilatoren in Ústí nad Labem, die eben nach diesem Aufruf zusammen kam. Die Medien berichteten nun auch von Vietnames*innen der zweiten Generation, die schon in Tschechien geboren sind und fließend Tschechisch sprechen. Einer von ihnen ist Tran Van Sang, einer der Mitorganisatoren des Herz-Projekts – in Tschechien mittlerweile keine ganz unbekannte Person mehr, denn im vergangenen Jahr kandidierte er für das EU-Parlament.
Nur der öffentlich-rechtliche Fernsehsender ČT 24 hat leider bei seiner Berichterstattung danebengegriffen. Statt sich direkt mit den Akteur*innen in Verbindung zu setzen, kontaktierte der Sender – vermutlich aus alter Gewohnheit –die Vertreter*innen offizieller Strukturen. Mit ihrem Auftritt im Tschechischen Fernsehen am 26. März auf brüstete sich dann auf ihrer Webseite die Vietnamesische Vaterlandsfront.
Unter dem Deckmantel der Euphorie
Zwei Wochen vergingen wie im Flug. Und die spontan entstandene und teilweise sehr rührende Hilfsbereitschaft hat nicht nachgelassen. Auch MedViet macht weiter und versorgt die Community mit wichtigen medizinischen Informationen.Und der Verein Làm Cha Mẹ CZ näht geduldig weitere Masken. Aber in der Tatsache, dass die Mehrheitsgesellschaft so positiv überrascht war und die Medien über die Hilfeleistung seitens der Vietnames*innen mit spürbarer Dankbarkeit berichtet haben, spiegelt sich die traurige Realität wider, dass man mit der vietnamesischen Minderheit eben nicht gerechnet hat. Warum sollte man sonst so sehr überrascht sein, denn: Auch Tschech*innen nähen!
Können die Vietnames*innen nun, nach der Maskeneuphorie, auf bessere Zeiten hoffen? Darauf, dass die Kiosk-Verkäufer*innen besser behandelt werden? Denn einer der Gründe, warum sich die vietnamesische Minderheit so viel Mühe gibt, könnte auch das Bedürfnis sein, zu zeigen, dass auch sie gute Menschen seien… Als würde ihnen die Wertschätzung fehlen. Wertschätzung, die jedes menschliche Wesen verdient hat. Wertschätzung, die man sich weder erkaufen noch organisieren kann, und die sie bis jetzt weder hier noch in ihrem Heimatland bekommen haben. Unbewusst suchen sie sie nun.
Sangs Idee mit dem Herzen hat auch den Tschechen Antonín Nevole inspiriert, er ist noch einen Schritt weiter gegangen und verschenkt unter demselben Logo auch Mittagessen an die Rettungskräfte. Und das ist vielleicht die wichtigste Botschaft: Zusammen schaffen wir das. Wir können nur hoffen, dass es so kommt. Und dass die tschechische Gesellschaft aus dieser Krise gestärkt herausfindet, mit mehr Toleranz und Wertschätzung gegenüber allen Minderheiten, und fähig, sich gegenseitig zu unterstützen – ohne, dass man sich darüber wundern muss.
April 2020