Sprache in der Krise  Eine schlimmere Seuche als das Coronavirus

Sprache in der Krise Illustration: © Vladimír Holina

Wenn Menschen zu Objekten degradiert werden, müssen wir uns gegen eine schlimmere Seuche wehren als das Coronavirus. Die Seuche heißt Entmenschlichung. Der Kampf dagegen währt schon sehr viel länger und wird wohl bis zu unserem Tod dauern. Ein Kommentar von Nataša Holinová.

Ich bin zehn Jahre alt und mein Vater zeigt auf einen dicht bewaldeten Hügel nördlich der Stadt Nová Baňa, die sich in die Hügel schmiegt, nur in Richtung des Flusses Hron öffnet sie sich ein wenig. „Dorthin gingen die Partisanen und danach dann die deutschen Soldaten“, sagt er.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs war mein Vater genau zehn Jahre alt. Auf seinem Zeugnis für das Schuljahr 1944/45 war das zweite Halbjahr durchgestrichen und Folgendes vermerkt: „Unterricht aufgrund des Krieges eingestellt.“ Der Krieg traf die Slowakei erst nach dem Aufstand Ende August 1944.

Heute bin ich 44 Jahre alt, während der Coronakrise sitze ich in Österreich in einem Haus auf einem Hügel und grübele nach über Artikel, die mir erklären, dass jetzt Krieg herrscht. Oder ich lese, dass in Italien die Pressekonferenzen des Zivilschutzes auch „Nachrichten von der Front“ genannt werden.

Obgleich ich verstehe, dass wir gegen ein Virus kämpfen, und dass es auf der ganzen Welt viele Tote gibt, muss ich dagegen aufbegehren: Nein, das ist kein Krieg. Vielleicht ist es so, wie meine 94-jährige Tante Klára gesagt hat, die sich im Gegensatz zu vielen Journalisten gut an den Krieg erinnern kann: „Das ist die zweitschlimmste Sache nach dem Krieg“, aber Krieg ist es nicht.

Wenn wir den Menschen wieder und wieder sagen, dass wir Krieg führen, dann verschlimmern wir nicht nur die allgemeine Hysterie, sondern riskieren auch, dass sie sich dann so benehmen, als ob wirklich Krieg wäre. Erfreut sind darüber höchstens despotische Politiker mit Neigungen zur Tyrannei. Und zudem kommt es hier zu einem katastrophalen Irrtum. Denn der Krieg ist ein Kampf Mensch gegen Mensch, wir verletzen uns also gegenseitig. Virus gegen Menschen ist jedoch eine Pandemie und wir sollten uns gegenseitig helfen.

In dieser völlig neuen Situation konnten wir beobachten, wie Angst und ein Gefühl der Bedrohung das Verhalten von Menschen verändern.“


Interessant ist, dass eine derartige Bewertung von Geschehnissen auch bei der Invasion durch die Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei im August 1968 erfolgte, über die wir und unsere Generation nur Berichte gehört haben, aber wir wissen, dass die Menschen schreckliche Ängste durchlitten. Worin liegt der Unterschied? Darin, wie wir das bezeichnen, wovon wir sprechen.

Ich denke, ein allgemeines Merkmal jeder Krise ist es, aus den Menschen ihre schlechtesten, aber auch ihre besten Eigenschaften hervorzulocken. In dieser beängstigenden und völlig neuen Situation, in der zwar Recht, Politik und Diplomatie nicht versagt haben, sondern ein Virus über uns kam, dieses furchtbare Vermächtnis einer chinesischen Fledermaus, konnten wir beobachten, wie Angst und ein Gefühl der Bedrohung das Verhalten von Menschen verändern.

Einige hielten warmherzige und sanfte Ansprachen, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu verbreiten, andere traten zur Selbstverteidigung um sich und in dem Bemühen, sich selbst zu retten, zeigten sie mit dem Finger auf andere. Dies schlüpfte aus ihren Worten heraus wie das dämonische Teufelchen aus dem Ei eines schwarzen Huhns.

Das gleiche war auch während der sogenannten Flüchtlingskrise zu beobachten, über Menschen sprach man wie über Insekten, Ungeziefer, und was noch schlimmer war, manchmal behandelte man sie auch so.

Wenn Menschen zu Objekten degradiert werden, müssen wir uns gegen eine Seuche wehren, die schlimmer ist, als das Coronavirus. Sie heißt Entmenschlichung und der Kampf dagegen währt schon um einiges länger und wird wohl bis zum Tod dauern. Wenn in der Slowakei in Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Faschisten sitzen, also Mitglieder der rechtsextremistischen Kotleba-Partei, und über „Zigeuner“ reden, ist es zu spät. Wehren muss man sich bereits, wenn beispielsweise ein Lehrer sagt: „Ich habe solches ‚Schülermaterial‘ in der Klasse ...“

Die Coronakrise spiegelt in der Sprache die Art und Weise wider, wie wir lange die Minderheit der Roma zu Bürgern zweiter Klasse degradiert haben.“


Nicht weit entfernt von dem Haus, in dem ich während der Coronakrise auf dem Hügel sitze, verläuft die Autobahn von Budapest nach Wien. Ich will nicht, dass wir vergessen, wie im Jahr 2015 tausende Flüchtlinge da entlanggegangen sind, denen man in Budapest Zugtickets verkauft hatte und sie dann nicht in die Züge steigen ließ. Hegyeshalom war ein Horror. Röszke darf nicht vergessen werden, ein Ort, der dadurch zu trauriger Berühmtheit gelangte, wie sich Polizisten dort gegenüber Flüchtlingen verhielten. Über diese Polizisten kann ich nur eine einzige Sache sagen: Für manche waren sie in der Kindheit „Material“, für manche waren sie Ungeziefer.

Die Coronakrise spiegelt in der Sprache wider, was die Eurobarometer und die Erfahrungen aus Krisen bestätigen, nämlich die Art und Weise, wie wir lange die Minderheit der Roma zu Bürgern zweiter Klasse degradiert haben. Zielscheibe des Unmuts wurden nun nach und nach auch Senioren, Pendler und schließlich auch slowakische Pflegekräfte in Österreich. Ihnen allen wurde signalisiert, dass sie eine Belastung sind, eine Gefahr, die Pflegekräfte „schleppen den Scheiß über die Grenzen, sollen sie doch dort bleiben und Ärsche abwischen.“

An der Grenze sprach ich mit einer Gruppe Frauen, die nicht nur aus Wien, sondern scheinbar aus aller Herren Länder zurückkehrten und nicht wussten, was ihnen bevorsteht, ob der Staat sie nicht vielleicht in Zwangsquarantäne steckt. Zu Fuß überqueren sie die Grenze, genau wie die Flüchtlinge im Jahr 2015, sie ziehen Koffer, wenn auch nur 200 Meter, nicht Kilometer, sie brechen in Tränen aus, wenn man ihnen wünscht, dass alles gutgehen möge. Dann sind nur noch Befehle uniformierter Leute zu hören: „Sachen hier ablegen, kommen Sie hierher zur Registrierung!“

Die Freundlichkeit eines Landes zeigt sich darin, wie viel Freundlichkeit es in seiner Sprache wachsen lässt.

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