EU in der Krise  Ein Phantom namens Europa

Geschlossene EU-Binnengrenze zwischen Luxemburg und Deutschland (im Hintergrund) bei der Ortschaft Langsur.
Geschlossene EU-Binnengrenze zwischen Luxemburg und Deutschland (im Hintergrund) bei der Ortschaft Langsur. Foto: Stephan Lechner, CC BY 2.0

In der Corona-Krise schlägt die Stunde der Nationalisten. Die Unsichtbarkeit der EU in der Krise könnte ihr die Existenz kosten. Ein Kommentar von Isabelle Daniel.

John F. Kennedy soll einmal gesagt haben, dass das Wort „Krise“ im Chinesischen aus zwei Schriftzeichen bestehe — dem Zeichen für „Gefahr“ und dem Zeichen für „Gelegenheit“. Ganz richtig ist das natürlich nicht. Trotzdem schwingt im chinesischen, wie auch in unserem aus dem Griechischen stammenden Krisenbegriff eine Doppelbedeutung mit: Die Krise ist ein Wendepunkt, der lebensbedrohlich sein kann, aber auch Chancen birgt.

Das haben auch viele in Europa erkannt. Die Regierungen Österreichs, Tschechiens und Polens nahmen die Corona-Krise zum Anlass, die Grenzen ohne Absprache mit ihren EU-Partnern zu schließen — eine demonstrative Absage an die vielbeschworene „europäische Lösung“, welche die Gesundheitsminister einiger westeuropäischer Staaten und die EU-Kommission bis dahin angemahnt hatten.

Und es dauerte nicht lange, bis die EU kapitulierte. Statt die nationalstaatlichen Alleingänge zu sanktionieren, nahm die EU-Kommission sie hin. Zu Recht hat die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung die innereuropäischen Grenzschließungen als „größte Niederlage in diesen schlechten Zeiten“ bezeichnet. Dass ausgerechnet einer Pandemie, die per definitionem ein globales Problem ist, mit nationalstaatlichen Maßnahmen begegnet werden soll, ist unter vielen Gesichtspunkten lächerlich, angesichts der Tausenden Leben, die sie kostet, aber vor allem verheerend.

Bleiben werden die Bilder des Unsolidarischen

In einer Zeit, die von der UNO als größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet wird, scheint sich die EU zurückzuziehen. Freilich kommt aus Brüssel ab und an ein Signal, die EU-Kommission bewilligt dieses oder jenes Corona-Hilfsprogramm. Doch wer wird sich in zehn Jahren daran erinnern, dass die EU in der Krise Geld freigegeben hat, das Nationalregierungen im Kampf gegen die verheerenden wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie beantragt haben?

Bleiben werden die Bilder des Unsolidarischen: Die Grenzkontrollen, aber auch die Härte Deutschlands, wenn es um die Frage sogenannter Corona-Bonds geht — der Vergemeinschaftung von Staatsschulden, um in der Krise Ländern wie Italien beizustehen, deren Volkswirtschaft wegen der Pandemie der Kollaps droht. Bleiben werden die Bilder aus Italien und Spanien, wo EU-Flaggen aus Rathäusern verschwinden oder – wie in Italien geschehen – aus Wut gar verbrannt werden. Bleiben werden auch die Bilder aus den überfüllten Flüchtlingslagern auf den griechischen Ägäis-Inseln, die in dieser humanitären Notlage ihrem Schicksal überlassen werden.

Über die Corona-Krise hinaus Bestand haben könnten aber auch handfeste politische Entscheidungen wie die endgültige Abschaffung der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. Dort winkte das Parlament in der Krise eine Notstandsgesetzgebung durch, die es dem rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán theoretisch ermöglicht, bis an sein Lebensende per Dekret zu regieren.
 

Wer sich Solidarität, Rechtsstaatlichkeit und Humanität auf die Fahnen schreibt, muss sich daran gerade in der Krise messen lassen. In normalen Zeiten Solidarität walten zu lassen, ist noch niemandem schwergefallen.“

Es ist noch nicht zu spät

Als Solidar- und Wertegemeinschaft, so muss man das leider sagen, hat die EU ausgedient. Wer sich Solidarität, Rechtsstaatlichkeit und Humanität auf die Fahnen schreibt, muss sich daran gerade in der Krise messen lassen. In normalen Zeiten Solidarität walten zu lassen, ist noch niemandem schwergefallen.

Nein, es ist noch nicht zu spät. Die Nationalstaaten werden die Krise nicht ohne internationale Koordination lösen können. Doch um in der Corona-Krise — und darüber hinaus — als ernstzunehmende Krisenmanagerin und globale Akteurin wahrgenommen zu werden, wird sich die EU neu erfinden müssen. So entlarvt die Krise nämlich auch die vielen Defizite der EU — allen voran das Fehlen von Mehrheitsentscheidungen im Europäischen Rat, das es etwa ermöglicht, dass ein einziges EU-Mitglied die Einführung von Corona-Bonds verhindern kann.

Unendlich viel Zeit wird sich die EU aber nicht lassen können. Denn nicht nur Nationalisten an der Spitze ihrer Mitgliedstaaten haben in der Krise eine Chance ausgemacht. Bereits jetzt macht sich vor allem China die Schwäche der EU zunutze und inszeniert sich mit Hilfslieferungen an Italien, Spanien und Frankreich als Retter in der Not. Fatal wäre es, wenn am Ende der Pandemie der Eindruck bliebe, dass der autoritäre chinesische Weg schneller aus der Krise führe als ein gemeinschaftliches europäisches Vorgehen.

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