Die junge Generation in Westeuropa hat derzeit mit dem Phänomen der so genannten Überqualifizierung zu kämpfen, da Bildung nicht mehr die Garantie für einen angesehenen Beruf und die damit verbundene soziale Sicherheit und Sozialleistungen ist. Dennoch stellen die Eltern hohe, oft sehr spezifische Anforderungen an ihre Kinder. Stressed to success. Jakub Vítek hat über dieses Phänomen aus eigener Erfahrung geschrieben.
Ich habe einfach gerade das Gefühl, dass ich unablässig Spaghetti an die Wand werfe und warte, welche hängen bleibt.“
Ein großes und schmerzhaftes Déjà-vu. Vor fünfzehn Jahren hatte ich als Absolvent des Magisterstudiums an der Theaterfakultät der Janáček-Akademie für Musik und Darstellende Kunst in Brünn (Janáčkova akademie múzických umění v Brně, kurz JAMU) den gleichen Schock durchleben müssen, als mich unvermittelt die Realität einholte. Im Stress der Abiturprüfungen und dem anschließenden Zulassungsprozess zur Universität hatten wir damals noch törichterweise gestichelt und gewitzelt: „Wenn sonst nichts anderes klappt, bei den Metallarbeitern findet sich allemal ein Platz.“ Fünf Jahre später, nach unzähligen Kreativseminaren, Workshops und dem Staatsexamen saßen wir Absolventinnen und Absolventen demütig und völlig fassungslos im Wartebereich des Jobcenters, während die MetallarbeiterInnen ihr zweites Haus bauten.
Mimi hat heute ganz bescheiden ihren Lebenslauf in einer Studierendenkneipe abgegeben und sich auf eine Stelle als Empfangsdame in einem Tattoo-Studio beworben – wenn es klappt und beide dieser „an die Wand geworfenen Spaghetti‘ kleben bleiben, könnte sie es sich Ende des Sommers leisten, die Miete einer WG mit zwei Kommilitoninnen selbst zu zahlen und endlich den Klauen ihrer nervenden Eltern zu entkommen.
Im Umfeld der postkommunistischen Tschechischen Republik und mit Eltern, die ad absurdum wiederkäuten „sowas hätte es bei uns nicht gegeben, lernt Sprachen und sammelt Titel“, wurde eine ganze Generation tschechischer Millennials an die Hochschulen getrieben mit dem Ziel, sich hochzuarbeiten, die Sprossen abstrakter Gehaltstabellen hinauf in Richtung nicht vorhandener Arbeitsplätze. Das hatte zur Folge, dass spezialisierte Berufe wie Elektriker, Bau- oder eben Metallarbeiter heute eine goldene Nische sind.
Erziehung und Bildung im Druckkochtopf
In Frankreich ist der seitens der Eltern ausgeübte Druck, ein Hochschulstudium erfolgreich abzuschließen und anschließend einen lukrativen Arbeitsplatz zu ergattern (eine allgemein gültige Ungleichung), auch durch astronomische Studienkredite bedingt – ein Trend, dem das tschechische staatliche Hochschulsystem glücklicherweise noch nicht gefolgt ist. Kommunismus!In ihrer Studie von 2013 Stress in America: Are teens adopting adults’ stress habits? (Stress in Amerika: Übernehmen Teenager die Stressgewohnheiten von Erwachsenen?) weist die Amerikanische Psychologische Gesellschaft (The American Psychological Association, APA) auf den schockierenden Anstieg des Prozentsatzes von Teenagern und Heranwachsenden hin, die mit chronischem Stress und damit verbundenen physischen, psychischen und emotionalen Belastungen und ineffektiven Kompensierungsmechanismen leben, die wiederum unweigerlich zu einem gängigen und allgemein tolerierten Teil der heutigen Kultur des Erwachsenwerdens und zu guter Letzt des Erwachsenseins werden. Überraschenderweise wird Stress, der durch finanzielle Unselbstständigkeit, Abhängigkeit von der Unterstützung durch die Eltern und fehlende finanzielle Mittel hervorgerufen wird, auf der Skala für chronischen Stress höher bewertet als der Stress, der während der staatlichen Abschlussprüfungen und dem Warten auf deren Ergebnisse entsteht.
In einer Publikation des Staatlichen Gesundheitsamtes Tschechiens (Státní zdravotní úřad) mit dem Titel Das Burnout-Syndrom (Syndrom vyhoření) der Autoren Vladimír Kebza und Iva Šolcová wird Stress definiert als „das Ergebnis eines Ungleichgewichts zwischen der Bewertung der Anforderungen und der Bewertung der Ressourcen zu deren Bewältigung“. Wenn eine Person die auftretenden Belastungen und Anforderungen als unzumutbar, zeitraubend oder anderweitig unerträglich empfindet, sind ihre Reserven und Strategien zur Stressbewältigung erschöpft.
Kombiniert man die wahrscheinlich notwendige Selbsttäuschung, die Studienanstrengungen stünden in direktem Verhältnis zu einer Beschäftigung im angestrebten Fachgebiet und einer entsprechend einträglichen Karriere mit der daraus resultierenden allgemeinen Desillusionierung angesichts der Realitäten des aktuellen Arbeitsmarktes, dann kann ein berufsbedingtes Burnout eintreten, noch bevor es überhaupt zu einer Beschäftigung im entsprechenden Berufsfeld kommt. Die Mehrheit der studierten Freund*innen meiner Schwägerin, hauptsächlich mit Abschlüssen im Bereich theoretischer und praktischer Kunststudien, verbringt ihre Tage nicht in Ateliers, Galerien oder Werbeagenturen, sondern damit, sich auf der Couch im Schein verschiedener Bildschirme einen Joint zu drehen – ein angefangenes Motivationsschreiben auf dem Laptop, Netflix auf dem Fernsehbildschirm und das endlose Flimmern von TikTok-Videos auf dem Display des Telefons. Frankreichs Generation Z, zu der nun auch meine ansonsten kompromisslos ehrgeizige und proaktive Schwägerin Mimi gehört, entdeckt nun das Lebenskonzept des flâneur aus dem 19. Jahrhundert neu, diesmal jedoch mit weniger Freude über das angenehm langsame Leben außerhalb der sozialen Normen des täglichen, von Montag bis Freitag dauernden Arbeitsalltages, aber dafür mit größerer Enttäuschung und Skepsis.
Die Familie – Grundlage von Staat und Traumata
Vielleicht sollte man die Definition enttäuschter Erwartungen über die Grenzen der von den Medien und der Gesellschaft gehegten Illusionen bezüglich der künftigen Beschäftigungsmöglichkeiten von Hochschulstudierenden auch um die Vorstellungen, Erwartungen und Ansprüche der Eltern erweitern.Im Jahr 2023 veröffentlichte die IDEA-Forschungseinrichtung am Institut für Volkswirtschaft der Tschechischen Akademie der Wissenschaften (Národohospodářském ústavu Akademie věd ČR) eine Studie mit dem Titel Pandemien und elterliche Erwartungen über die Rentabilität von Bildungsinvestitionen (Pandemie a očekávání rodičů ohledně návratnosti investic do vzdělávání), in der die Auswirkungen von Schulschließungen auf die Erwartungen der Eltern in Bezug auf den Nutzen ihrer finanziellen und zeitlichen Investitionen in die Bildung ihrer Kinder zusammengefasst wurden. Laut dieser Studie waren im April 2020 viele Eltern überzeugt, dass sich Investitionen in die Bildung ihrer Kinder, sei es in Form von Zeit oder Geld, in hohem Maße auszahlen würden. Es wurde angenommen, dass wenn die Eltern etwa fünf Stunden oder 500 Kronen pro Woche in die Bildung investierten, das durchschnittliche Einkommen eines Kindes nach dem dreißigsten Lebensjahr um zwölf bis 14 Prozent ansteige – verglichen mit der Annahme, dass sich die Eltern überhaupt nicht engagieren.
Im Jahr 2021 waren die elterlichen Erwartungen darüber, ob sich Investitionen in die Bildung ihrer Kinder, sowohl bezüglich des zeitlichen als auch des finanziellen Engagements, auszahlen würden, im Vergleich zu 2020 um etwa ein Drittel gesunken. Es wurde nun davon ausgegangen, dass sich das Einkommen eines Kindes im Alter zwischen 30 und 40 Jahren um acht bis zehn Prozent erhöhe, statt wie vorher um zwölf bis 14 Prozent.
Interessant ist jedoch, dass sich die Wahrnehmung der Bildung in Bezug auf schwächere Schülerinnen und Schüler verändert hat. Nach Daten des IDEA-Think-Tanks am Center for Economic Research and Graduate Education – Economics Institute (CERGE-EI) in Prag stieg durch die COVID-19-Pandemie die Überzeugung von Eltern schwächerer Lernender, dass sich Investitionen in die Bildung dieser Kinder in Zukunft auszahlen würden. Das erwartete durchschnittliche zukünftige Einkommen für Schülerinnen und Schüler mit unterdurchschnittlichen Fähigkeiten stieg zwischen April 2020 und 2021 um fünf Prozent, während die Erwartungen der Eltern von Kindern mit überdurchschnittlichen Leistungen unverändert blieben.
Das Faszinierendste an diesen Statistiken ist für mich die absolut nicht auseinander dividierbare und unbestreitbare Korrelation zwischen dem Niveau und der Qualität der Bildung und der Höhe des künftigen Einkommens – eine vielleicht gefährlich falsche Annahme, wie die Unzahl an Hochschulabsolventen und -absolventinnen meiner und der Generation meiner Schwägerin bezeugen kann. In Frankreich nennt man sie trop diplômés, ein Begriff, der einen großen Teil der neuen potenziellen Treiber der Wirtschaft auf Über-Qualifizierte und damit als schwer bis nicht in Arbeit vermittelbar degradiert.
Traum oder Alptraum?
Der Traum von gegenseitigem Austausch ausgebildeter Arbeitskräfte innerhalb der EU ist noch nicht ganz ausgeträumt. Aber man muss realistische Erwartungen mitbringen, was für diejenigen, die gerade ihre Flügel ausbreiten, um aus ihrem akademischen Schoß heraus den ersten Flug zu unternehmen, nicht einfach sein mag. Es gibt natürlich gutbezahlte Stellen, aber vielleicht nicht in den Bereichen, von denen man geträumt hat, als man noch im Kokon der Universität gehockt und am Universitätsabschluss gesponnen hat. Während der letzten fünf Jahre sind mein Mann und ich viel durch Europa gereist, haben als Gästebetreuer und Haushälter für wohlhabende Privatkunden gearbeitet. Unser monatliches Einkommen lag selten unter 2500 Euro pro Person. Im Vergleich dazu erhielt eine studierte Grafikdesignerin, die in einer Werbeagentur im französischen Bordeaux arbeitete, gerade mal 1800 Euro brutto.Der Anstieg der Zahl der Hochschulabsolvierenden in Bereichen wie den Geistes- und Sozialwissenschaften führt häufig zu Schwierigkeiten bei der Suche nach einer geeigneten Beschäftigung.
Allerdings ist die Situation in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich: Länder wie Deutschland und die Niederlande verzeichnen im Vergleich zu zum Beispiel südeuropäischen Ländern eine allgemein höhere Beschäftigungsquote von Hochschulabsolventinnen und -absolventen. Die Bewältigung der komplexen Beziehungen zwischen Hochschulsystem, Anforderungen des Arbeitsmarktes und Wirtschaftswachstum verlangt eine komplexe Herangehensweise, die ein Eingreifen der Politik, Karriereberatung und die Zusammenarbeit zwischen Industrie und akademischer Welt gleichermaßen einschließt.
Die Zunahme der Anzahl von Hochschulabsolvierenden sorgt zwar dafür, dass mehr qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, bedingt jedoch eine Disproportion zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. Sektoren wie die IT-Branche, das Finanz- oder Gesundheitswesen nehmen traditionell eine große Zahl von Absolventinnen und Absolventen auf, dennoch bleibt es für die Fachrichtungen der Geistes- und Sozialwissenschaften oft schwierig. Eine Studie der OECD aus dem Jahr 2019 belegt eine höhere Arbeitslosenquote von Absolvierenden dieser Fachrichtungen im Vergleich zu technischen Disziplinen.
Darüber hinaus ist die Situation in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich: In Ländern wie Deutschland und den Niederlanden sind die Beschäftigungsquoten von Hochschulabsolvierenden traditionell höher, was auf das duale, gut funktionierende Ausbildungssystem zurückgeführt werden kann – wenigstens in bestimmten Handwerkerberufen. Dieser Ansatz zur Entwicklung von Fähigkeiten verbindet theoretischen Unterricht in der Schule mit praktischem Lernen am Arbeitsplatz und nutzt enge Verbindungen zwischen Ausbildungsstätten und Industrie. Im Gegensatz dazu stehen die südeuropäischen Länder vor größeren Herausforderungen, wie aus Daten des statistischen Amtes der Europäischen Union Eurostat hervorgeht.
Zur Bewältigung dieser Herausforderungen ist eine Revolution in der Zusammenarbeit zwischen Bildungseinrichtungen, Regierungen und dem Privatsektor erforderlich. Die Anpassung von Studienprogrammen an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes, die Weiterentwicklung des lebenslangen Lernens und die Förderung unternehmerischer Tätigkeiten von Hochschulabsolvierenden sind Schlüsselfaktoren für die erfolgreiche Integration junger Menschen in den Arbeitsmarkt.
Eine globale Revolution – Aber aus welcher Richtung?
Die folgenden Ausführungen zu verschiedenen Ansätzen, die eine Reform des Bildungssystems anstreben, veranschaulichen nur einige der Innovationsmöglichkeiten und erheben nicht den Anspruch eines vollständigen Überblicks über alle Reformversuche im Bildungswesen. Schaut man nach Westen, war einer der radikalsten und experimentellsten Versuche, das Bildungssystem zu reformieren, der sogenannte Dalton-Plan. Dieser innovative Ansatz, der 1919 von der amerikanischen Pädagogin Helen Parkhurst entwickelt wurde, zielte auf eine vollständige Individualisierung des Lernens ab. Die Lernenden sollten in ihrem eigenen Tempo arbeiten können, ohne den traditionellen Klassenverband. Vielmehr sollte die Schule eine Art Werkstatt sein, in der die Schülerinnen und Schüler ihre Aufgaben selbst wählen und selbstständig oder in kleinen Gruppen abarbeiten.Der Dalton-Plan war eine mutige Vision, die tiefgreifende Veränderungen des Erziehungs- und Unterrichtskonzeptes versprach. Ziel war es, die Selbstständigkeit, die Kreativität und das Verantwortungsbewusstsein der Schülerinnen und Schüler zu fördern. In der Praxis zeigte sich jedoch, dass dieses System schwer umzusetzen und mit der etablierten, meist konservativen Bildungspraxis – gekennzeichnet durch einen Mangel an Ressourcen und pädagogischer Kapazitäten – nur schwer zu vereinbaren war. Viele Kritiker*innen verwiesen auf die fehlende soziale Interaktion zwischen den Lernenden, Probleme mit der Disziplin und Schwierigkeiten bei der Bewertung der Leistungen.
Obwohl der Dalton-Plan andere Bildungsreformen wesentlich beeinflusste und zahlreiche Pädagoginnen und Pädagogen inspirierte, setzte sich das ursprüngliche Konzept nicht in Reinform durch.
Die Kinder wurden in militärischem Stil organisiert, wobei der Schwerpunkt auf Disziplin, harter Arbeit und ideologischer Erziehung lag.
Richten wir den Blick gen Osten, taucht hier etwa zur gleichen Zeit, in den 1920er Jahren, ein nicht weniger radikales und äußerst umstrittenes Bildungsexperiment ganz gegensätzlicher Art auf, das unter der Leitung des sowjetischen Erziehers und Reformers Anton Semjonowitsch Makarenko entwickelt wurde. Seine sogenannten „Kolonien für problematische Jugendliche“, insbesondere die Gorki-Kolonie, waren für ihr strenges Regime und die Konzentration auf die Erziehung im Sinne des Kollektivs bekannt. Makarenko setzte auf eine vollständige Unterordnung individueller Bedürfnisse unter die Bedürfnisse des Kollektivs. Die Kinder wurden in militärischem Stil organisiert, wobei der Schwerpunkt auf Disziplin, harter Arbeit und ideologischer Erziehung lag. Ziel war nicht nur die Resozialisierung jugendlicher Straftäter, sondern auch die Erziehung neuer, ergebener sozialistischer Bürger.
Obgleich Makarenkos Methoden zu einem gewissen Erfolg bezüglich Disziplin und Arbeitsmoral führten, wurden sie zu Recht für ihren autoritären Ansatz, die Unterdrückung der Individualität und das Fehlen von Freiräumen für die persönliche Entwicklung kritisiert.
Neben diesen kontroversen und nicht immer erfolgreichen Versuchen um eine Reform der Bildungspraxis gibt es auch innovative Ansätze, die nachweislich positive Ergebnisse erzielten. Zum Beispiel legt das finnische Bildungssystem Wert auf die Eigenständigkeit der Schülerinnen und Schüler, unterstützt deren Kreativität und Problemlösungsfähigkeiten. Die finnischen Lehrkräfte haben große Handlungsspielräume bei der Unterrichtsgestaltung, was es ihnen ermöglicht, die Bildung auf die individuellen Bedürfnisse der Lernenden anzupassen. Auch das estnische Bildungssystem wird oft als Beispiel erfolgreicher Reformbemühungen herangezogen. Dessen Schlüsselelemente sind eine umfängliche Nutzung von Technologien, die Betonung digitaler Kompetenzen und individualisierte Lehrpläne. Estland gehört zu den Vorreitern der Digitalisierung des Schulwesens, setzt insbesondere auf elektronische Lehrbücher und Onlineplattformen für das Unterrichten und Bewerten. Dieser Ansatz verbessert nicht nur die Effektivität des Lehrens und Lernens, sondern bereitet die Schülerinnen und Schüler auch auf die Anforderungen des digitalen Zeitalters vor.
Das estnische System legt ebenfalls großen Wert auf die Herausbildung kritischen Denkens, Kreativität und Problemlösungsfähigkeiten. Dank dieser Faktoren erreichen Finnland und Estland herausragende Ergebnisse in internationalen Vergleichsstudien wie der PISA-Studie, dienen aber auch häufig als Vorbild für andere Länder, die ihre Bildungssysteme reformieren wollen.
In ähnlicher Weise hat sich die Montessori-Pädagogik, die sich am individuellen Tempo jeden Kindes und der Entwicklung der Sinne orientiert, im Vorschulbereich bewährt. Die Montessori-Methode wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von der italienischen Ärztin und Pädagogin Maria Montessori entwickelt. Ihre erste Schule, das Kinderhaus (Casa dei Bambini), eröffnete sie im Jahr 1907 in einem Armenviertel von Rom. Nur fünf Jahre später, im Jahr 1912, gab es bereits die erste spezielle Montessori-Schule in den Vereinigten Staaten von Amerika, die der Erfinder des Telefons, Alexander Graham Bell, höchstpersönlich gegründet hatte.
Um die Komplexität der Montessori-Pädagogik wirklich zu verstehen, muss man auch auf die kritischen Stimmen schauen, zum Beispiel den Artikel von Jessica Winter The Miseducation of Maria Montessori aus dem Magazin The New Yorker. Sie weist auf Risiken des Missbrauchs beziehungsweise der inkonsequenten Anwendung der Methoden und der Kommerzialisierung der Montessori-Schulen hin, die oft zu einer Elitisierung der Einrichtungen führten. Während die ursprüngliche Grundidee der Montessori-Pädagogik auf der Zugänglichkeit qualitativ hochwertiger Bildung im Sinne einer Inklusion aller Kinder beruht, wandelte sich das ursprünglich altruistische Konzept unter dem Druck des Kapitalismus zu einem exklusiven Model, welches hauptsächlich einkommensstarken Familien zugänglich ist. Staatliche Montessori Schulen gibt es in der Tschechischen Republik nur sehr wenige und die privaten sind oft ausschließlich Kindern wohlhabender Eltern zugänglich.
Ende der 1990er Jahre initiierte auf der entgegengesetzten Seite der Erdhalbkugel der indische Bildungsaktivist Sugata Mitra das Projekt Hole in the Wall (Loch in der Wand). Grundlegend geht es darum, Computer mit Internetverbindung in Maueröffnungen im öffentlichen Raum zu installieren, insbesondere in den Armenvierteln Indiens. Ohne jegliche Vorbildung oder Instruktionen begannen die Kinder spontan diese Computer zu nutzen und zu lernen. Dieses Phänomen, bekannt als Minimal invasive Erziehung oder Lehrer als Begleiter, führte zu einer weltweiten Diskussion über das Potential selbstorganisierten Lernens und die Rolle von Lehrenden im digitalen Zeitalter.
Mitras Experiment trug wesentlich zur Entwicklung von Konzepten wie open education (Bildung für alle) und connected learning (Interaktives Lernen) bei. Seine Arbeit inspirierte eine ganze Reihe weiterer Studien, die sich mit der Nutzung von Technologien zur Förderung selbstständigen Lernens befassen.
Im Kontext der europäischen Bildungslandschaft und der Beschäftigung von Hochschulabsolvierenden wirft das Projekt Hole in the Wall Fragen nach der Rolle formaler Bildung im digitalen Zeitalter auf. Wenn Kinder es selbst schaffen, die Welt mittels Technologie zu entdecken, welche Fähigkeiten und Kenntnisse sollten dann das Hauptaugenmerk von Hochschulbildung sein? Wie lassen sich Absolventinnen und Absolventen vorbereiten auf den sich ständig verändernden Arbeitsmarkt, wo die Fähigkeit zu lernen und sich neuen Technologien anzupassen, eine Schlüsselrolle einnehmen wird?
Wozu ein tolles Diplom, wenn es einem keine Türen öffnet?
Das Krisentelefonat mit der Schwester meines Mannes war noch lange nicht zu Ende. Jeder wie auch immer hart erarbeitete Funke von Optimismus und Hoffnung wird häufig von einer einzigen Nachricht der Eltern erstickt, die tagtäglichen Variationen von „Was ist dein Plan?“, „Wie viele Vorstellungsgespräche hast du diese Woche?“, oder schlimmer noch „Wir haben doch abgemacht, dass wir dir den Studienkredit nur finanzieren, solange du studierst. Wir hoffen, du hast einen Plan.“Ja, das Wort „Plan“ versuchen wir mit Hängen und Würgen in einen Witz zu pressen und nicht als Auslöser einer PTBS zu empfinden. Dank unserer Unterstützung und unseren Erfahrungen beim Erwachen aus diesem Fertig-studiert-Gefühl und dem Navigieren in einer Welt ohne Karrieregarantien schlägt sich Mimi bisher ganz gut, ist noch nicht in totale Desillusionierung und Resignation abgedriftet oder auf der gefürchteten Netflix-Couch in einer Untermiete mit ähnlich schwer vermittelbaren Studierten gestrandet.
Genau diese Desillusionierung ist meines Erachtens eine Gefahr viel größeren Kalibers als das im Großen und Ganzen universelle Herumtappen im liminalen Raum zwischen studentischem und Arbeitsleben. Der Traum von wechselseitiger Mobilität von Talenten im Rahmen der Europäischen Union, einer Fülle an Arbeitsmöglichkeiten und einem stark überzogenen Lebensstandard bedingt immer häufiger und schneller das Abdriften von bloßer Desillusionierung in einen doch ziemlich gefährlichen Euroskeptizismus und die völlig fehlgeleitete Überzeugung, dass nicht das Verbindende, sondern die Abgrenzung uns stärker macht.
Mimi wirft jeden Tag die sogenannten Spaghetti, nicht an die Wand, eher blind um sich herum – verschickt CVs im Zufallsprinzip für alle möglichen Positionen, die ihr in Bordeaux über den Weg laufen: vom Call-Center, über Imbiss-Verkäuferin, Empfangsdame im Tattoo-Studio („Das wäre wenigstens ziemlich nah an Grafikdesign.“) bis hin zu – kein Witz – Einbalsamieren von Leichen im Bestattungsinstitut – hervorragende Benefits und Arbeitszeiten! Außer den triggernden Kontakten mit den Eltern und all den liebgewonnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jobcenters (gestern haben die sie ohne ihre Zustimmung zu einem verpflichteten Gruppenseminar im Bereich Landwirtschaftsingenieurswesen angemeldet), kämpft sie jeden Tag vor allem mit ihrem eigenen Ego, das auch nicht die Klappe halten will.
„Was hat das alles denn gebracht?“ wirft sie sich heute schon zum dritten Mal selbst vor. Wenn ich gewusst hätte … hätte ich lieber … und so weiter. Familiärer Ballast versteckt hinter falschem Bedauern. Sowas hatten wir hier doch schon. Ich biete mein bewährtes Mantra an: „Jeder Tag, den man mit Studieren und der Erweiterung des eigenen Horizontes verbringt, ist eine gute Investition.“
Vielleicht ist es einfach an der Zeit, das Konzept der Investition umzuformulieren, weg vom Kontostand am Ende des Arbeitsmonats.
In einer Publikation der Stiftung Unser Kind (Nadace Naše dítě) aus dem Jahr 2003 mit dem Titel Kenne deine Rechte, Freiheiten und Pflichten (Poznej svá práva, svobody a povinnosti) weist der Psychologe Jiří Kovařík darauf hin, dass ein Universitätsstudium jungen Menschen nicht nur schulisch, sondern auch hinsichtlich ihrer individuellen Entwicklung sehr viel abverlangt. Ein Hochschulstudium findet gleichzeitig zu einer dynamischen Phase des Erwachsenwerdens statt, in welcher sich junge Menschen intensiv damit auseinandersetzen, sich selbst kennenzulernen und eine eigene Identität herauszubilden. Diese Schlüsselphase des Erwachsenwerdens beinhaltet aber noch weitere langfristige Aufgaben. Dazu zählt Kovařík unter anderem, sich selbst anzunehmen, Beziehungen zu etablieren, neue und ausgereiftere und mit Gleichaltrigen beider Geschlechter, das Erkämpfen emotionaler Unabhängigkeit von seinen Eltern und die Entwicklung des Intellekts, das Kultivieren zielführender Kommunikationsstrategien mit der eigenen Umgebung und die Kunst, die Welt zu interpretieren.
Warum nicht, anstatt auf eine nächste radikale Revolution des Bildungssystems zu warten, lieber das Konzept der Universitätsbildung so voranbringen, dass es nicht nur primär als direkter Weg zu einer erfolgreichen Karriere und einem garantierten Platz im ökonomischen System wahrgenommen wird? Über einen offenen, generationsübergreifenden Dialog das Studium begreifen als Methode der Erweiterung von Wissen, Fertigkeiten, aber auch der Formung der Persönlichkeit, von Beziehungen, Meinungs- und Wertesystem und persönlicher Ideologie. Das Werfen von Spaghetti an Wände und das Warten darauf, welche davon hängen bleibt, normalisieren und als einen notwendigen Prozess persönlichen Wachstums anerkennen, einen Prozess des Entkommens aus der Tyrannei elterlicher und auch eigener Erwartungen, und zwar in vielen Bereichen des menschlichen Lebens, nicht nur Studium oder Beruf betreffend.
Oktober 2024