Nach den Europawahlen  Die Slowakei gerät in eine Spirale des Hasses

Die Slowakei gerät in eine Spirale des Hasses Illustration: © Vladimír Holina

Auch wenn mindestens eine Woche lang nach dem Attentat auf Ministerpräsident Robert Fico niemand in der Slowakei laut sagte, dass der Angeschossene einer der Hauptverantwortlichen für die hasserfüllte Atmosphäre im Land war, bedeutet das nicht, dass man es vergessen hat, betont die Journalistin Nataša Holinová.

Die Hass-Sendung hatte noch keine dreißig Sekunden gedauert, da war bereits die Hälfte der Leute im Raum in unbeherrschtes Wutgeschrei ausgebrochen. Das selbstzufriedene Schafsgesicht auf dem Bildschirm und die furchterregende Stärke der eurasischen Armee hinter ihm waren unerträglich; wobei schon Goldsteins Anblick oder auch nur der Gedanke an ihn unwillkürlich Furcht und Zorn auslöste. [...]

Die zweite Minute der Hass-Sendung steigerte sich zur Raserei. Die Leute tobten auf ihren Sitzen und schrien so laut sie konnten, um die unerträgliche Blökstimme vom Bildschirm zu übertönen. Die kleine, strohblonde Frau war rot angelaufen, und sie öffnete und schloss ihren Mund wie ein Fisch an Land. Sogar O’Briens derbes Gesicht war gerötet. Er saß aufrecht auf seinem Stuhl, sein mächtiger Brustkorb wogte und bebte, als müsse er dem Anprall einer Welle widerstehen. Das Mädchen mit dem schwarzen Haar hinter Winston schrie nun laut „Drecksau! Drecksau! Drecksau!“, [...]


George Orwell: 1984 (Deutsche Übersetzung von Jan Strümpel, Anaconda 2024)

Am Mittwoch, den 15. Mai 2024, erlebte die Slowakei zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein Attentat auf eine*n ihrer Spitzenpolitiker*innen: Ministerpräsident Robert Fico wurde niedergeschossen und lebensgefährlich verletzt. Die Formulierung, das Ereignis habe „die gesamte Slowakei schockiert“, kann diesmal ohne die übliche Übertreibung verwendet werden.

Eine Sache war vollkommen klar: Jeder, der auch nur einen Funken Anstand besaß, würde erst mal mindestens ein paar Tage schweigen. Alles andere wäre nur ein unerträgliches Theater und Tamtam, denn der Versuch, gewisse Politiker*innen der Regierungskoalition niederzuschreien, hätte den Lärmpegel auf ein unannehmbares Niveau erhöht.

Die Tatsache, dass nach dem Attentat erst einmal mindestens eine Woche lang wirklich niemand in der Slowakei laut aussprach, dass ja der angeschossene Ministerpräsident Robert Fico selbst einer der Hauptverantwortlichen für die hasserfüllte Atmosphäre in unserem Land war, bedeutet nicht, dass wir das vergessen oder ihm einen Heiligenschein verpasst haben, wie einige tschechische Journalist*innen behaupten.

Denn sie konnten ja von dort alles aus einer bequemeren Distanz betrachteten und bequem behaupteten, die slowakischen Journalist*innen hätten sich eine Kollektivschuld aufdrücken lassen, was aber nicht der Fall ist. Wir waren einfach entschlossen, die verschiedenen Arten von verbalisierter Wut in diesem Moment nicht eskalieren zu lassen, denn wir wussten, dass wir uns nach einer gewissen Zeit diesem Thema zuwenden würden, und zwar, wenn zwei Sachen eingetreten sein würden.

Die erste Sache war, dass Robert Fico außer Lebensgefahr war, und die zweite Sache, die ich von Anfang an vorhergesehen hatte, war die, dass die Ursachen für dieses Ereignis weit über das Erträgliche hinaus umgedeutet werden würden. Die erste Sache ist klar, hier können wir nur zitieren..., aber wen eigentlich genau? Ich hätte gesagt, „Ärzte zitieren“, aber Ärzte zu zitieren, war überhaupt nicht möglich. Ficos Zustand wurde nicht von seinen Ärzten bekannt gegeben, sondern ausschließlich von zwei Ministern: dem Innen- und dem Verteidigungsminister. Und über die Sicherheitslage wurde in den Pressekonferenzen nicht etwa von den Polizeichefs berichtet, sondern ausschließlich von diesen beiden Ministern.

Aus diesem Grund gibt die slowakische Regierung derzeit in den Augen einiger ausländischer Beobachter*innen das Bild einer paramilitärischen Junta ab.

Ja, und zu der zweiten Sache lässt sich nur so viel sagen, dass wir ausführlicher darüber reden müssen.

Am Tag des Attentats schrieb ich für die Tageszeitung SME einen Kommentar mit der Überschrift „Am Mittwochnachmittag haben wir uns verändert. Wir müssen dorthin zurück, woher wir hergekommen sind“, und dann hatte ich beim Erscheinen am nächsten Tag so ein Déjà-vu, das Gefühl, diesen Titel dummerweise schon einmal so geschrieben zu haben. Wann konnte das bloß gewesen sein?

Ich habe es schnell gefunden. „Zuerst haben wir uns sehr verhärtet. Jetzt müssen wir weicher werden“, hatte ich im Juni 2018 in der Tageszeitung Denník N geschrieben, und jetzt schockt mich dabei einzig und allein der Grund, aus dem ich das geschrieben hatte: Ein homophober Angriff auf einige Teenager, der glimpflich ausging. Der Terroranschlag auf eine Queer-Bar in Bratislava (der sich gegen die LGBTI+-Community richtete), bei der zwei Menschen starben, würde zwar erst viel später passieren, aber ich habe den Eindruck, dass ein Angriff wie der im Jahr 2018 (der praktisch keine Folgen hatte), es heute nicht einmal mehr in die regionale Presse schaffen würde, geschweige denn in die nationalen Tageszeitungen.

Andererseits war aber die Ermordung an dem Journalisten Ján Kuciak bereits geschehen und es wurde von vielen Leuten auch immer wieder gesagt, dass es der jetzige Ministerpräsident Fico gewesen war, der Journalist*innen öffentlich als Schweine, Hyänen, antislowakische Prostituierte und dergleichen bezeichnet hat. Es war die Smer-Partei gewesen, die mit ihrer „Liste von Verrätern“ bis heute gegen all jene hetzt, die für das Verteidigungsabkommen mit den USA gestimmt oder es anderweitig unterstützt haben. Es war die Smer-Partei, die im Februar 2022 das tat, was sie heute der Opposition und den Medien vorwirft: Hass schüren.

Im Fall Kuciak war es aber kein instinktiver Hassmord, sondern eine kaltblütige Entscheidung der Auftraggeber, dass Kuciak im Weg war. (Der Auftragsmörder ist bereits verurteilt, der Auftraggeber aber noch nicht und wird vielleicht auch nie verurteilt werden. Mit Sicherheit wissen wir aber, dass Kuciak dem Mafioso Marian Kočner im Weg war, der inzwischen wegen anderer Verbrechen verurteilt wurde, und dass der Investigativjournalist nicht von der Polizei geschützt wurde, deren Schlüsselpositionen damals von ausgewiesenen Unterstützern von Ficos Smer-Partei besetzt waren. Nun stimmt es zwar, dass der Journalist Kuciak den damaligen Regierungsbehörden ein Dorn im Auge war, aber die Entscheidung, ihn mit Mafiamethoden aus dem Weg zu räumen, entsprang nicht direkt einem Klima des Hasses gegenüber Journalist*innen, sondern der Tatsache, dass jemand tatsächlich glaubte, damit ungestraft durchzukommen und Macht über das Leben anderer Menschen zu haben. Und in diesem Sinne ist der Mord an Ján Kuciak eben eine ganz andere Sache als der Angriff auf die Queer-Bar in Bratislava oder das Attentat auf Premierminister Fico.
 
Robert Fico während des ersten Europawahlkampfs der Partei Smer, Banská Bystrica 2008

Robert Fico während des ersten Europawahlkampfs der Partei Smer, Banská Bystrica 2008 | Foto: © Andrej Bán

Ich möchte das Attentat auf den Premier keineswegs herunterspielen, es war und ist ein sehr ernstes, bisher nie dagewesenes Ereignis, doch man kann sagen, dass es die Tat eines geistesgestörten Täters war. Letzten Endes wurde er sehr schnell in die Psychiatrie eingewiesen und seither gibt es keine weiteren Informationen über ihn. Sehr schnell wurde klar, dass, obwohl der Attentäter offenbar deutlich aussagte, mit der Politik der Regierung unzufrieden zu sein und auch einige eindeutige Argumente diesbezüglich vorbrachte (Zerschlagung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und der obersten Justizorgane), war er politisch nicht eindeutig orientiert und hat sich lange Zeit insbesondere darum bemüht, auf sich selbst aufmerksam zu machen. Letztlich konnte er sich seinen eigenen Aussagen zufolge bis zum letzten Moment nicht entscheiden, ob er dem Premierminister sein Buch geben oder ein Magazin auf ihn abfeuern sollte: Er hatte sowohl Buch als auch Waffe dabei.

Es ist völlig klar, dass Verantwortung für das Attentat nicht bei den Medien liegt. Und ebenso klar ist, dass die derzeitige Koalition ihnen die Schuld für das Attentat in die Schuhe schiebt. Einen Monat nach dem Attentat ist dies nach wie vor die Art und Weise geklärt, die keine Zweifel offenlassen soll. Einmal mehr hat Ficos Smer-Partei geniale Kommunikationsstrategien angewandt und ihre Kritiker*innen – die ganz normalen Medien – als bewaffnete Kämpfer gegen die Politiker*innen dargestellt.

Dabei gibt es bei den Journalist*innen dieser Medien niemanden, der Gewalt in irgendeiner Form gutheißt. Ganz im Gegenteil, uns kommt es heute so vor, als seien unsere langjährigen Forderungen nach Menschenrechten und ähnlichen demokratischen und liberalen Werten völlig im Nichts verhallt.

Noch dazu paktieren die Regierungsmitglieder auch mit den so genannten alternativen Medien und den Extremist*innen unter den Meinungsmacher*innen, die ihre Politik befürworten.

Nach dem Attentat verhalf die Position des Opfers – und damit des moralischen Siegers – der Smer-Partei zu einem Anstieg ihrer Umfragewerte, so dass es sogar danach aussah, als ob sie in der Slowakei die Europawahlen gewinnen könnte. Dazu kam es letztendlich nicht. Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass die Wahlen zum Europäischen Parlament nicht die letzten fairen Wahlen in der Slowakei waren.

Die derzeitige Koalition hat noch mehr als drei Jahre Zeit, um die Demokratie zu demontieren, und verfügt diesbezüglich auch über reichlich Ambitionen und Ressourcen.

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