Die Slowakei nach den Europawahlen  Der Slovexit beginnt in den Köpfen

Mit dem sogenannten Vatra zvrchovanosti (etwa: Feuer der Souveränit) wird an die Verabschiedung der Deklaration zur Souveränitat des slowakischen Staates durch den slowakischen Nationalrat am 30. Juli 1992 erinnert. Hier die Veranstaltung in Brezno im Jahr 2010.
Mit dem sogenannten Vatra zvrchovanosti (etwa: Feuer der Souveränit) wird an die Verabschiedung der Deklaration zur Souveränitat des slowakischen Staates durch den slowakischen Nationalrat am 30. Juli 1992 erinnert. Hier die Veranstaltung in Brezno im Jahr 2010. Foto: © Andrej Bán

Die Slowakinnen und Slowaken haben scheinbar für Europa gestimmt. Bei näherer Betrachtung der Ergebnisse der Wahl zum Europäischen Parlament ist dies jedoch nicht mehr ganz so klar. Die politischen Kräfte, die der EU kritisch gegenüberstehen, waren und sind vulgär, großschnäuzig und destruktiv und werden dies ohne Zweifel auch in Zukunft sein. Der „Slovexit“ ist auf praktischer Ebene ein Hirngespinst, aber in den Köpfen vieler Slowakinnen und Slowaken eine nur allzu reale Sache.

Wer glaubt noch an die unbezahlbare Mitgift an Fähigkeiten?

Im Jahr 2013 schrieb der Soziologe Zygmunt Bauman über die europäische Integration, dass sie eine äußerst wertvolle, unbezahlbare Mitgift an Fähigkeiten und Wissen enthalte. Aber einem großen Teil der slowakischen Wählerinnen und Wähler fehlt dieses positive Gefühl.

Das wäre ja nicht weiter schlimm, wenn sie sich darauf beschränken würden, das europäische Projekt entsprechend ihren Erwartungen mitzugestalten. Sie wählen und unterstützen jedoch Politiker*innen, die sich in ihren Wahlprogrammen und Maßnahmen auf einen Kampf gegen die EU konzentrieren und ihre Anhänger*innen mit der Rebellion gegen Europa intensiv aufwiegeln.

Der Ruf nach einem Austritt aus der EU ist noch nicht wirklich sexy und bisher erlauben es sich nur politische Randkräfte, ihn auszusprechen. Die Annehmlichkeiten der europäischen Finanztöpfe überwiegen. Auf der zivilen und kulturellen Ebene wird das Verhältnis zu Europa jedoch in sinnlose Nebenthemen und Belanglosigkeiten zerlegt. Die halbe Slowakei zieht die Handbremse an und zögert zudem auch nicht, nach einem abrupten Stopp den großen historischen Rückwärtsgang einzulegen.

Kandidat*innen für die Europawahlen betonten, dass sie ihr Heimatland und einige sogar ihre Heimatregionen in Brüssel vertreten wollen. Wie mythische Ritter, so sagen sie, werden sie den Kampf gegen eine anonyme europäische Macht aufnehmen, die angeblich Nationen, Kulturen und Religionen vom Angesicht der Erde tilgen will.

Das ist die Mentalität von zufälligen Gästen, Fremden oder Zugewanderten, die an einen Ort gekommen sind, an dem sie eigentlich nicht sein wollen. Sie erwarten großzügigen Proviant für die Reise, aber übernachten und feiern wollen sie bei sich zu Hause. Wenn sie zufällig im großen europäischen Garten auf andere treffen, führen sie banale Debatten, weil ihr „Haus und Hof“ woanders ist.

Und bei außerordentlich ernsten Anlässen (wie etwa der russischen Aggression gegen die Ukraine) empfinden sie keineswegs eine natürliche Loyalität gegenüber einem von außen bedrohten gemeinsamen Haus. Sie würden es sich sogar überlegen, ob sie den Dieben, die hinter dem Zaun herumschleichen, nicht das Tor öffnen oder vielleicht gleich ganz mit den bösen Räubern zusammen abhauen. Noch größere Undankbarkeit gegenüber dem Westen, gegenüber der Geschichte und gegenüber dem eigenen Wohlergehen, lässt sich wohl kaum finden.

Den Identitätssuchenden entgegenkommen

Das große Liebäugeln der sozialdemokratischen Smer von Premier Robert Fico mit den nationalkonservativen Kräften nach den Wahlen ist ein Skandal. Das ist nicht mehr nur ein rhetorischer Ausrutscher oder eine kleine Übertreibung. Jetzt marschieren Politiker*innen in Richtung Europaparlament, die tatsächlich anti-europäisch eingestellt sind. Während fünf oder sechs solcher Abgeordneter in den Fraktionen der großen Länder nicht weiter ins Gewicht fallen und kaum Beachtung finden, sind solche fünf oder sechs im Fall der Slowakei fast die Hälfte der Europaabgeordneten des Landes.

Die Smer-Partei erzählt bereits das Märchen, dass die europäischen Sozialisten sie in ihren Schoß zurückholen wollen. In Ordnung, Pragmatismus (sogar sozialistischer) ist ein starker Motivator, und so ist also alles möglich. Aber wie schlimm müsste es denn auf das sozialistische Zelt regnen, dass die sozialistische Fraktion im EU-Parlament anfängt, sich die Löcher ausgerechnet durch den Extremisten Ľuboš Blaha [ein linksnationalistischer Politiker von Ficos Partei Smer-SD und derzeit einer der Sprecher des slowakischen Nationalrats, Anm. d. Red.] und seine Leute flicken zu lassen?

Wenn die betreffenden Politiker*innen dann eine Kehrtwende hinlegen, sind ihre Anhänger*innen schnell mächtig enttäuscht. Das geht bis zum Irrsinn. Das ist nur eine weitere Art und Weise, wie die Desillusionierung einer großen Gruppe slowakischer Wählerinnen und Wähler vergrößert wird. Wer schafft es, ihnen klarzumachen, dass sie an dieser Art von Enttäuschung selbst schuld sind?

Die von pro-europäischem Denken genervten Wähler*innen haben ein wenig Trost verdient. An sie richtet sich – um den geschickten Begriff von Francis Fukuyama zu verwenden – die Politik der Ressentiments. Die großen europäischen Werte können seiner Meinung nach nur die Eliten genießen. Für den Rest ist Demütigung und Scheitern reserviert.

Dieser Rest erwartet eine Erneuerung der Identität. Diese Menschen wollen zu einem größeren Kreis von Nationen, Ethnien und Lebenserfahrungen gehören, aber das hat nichts mit der EU und Brüssel zu tun. Sie hören von der Solidarität mit Minderheiten aller Art und glauben, dass sie selbst aufgrund ihrer sozioökonomischen Situation die am meisten vergessene Minderheit sind. Sie werden über neue Formen der Ungerechtigkeit belehrt, erleben aber selbst die Ungerechtigkeit der alten Art. Und die ist kein bisschen angenehmer.

Aufgrund dieser Enttäuschungen sind sie die idealen Opfer von Populist*innen und politischen Manipulator*innen. Sie geben ihnen ihre Stimmen und ihren Verstand, und was sie am Ende davon haben, ist: nichts. Die antiliberale Hysterie hat noch nie jemandem etwas gebracht, denn ihre politischen Vertreter*innen wollen gar nichts Gutes aufbauen, sondern einzig und allein neue Möglichkeiten der Einflussnahme und der Bereicherung schaffen und weitere machtökonomische Strukturen im Stil eines Viktor Orbán errichten. Dem Beispiel Donald Trumps folgend gibt es für ihre Anhänger haufenweise Wut und ein schickes Basecap als Bonusgeschenk.

Die pro-europäischen Politikerinnen und Politiker haben diesen Schlamassel bereits bemerkt und darauf reagiert. Schon im Präsidentschaftswahlkampf hat Ivan Korčok das Thema neuer Formen von Patriotismus angesprochen. Die Partei Progressive Slowakei, mit dem eher der Mitte zuzuordnenden Ľudovít Ódor an der Spitze, wollen nach ihrem Sieg bei den Europawahlen fest auf dem Boden der Tatsachen bleiben und versprechen, volksnah und offen für neue Wählergruppen zu sein – zum Beispiel für solche mit einem erhöhten Identitätsbedürfnis.

Die Wahlerwartungen der Slowakinnen und Slowaken werden nicht von heute auf morgen edel oder 100 Prozent europäisch sein. So eine ideale Welt können nur die Kinder in den Kindergärten malen. Jedoch kann wohl ein erhöhtes Maß an Empathie gegenüber „vergessenen“ Wähler*innen nicht schaden. Und sei es nur wegen dieses exquisiten Gefühls der Schadenfreude, das Demagog*innen und lügende Politiker*innen nervös macht. Einmal in Zukunft werden sie verlieren.

Perspectives_Logo Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

Das könnte auch von Interesse sein

Failed to retrieve recommended articles. Please try again.

Empfehlungen der Redaktion

Failed to retrieve articles. Please try again.

Meistgelesen

Failed to retrieve articles. Please try again.