The Book of Veles  Dokumentation einer Stadt, die es nicht gibt

„Marina, die 2016 mehrere Fake-News-Seiten betrieb“ | Veles (Nordmazedonien), 2020
„Marina, die 2016 mehrere Fake-News-Seiten betrieb“ | Veles (Nordmazedonien), 2020 Foto: © Jonas Bendiksen | Magnum Photos

Der Fotojournalist Jonas Bendiksen reiste in die nordmazedonische Kleinstadt Veles, berüchtigt für Trollfarmen, die 2016 Einfluss auf die US-Präsidentenwahl genommen hatten. In seiner Dokumentation erschuf Bendiksen eine Wirklichkeit, die nicht existiert, und war selbst davon überrascht.

Als historisch erste (und bis heute erhaltene) Fotografie überhaupt gilt der Blick aus dem Fenster, der 1826 von dem Franzosen Joseph Nicéphore Niepcé aufgenommen wurde. Wir brauchen nicht ins Detail zu gehen, denn für die Zwecke dieses Textes ist nur wichtig, dass die Fotografie als Medium von Anfang an die Wirklichkeit abgebildet hat.

Dies gilt insbesondere für den Fotojournalismus, der sich nach dem Ersten Weltkrieg mit der Einführung der kleinen und wendigen Leica-Kamera zu entwickeln begann. Erst zu diesem Zeitpunkt löste sich die Fotografie endgültig von ihrem „älteren Bruder“, der Malerei, welche sie fälschlicherweise als vernichtende Konkurrentin betrachtet hatte. Die Entwicklung zeigte jedoch, dass beide Medien weiterhin parallel nebeneinander existieren.

Vom Abbilden der Wirklichkeit bis hin zu ihrer originalgetreuen Erschaffung

Beim Fotojournalismus müssen die Betrachter*innen darauf vertrauen, dass das, was sie auf dem Bild sehen, tatsächlich passiert ist. Alles andere, die Qualität des Bildes oder die Handschrift des Autors, ist zweitrangig. Und genau diese elementare Voraussetzung des Vertrauens hat der norwegische Fotograf Jonas Bendiksen (45) bewusst in Frage gestellt. Seine Veröffentlichung The Book of Veles über eine nordmazedonische Stadt, die es so nie gegeben hat, ist bahnbrechend – und verstörend.

Als Mitglied, ja sogar ehemaliger Präsident der Fotoagentur Magnum, die von Legenden wie Robert Capa und Henri Cartier-Bresson gegründet wurde, stellte Bendiksen nun den Grundkanon des Fotojournalismus auf den Kopf. Er war der erste, der die Realität nicht nur abbildete, sondern sie bewusst und manipulativ schuf, was ihm mit Hilfe modernster Software und künstlicher Intelligenz (KI) gelang. Nach der Veröffentlichung des Bildbandes fiel niemandem etwas Verdächtiges auf, weder den Betrachtern, noch seinen sonst so kritischen Kollegen oder den Organisatoren des Festivals Visa pour l'Image im französischen Perpignan.

Bendiksen hatte ein ganz einfaches Vorbild. Er war frustriert über die vielen Lügen und Fake-News, die den Sieg von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen 2016 begleiteten. Er suchte nach einem Weg, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, und erfuhr so von der unscheinbaren nordmazedonischen Stadt Veles – einer Stadt, die seit dem Ende des Sozialismus, das mit einem Niedergang der Industrie einherging, zusehends verfiel. Das allein wäre noch kein ausreichendes Motiv für das Projekt gewesen, aber Veles war der Sitz berüchtigter Trollfarmen. Arbeitslose und junge Computer-Nerds verdienten Geld, indem sie in „the middle of nowhere“ für Trump agierten.

Das war bereits eine dankbare Idee, aber noch war selbst das nicht genug. Bendiksen fand dann heraus, dass Veles auch eine altslawische Gottheit ist, die für Täuschung, Unnahbarkeit und Verfälschung der Realität steht.

Der Fotograf stieß in der Folge auch darauf, dass im nordmazedonischen Veles vermeintlich antike slawische Texte, das so genannte Buch von Veles, entdeckt worden waren. Diese haben sich jedoch im Laufe der Zeit als Fälschung erwiesen. Das angeblich uralte Manuskript wurde 1919 von Fyodor Izenbek, einem russischen Armeeoffizier, auf verbrannten Holztafeln gefunden. Es dauerte Jahre der Entschlüsselung, bis der russische Wissenschaftler Yuri Mirolyubov den Code angeblich endlich geknackt hatte. Er behauptete, er habe entdeckt, dass es sich um eine epische Erzählung über die frühen Slawen und den Gott Veles selbst handelt. Heute sind die meisten Historiker und Sprachwissenschaftler jedoch zu dem Schluss gekommen, dass das gesamte Buch eine Fälschung von Izenbek und Mirolyubov war.
 

Über Avatare auf dem Balkan

Bendiksen ging dann genau andersherum vor als bei seinen früheren Arbeiten. Sein Buch Satellites (2006) ist beispielsweise das Resultat zahlreicher Reportagereisen in den postsowjetischen Raum, wo er geduldig – und ohne jegliche Manipulation – das Leben der Menschen in den anerkannten oder nicht anerkannten Republiken aufzeichnete, die sich danach sehnten, vom Imperium unabhängig zu werden: Von Transnistrien im Westen bis zum jüdischen Birobidschan im Fernen Osten.

Veles ist das gegenteilige Konzept. Bendiksen hatte von Anfang an geplant, nur kurz dorthin zu reisen (letzten Endes war er zweimal dort) und sich lediglich auf industrielle oder urbane Landschaften ohne Menschen zu konzentrieren. Die beeindruckende Szenerie, die er von dort mitbrachte, diente ihm als kreative Grundlage für seine weitere Arbeit.

Während der Corona-Pandemie saß der Fotograf viele Monate lang – wie die Trolle von Veles – an seinem Computer und ergänzte die „tote Landschaft“ um lebende Kreaturen: Menschen, aber auch Tiere, insbesondere Bären und Vögel. So entstand eine Wirklichkeit, die gar nicht exisitiert.
Was aber hat er genau gemacht? Seinen eigenen Worten zufolge eignete er sich als „dummer Amateur“ aus im Internet verfügbaren Quellen selbst an, wie man Software zur Erstellung von Avataren (digitalen Abbildern von Lebewesen) und 3D-Modellen nutzt, wie sie zum Beispiel in Computerspielen verwendet werden. Bendiksen war damit in der Lage, sie so zu modifizieren und sie in seine eigenen menschenleeren Szenerien einzufügen, dass niemand, auch nicht die größten Experten, das Ergebnis als manipulierte Realität erkennen konnten.

Und nicht nur das. Das Buch enthält zudem einen glaubwürdigen Essay über Veles, der ausschließlich von künstlicher Intelligenz geschaffen wurde. Bendiksen musste als Mensch kein einziges seiner Wörter auf der Tastatur eingeben.

Der Effekt ist verblüffend. The Book of Veles erfüllt gleichzeitig zwei Charakteristiken, die sich bis vor kurzem gegenseitig ausschlossen. Einerseits wirkt es absolut authentisch, andererseits bildet es eine Wirklichkeit ab, die es nie gegeben hat.

Wird das untergegangene Vertrauen in den Fotojournalismus wiederhergestellt?

Aber das ist nur ein Teil der Geschichte. Als Autor einer erfolgreichen Publikation wurde Bendiksen von immer stärkeren Gewissensbissen geplagt. Paradoxerweise nicht aus Mangel an Preisen, denn sein Buch wurde sowohl von der Fachkritik als auch von der Öffentlichkeit als wunderbares Werk aufgenommen. Im Gegenteil, je besser die Kritiken waren, die er las, desto mehr wurde ihm bewusst, dass er eine imaginäre rote Linie in unerforschtes Gebiet überschritten hatte. Ihm ging auf, dass er gerade die Grundlagen des Fotojournalismus in Frage gestellt und niemand die Täuschungen durchschaut hatte.

Letzten Endes hat sich der Fotograf aber dann selbst enttarnt. Nicht lange nach der Präsentation in Perpignan erstellte er einen gefälschten Twitter-Account für 40 Dollar. Dort kritisierte eine schöne junge Frau namens Chloe Miskin seine Arbeit als „einen großen Witz“, und zwar deshalb, weil der Autor Einheimischen angeblich fünfzig Dollar bezahlt habe, damit sie für seine Bildreportage posierten. Abgesehen von der witzigen Tatsache, dass er offensichtlich weder Bären noch Vögel bestechen konnte, war er da aber erst auf halbem Weg, sich zu entlarven. Der Fotograf hatte aber darauf gehofft, dass jemand anderes ihn entlarven würde.

Bendiksen beobachtete hoffnungsvoll, wie sich immer mehr Kritiker*innen auf sein Buch einschossen. Aber sie waren auf dem Holzweg, denn sie versuchten, in Veles Leute zu finden, die sich gegen Bezahlung von ihm fotografieren lassen hatten.

Alles beschleunigte sich in dem Moment, als sie bemerkten, dass eine der Followerinnen der „Kritikerin“ Chloe Miskin genau die gleiche Kleidung trug wie eine der Figuren auf den Fotos. Der Autor sagt, dass ihm erst dann ein Stein vom Herzen fiel.
 
Das Ergebnis dieses Falles ist ein Doppeltes. Einerseits ist es einem exzellenten Fotografen mit einer großen Vision gelungen, Täuschungen überzeugend als Wirklichkeit auszugeben, und das, obwohl er nur mittelmäßige IT-Kenntnisse hat. Vor allem aber hat er dann selbst darauf aufmerksam gemacht und damit eine notwendige und wichtige Debatte angestoßen. Dies gereicht ihm zur Ehre.

Andererseits hat sein Bericht „von hinter der roten Linie“ eine äußerst beunruhigende Frage aufgeworfen. Wie sollen wir fortan glauben, dass das, was uns der Fotojournalismus zeigt, wirklich passiert ist?
 

Jonas Bendiksen: „The Book of Veles“ (2021 | 146 Seiten | Gost Books) The Book of Veles © Gost Books

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