Kult des persönlichen Wachstums  Sei du selbst!

Sei du selbst! Foto: Justin Campbell via unsplash | CC0 1.0

Der Soziologe und Schriftsteller Stanislav Biler nimmt sich das Paradigma des persönlichen Wachstums vor, das sich wie ein roter Faden durch den öffentlichen Raum schlängelt. Immer besser, schneller, stärker und effektiver, und das ununterbrochen. Warum kann der Mensch nicht einfach nur sein?

Man wird in eine Welt hinein geboren, die es bereits gibt, in den Kreis von Menschen, die einem einige Dutzend Jahre voraus sind. In diesem Moment beginnt die Konditionierung zur Verantwortungsübernahme für etwas, was man überhaupt nicht versteht, angefangen bei sich selbst. Damit man es schafft, muss man wachsen. Sich entwickeln. An sich arbeiten. Es reicht nicht, nur zu atmen, allenfalls achtsam atmen und jeden Moment bewusst erleben, in einem Job, der keinen Sinn macht, als hätte die Tatsache, dass man auf der Arbeit ist, tatsächlich einen Sinn. Man muss für alles Verantwortung tragen und kann gleichzeitig nichts ändern. Nichts, außer sich selbst. Man kann eben nicht einfach nur sein, man muss besser, schneller, stärker und effektiver sein.

Die Verantwortung für die Welt übernimmt man, indem man sich absolut anpasst und jedes Problem als das eigene Scheitern begreift. Persönlich verantwortlich zu sein bedeutet, nichts von dem, was um einen passiert, in Frage zu stellen. Das wäre kindisch. Eigenverantwortung heißt Unterwerfung und Kapitulation, das Eingeständnis, dass es auf der Welt nichts gibt, was man wirklich beeinflussen kann. Außer sich selbst.

Unerreichbare Perfektion

Eigenverantwortung ist ein Begriff, der in den meisten Fällen eine reine Fiktion ist. Und da es sich um eine Fiktion handelt, kann man sie mit beliebigem Inhalt füllen. Wenn man scheitert, liegt es daran, dass man zu wenig an sich arbeitet, wobei man immer zu wenig an sich arbeitet, egal, wie sehr man an sich arbeitet. Denn der Zielzustand heißt unerreichbare Perfektion, und so ist der jeweils aktuelle Zustand immer und ausnahmslos gezeichnet von Unvollkommenheit, Unzulänglichkeit und Versagen.

Wer gewinnt, geht leer aus. Darin sind sich alle gleich.

Persönliches Scheitern ist so schwerwiegend und beängstigend, dass es von dem Maßstab ablenkt, mit dem hier gemessen wird. Woran scheitert man denn genau? Und wenn wir alle ständig scheitern, ist es nicht viel mehr das Scheitern der Scheiterkriterien? Liegt der Fehler womöglich ganz woanders, während wir eigentlich ganz in Ordnung sind? Wenn das Prinzip dieser Welt Künstlichkeit und eine gewisse Verlogenheit ist, dann kann man sich daran nur auf dieselbe Art und Weise anpassen: wachsen und sich entwickeln anhand von Werten und Kriterien, die völlig bedeutungslos sind. Erwachsenwerden heißt sich selbst wegzuwerfen und stattdessen einen Fake zu schaffen, der sich an die völlig zufällige Konstruktion der nahen und entfernteren Umgebung anpasst.

Nach einigen Jahrzehnten ausgefeilter Dekonstruktion und Postmoderne sind wir wie durch ein Wunder in eine Situation geraten, in der wir – wohl wissend, dass alles um uns herum eine raffiniert konstruierte Fiktion mit realen Folgen ist – diese Fiktion durch das eigene Handeln am Laufen halten, und so lässt sich an ihr absolut nichts ändern. Die einzige Möglichkeit ist, sich anzupassen und so zu schuften, um in diesem Rattenrennen entweder zu gewinnen oder nicht gleich als Erste*r zu krepieren. Wer gewinnt, geht leer aus. Darin sind sich alle gleich.

Zunächst also die Welt

Eine physische Realität existiert natürlich. Eine physische Realität das sind zum Beispiel die Erde, Pflanzen und Tiere inklusive Menschen oder die voranschreitende Destruktion des Klimas – etwas, was in den letzten Jahren durch bloßes Auge beobachtet oder mit bloßen Händen angefasst werden kann. Sie kann sogar eingeatmet oder getrunken werden. Nur eins geht nicht: sie nicht wahrzunehmen. Dennoch basiert auf diesem Fundament eine Fiktion, die die Realität dermaßen verbiegt, dass es aussieht, als spielte sie gar keine Rolle.

Wir haben es geschafft, ein dermaßen einzigartiges Individuum zu kreieren, das in seiner Zerbrechlichkeit absolut wehrlos ist.

Denn an erster Stelle steht die Fiktion des Wirtschaftswachstums, der Entwicklung und Effektivität sowie andere elementare Phänomene des heutigen Kapitalismus, die die Biosphäre unseres Planeten genauso zerstört wie jeden von uns. Wenn man nicht mithalten kann, ist man persönlich gescheitert. Wenn man etwas nicht ganz richtig findet, ist man persönlich gescheitert. Wenn du diese Zeilen liest, ist es ein Beweis für dein persönliches Scheitern. Denn stattdessen solltest du besser mit Python programmieren lernen oder wenigstens die Bauchmuskeln trainieren. Denn je fester sie werden, desto länger kannst du vor dem Rechner sitzen.

Statt die Welt zu verbessern, wollen wir lieber uns verbessern. Wir haben es geschafft, ein dermaßen einzigartiges Individuum zu kreieren, das in seiner Zerbrechlichkeit absolut wehrlos ist. Aus einem sozialen Wesen ein einsames Individuum zu schaffen, das für alles persönlich Verantwortung trägt, ist vielleicht der größte Irrsinn unserer Zivilisation. Wenn du nun zusammenbrichst oder dich nach Atem ringend auf dem Boden krümmst – herzlichen Glückwunsch, du hast die absolute Meisterschaft erreicht. Du hast dich dermaßen angepasst, dass von dir selbst gar nichts übrig geblieben ist. Nur noch drauftreten und wegwerfen.

Schluss mit persönlicher Entwicklung

Da die einzige heilige Essenz dieser Welt die Fiktion ist sowie der Glaube, dass man nichts ändern kann, wurde mit der Zeit ein ganzer Apparat aufgebaut, der das fehlerhafte Individuum, also uns alle, reparieren soll. Der sogenannte normale Mensch ist eine gänzlich fiktive, brutale und unmenschliche Gestalt, die deswegen auch ständig zusammenbricht und nach immer neuen Reparaturen verlangt, und das bis zum Schluss, bis zum endgültigen Zusammenbruch – dem Tod. Übrigens ist auch der Tod eine Art Scheitern. Ein persönliches Scheitern in der Konfrontation mit einer Krankheit oder einem Dreitonner.

Auch wenn ich mit der These einverstanden bin, dass der Mensch etwas ist, was erfunden werden muss, suche ich vergeblich nach Begründungen, warum gerade auf diese Art. Warum wurde aus der Reihe unzähliger Möglichkeiten ausgerechnet ein überarbeiteter, geistloser, einsamer und ausgebrannter Roboter zum Ideal? Doch eben diese Form taugt am besten für das ganze Getriebe, das für sein ewiges Wachstum ein ständiges Wachstum von uns allen braucht, jedoch von jedem einzeln.

Das Problem liegt darin, dass der Mensch nicht einfach er selbst ist. Der Mensch muss erst einmal konzipiert werden.

Wenn man der These zustimmt, dass ein endloses Wachstum auf einem endlichen Planeten unmöglich ist, dann kann man das Wachstum gleich bei sich selbst einstellen. Hör auf zu wachsen! Schluss mit dem persönlichen Wachstum. Schluss mit dem Arbeiten. Jedoch auch dieser persönliche und koordinierte Kollaps erfordert viel Arbeit. Man muss auf all die Tücken achten, die so selbstverständlich zum Bestandteil unserer Welt geworden sind, dass man sie nicht einmal mehr wahrnimmt.

Sei du selbst!

Ein Hund oder ein Hamster beschäftigt sich vermutlich nicht mit der Frage, wie man sich selbst treu bleibt. Der Hamster oder der Hund haben ja auch keine Wahl. Und vermutlich haben sie auch kein Bedürfnis, an sich selbst zu arbeiten, zu wachsen, besser zu werden, ein besserer Hund oder ein besserer Hamster. Aber vielleicht ist es nur meine menschliche Arroganz, die dies voraussetzt. Letztlich sind wir Menschen es, die sie nicht in Ruhe lassen, zu sein und zu tun, was und wie sie es wollen. Oder eben gar nicht zu sein.

Der Mensch kann nicht einfach er selbst sein. Das Problem liegt darin, dass der Mensch nicht einfach er selbst ist. Der Mensch muss erst einmal konzipiert werden. Egal, ob der Imperativ „Sei du selbst!“ von der Kultur, der sogenannten Familie oder von wem auch immer kommt, dahinter steckt immer die Annahme, dass jemand weiß, wie wir sein sollen, denn so, wie wir jetzt sind, sind wir unzureichend.

Wenn du depressiv bist, will man dich mit dem zitierten Satz vermutlich nicht dazu aufmuntern, noch depressiver, neurotischer oder verrückter zu werden. Du selbst kannst du nur dann sein, wenn du damit niemanden belästigst. Du sollst selbst lustig und angenehm sein, weder Probleme schaffen, noch Bedürfnisse formulieren. Und vor allem sollst du nichts ändern wollen, außer dich selbst.

In der Arbeitswelt ist es vermutlich noch schlimmer. Kaum jemand wird dich ermutigen, du selbst zu sein, indem du unter dem Tisch schläfst oder stets zu spät kommst. Niemand möchte, dass du dich widersetzt, protestierst oder dich mit Kolleg*innen und Vorgesetzten anlegst. Du selbst kannst du nur sein, indem du etwas Hübsches anziehst oder dir die Haare machen lässt, damit sich deine Kunden an deinem Aussehen erfreuen, das gar nicht so richtig deines ist. Du selbst bist du am ehesten nach zwölf Stunden schlecht bezahlter Arbeit, die du jederzeit verlieren kannst, um so vor neue Herausforderungen und Möglichkeiten gestellt zu werden, und du selbst zu sein in deiner völligen Verzweiflung.

Entwickle das eigene Potenzial!

Ähnlich verhält es sich mit dem Potenzial. Kaum jemand wird dich in der Entfaltung deiner Destruktivität unterstützen, auch wenn dies deine stärkste Seite ist. Und wenn du das Potenzial hast, alle zum Weinen zu bringen, wird sich auch niemand darum scheren. Dein Potenzial ist für andere uninteressant.

Spricht man von einem Potenzial, das weiter entwickelt werden soll, meint man damit einige ganz konkrete Versionen davon. Allesamt haben sie mit der Arbeit zu tun. Damit, wie du schneller und effektiver schuften und dich weniger beklagen sollst. Mit Potenzial meint man das Potenzial der vollkommenen Verwendbarkeit auf dem Arbeitsmarkt.

Falls es dir passiert, dass der Arbeitsmarkt dich nicht haben will oder ausspuckt, nicht annimmt oder dir zu wenig Geld gibt, ist es nur ein Beweis dafür, dass du dein Potenzial in die falsche Richtung entfaltest. Denn nicht jedes Potenzial sollte entfaltet werden, definitiv nicht ein solches, das du selbst gut findest.

Sich selbst zu vertrauen ist ein Betrug. Es ist vielleicht die hinterhältigste List. Keine*r vertraut sich selbst.

Der Zauber deines Potenzials besteht darin, dass es dir gar nicht gehört und nichts mit dir gemein hat. Es ist ein Potenzial, das man verkaufen kann und dessen Wert von den wirtschaftlichen Imperativen der Zeit abhängt. Von denselben, die bestimmen, dass es am profitabelsten ist, den Planeten in Schutt und Asche zu legen.

Daher entwickelst du nie dein eigenes Potenzial, sondern nur das Potenzial deiner selbst als amorphe Ware, die das Wirtschaftswachstum fördern soll. Dein Potenzial ist nur dann interessant, wenn es problemlos mit dem Potenzial anderer Menschen austauschbar ist.

Das Heraufbeschwören von Persönlichkeit und unverwechselbarer Individualität soll nur deine reale Bedeutungslosigkeit verschleiern und dir die Einsicht unmöglich machen, dass du als einsamer Mensch keine Rolle spielst und keine Gefahr darstellst. Darin liegt dein größtes Potenzial. Im Entfalten deines Verletzlichkeitspotenzials.

Vertraue dir selbst!

Sich selbst zu vertrauen ist ein Betrug. Es ist vielleicht die hinterhältigste List. Keine*r vertraut sich selbst. Es gibt nichts Verrückteres, als wirklich nur sich selbst zu vertrauen. Es ist nur eine Krücke, die jedem Menschen erlaubt, die Welt so zu sehen, als wäre alles seine eigene Idee. Man kann nicht sich selbst vertrauen, weil man an sich gar nicht existiert. In Bezug auf das Jahrhundert, in dem du diese Zeilen liest, glaubst du an die Werte des Landes und der Zeit, in der du lebst. Wenn du glaubst, dass dies eine Repräsentation deiner selbst ist, stellst du die Welt auf den Kopf. Aber das spielt überhaupt keine Rolle. Du glaubst nicht an dich selbst, sondern an die tief verinnerlichten Normen und die Erziehung deiner Eltern, die in einer Soße aus persönlichen Dispositionen, Traumata und gestörten neuronalen Verbindungen schwimmen.

All diese Werte, die dir helfen sollen, du selbst zu sein, werden seltsamerweise seit Jahrzehnten auf brillante Weise zu Geld gemacht. Und sie alle passen zufällig perfekt in ein Wirtschaftssystem, das von jedem verlangt, heute noch härter zu arbeiten als gestern.

Du wirst vergeblich nach überteuerten Seminaren, Konferenzen, Webinaren oder E-Books suchen, in denen du lernst, nichts zu tun, nicht zu wachsen und mit Wenigem zufrieden zu sein. Du kannst eben nur in die eine Richtung wachsen und das ist nicht die Richtung der Subversion oder der Alltagsrevolte.

Die immer populäreren Selbstoptimierungsbücher und -kurse sind toxischer und gefährlicher als Heroin. Denn das funktioniert wenigstens wirklich. Handbücher zu persönlicher Veränderung und Wachstum bieten Anleitungen, wie du dich selbst schnell und einfach vernichten und an die Anforderungen der Welt anpassen kannst. In ihnen wird behauptet, das Problem läge nicht draußen, sondern in dir selbst, und was in deinem Inneren liegt, liegt in deiner Macht.

Der siegreiche Glaube an die Rationalität

Die Welt kollabiert unter der Last des Rationalitätsglaubens, der unsere Möglichkeiten übersteigt. Dennoch kann man in unzähligen Anleitungen zum kritischen Denken blättern, das uns lehren soll, nach flexiblen Gründen zu suchen, warum die Welt um uns herum in Ordnung sei. Mit kritisch wird hier immer eingeschränkt kritisch gemeint. Gerade so, um damit bei einer Party zu punkten oder in den sozialen Medien, aber nicht, um für Aufregung zu sorgen. Kleine Wahrheiten, die nicht wehtun. Hinzu kommen ein gesunder Lebensstil und die perfekte Selbstorganisation: Bringe dir selbst eine harte Disziplin bei, wie es kein Arbeitslager geschafft hätte. Prokrastiniere nicht, haue ab den frühsten Morgenstunden mit deinem Hammer auf den Stein.

Jedes Lob ist ein Krebsgeschwür, das aus dir eine bloße Simulation der Existenz macht.

Die Selbstentwicklung hat auch eine spirituelle Ebene in Form von Eso-Literatur und Eso-Kursen. Die sozialen Netzwerke sind voll von Priesterinnen, Göttinnen und achtsamen – nicht nur – Frauen, die eine Abkürzung in die Welt des inneren Reichtums anbieten. Sie bieten verschiedene vertrackte Anleitungen, wie man die eigene Natürlichkeit, Sexualität und das Ego in Einklang mit dem bringt, was in der „spirituellen Welt“ am wichtigsten ist: dem Geld.

Der Bogen vom Beginn der Moderne bis zur Gegenwart wird so am weitesten gespannt. Das Geld wurde aus verschiedenen Variationen von Gott und Spiritualität erschaffen, und es taucht dann auf, wenn der Mensch mit sich selbst in Einklang ist und in einen Zustand der Fülle kommt, dann beginnt er in Geld zu schwimmen. Kommt man allerdings aus armen Verhältnissen, weint die Seele, ist die Göttin wehmütig, ist der Gott traurig.

Diese Eso-Geschäftsfrauen geben die Lehre weiter, dass man seinen Seelenfrieden durch den Missbrauch anderer erreicht. Erschöpften Wesen, zumeist Frauen, erzählen sie, dass sie Frieden erlangen können, indem sie ihren Kurs kaufen und dadurch herausfinden, wie man die anderen aussaugt. Dabei sind alle Produkte der gleichen Verzweiflung, die alle gegen alle ausspielt. Die Grundlage ist, dabei zu lächeln.

Widerstand ist fast unmöglich, aber dennoch nötig. Entwickele nur das in dir, was völlig nutzlos ist. Sobald sich eine deiner Fähigkeiten zu Geld machen lässt, bist du auf dem Irrweg. Dann droht dir das Scheitern, Scheitern in dem Sinne, dass du damit Erfolg haben könntest. Wenn du etwas verschieben kannst, verschiebe es. Und dann noch einmal. Nur was nicht getan wird, kann das weitere Wachstum verhindern. Jedes Lob ist ein Krebsgeschwür, das aus dir eine bloße Simulation der Existenz macht. Die einzig nachhaltige Entwicklung bietet die Entropie, die Freude am eigenen Verfall. Mehr dazu in meinem Webinar oder in meinem E-Book.

Das könnte auch von Interesse sein

Failed to retrieve recommended articles. Please try again.

Empfehlungen der Redaktion

Failed to retrieve articles. Please try again.

Meistgelesen

Failed to retrieve articles. Please try again.