Film „Nationalstraße“  Ist ein Schläger der neue tschechische Nationalheld?

Ausschnitt aus dem Filmplakat Nationalstraße (Národní třída)
Ausschnitt aus dem Filmplakat von Národní třída Plakat: © Falcon a.s.

Der Film Nationalstraße (Národní třída) ist in den tschechischen Kinos angelaufen. Er ist eine Adaption der gleichnamigen Novelle von Jaroslav Rudiš. Ist der Protagonist Vandam der neue Nationalheld, ein neuer Švejk?

Zweifellos ist Jaroslav Rudiš in Deutschland derzeit der berühmteste zeitgenössische tschechische Autor. In Rudišs Geschichten wimmelt es nur so von deutschen Figuren und Themen, oft spielen sie sich auch in Deutschland ab. Auch das bisherige Schaffen des Regisseurs Štěpán Altrichter, bekannt dank seines Debütfilms Schmitke, zeichnet sich durch eine Vorliebe für deutsch-tschechische Themen aus. Auch wenn Nationalstraße diese zwar – wenn überhaupt – nur am Rande streift, war es wohl auch dieser Umstand, der zur Zusammenarbeit führte von Rudiš und Altrichter, der auch Co-Autor des Drehbuchs ist.

Der Protagonist von Nationalstraße ist Vandam (gespielt von Hynek Čermák). Seinen Spitznamen hat er, weil er gerne auf alten VHS-Kassetten Actionfilme mit dem gleichnamigen belgischen Schauspieler [Jean-Claude Van Damme] anschaut, Liegestützen macht wie dessen filmisches Alter Ego und sich ebenso gerne prügelt.

Vandam gehört zur sozialen Unterschicht. Er wohnt in der Prager Südstadt (Jižní město), einer berüchtigten Großwohnsiedlung am Stadtrand, geprägt durch ungepflegte Plattenbauten. Mit seiner phyischen Kraft und auf Grundlage der testosteronschwangeren Ratschläge, die ihm in der Kindheit sein Vater ans Herz gelegt hatte, versteht Vandam sich als eine Art Rächer des Unrechts. Das Gesetz interessiert ihn dabei nicht. Vandam hat sein ganz eigenes Weltbild – voller Werte, die er unter keinen Umständen verraten will.

Wie im Buch, ist Vandam auch in der Filmadaption ein romantisierter Grobian. Obwohl er im Prinzip eine gescheiterte Existenz ist, von seiner Familie verlassen und pleite, obwohl er säuft und eine Drogenvergangenheit hat, hat er durchaus auch sympathische Züge. So verabscheut er zutiefst Gewalt gegen Frauen. Diesen tritt er zwar nicht gerade galant gegenüber, jedoch immer respektvoll, manchmal sogar etwas schüchtern. Auf der anderen Seite äußert er sich mitunter rassistisch, hat eine Vorliebe für Nazisymbole und Beteuerungen vom Typ „Ich hab nix gegen Obdachlose“ widerlegt er durch sein Verhalten.

Das ewige Thema: Buch vs. Film

Literatur – vor allem erfolgreiche – für die audiovisuellen Medien zu adaptieren, ist jedes Mal heikel. Rudiš selbst gibt zu, dass ihn Theatermacher aus Brno dazu veranlassten, mit dem Schreiben zu beginnen. Diese planten nämlich aus der relativ kurzen Novelle, die im Wesentlichen aus einem Monolog Vandams besteht, ein Kammerspiel zu machen. Das steht tatsächlich noch bis heute auf dem Spielplan des Theaters Feste in Brno. Rudišs Text fließt wie ein angeschwollener Bach: Aus Vandam sprudeln „Weisheiten“, er hat seinen eigenen Wortschatz, seine Sprüche sind bei den Lesern Kult.

Die Filmemacher fanden zwei Lösungen, um die Vorträge des Protagonisten auf die Leinwand zu übertragen. Entweder erzählt Vandam statisch direkt in die Kamera in einer Talking Head Einstellung, oder er spricht mit Psycho, einem abgemagerten Junkie, der ihm den Sohn ersetzt. Vandam und Psycho sind konträre Figuren, sowohl physisch als auch im Geiste. Gerade ihre Beziehung zueinander ist sehr originell und komisch. Psycho kommt in der literarischen Vorlage nicht vor, aber diese Abweichung ist eindeutig gelungen und funktionell. Hätten die Autoren die Figur noch weiter entwickelt, hätte das sicher nicht geschadet.

Eine größere Rolle als im Buch wurde auch der Kellnerin Lucka zugedacht. Es sind ihre Probleme und ihre Beziehung zu Vandam, die den Hauptkonflikt der Geschichte ausmachen. Es gibt noch weitere Figuren, die im Film einen Plot vorantreiben, der im Buch fehlt. Sie erfüllen die Erwartungen, die wir als Zuschauer an eine filmische Handlung haben, aber leider leidet darunter Rudišs einzigartige Poetik.

Wenn Vandam jemanden verprügelt, der ihm nicht passt, wird das witzig inszeniert. Was diesen Szenen allerdings fehlt, ist Vandams Philosophie mit „Lektionen über das Leben“: Wenn er eine Nase zerschlägt, so sieht er darin einen bedeutenden Meilenstein im Leben des Opfers. Wie Vandam seinen Taten einen tieferen Sinn gibt, wo niemand sonst danach suchen würde, ist ein Hauptmotiv der Buchvorlage. Wer das Buch gelesen hat, kann bestätigen, dass das meiste davon im Film verloren gegangen ist oder nur angedeutet wird. Diese Andeutungen aber können die meisten Zuschauer des Films nicht entschlüsseln.

Eher Chuck Norris als Švejk

Nationalstraße 1989: Die Ereignisse der Samtenen Revolution betrafen Vandam unmittelbar. Sie haben ihm sogar einen Kultstatus verschafft. Fast ein wenig à la Cimrman [Jára Cimrman ist ein fiktives Universalgenie. Die Kunstfigur wurde 1966 erdacht und hat den Status eines „virtuellen“ tschechischen Nationalhelden. Anm.d.Red.]. In Vandams Fall ist es aber wohl eher ein Kult wie um Chuck Norris.

Gerade hinter der Frage, wie es denn nun damals auf der Nationalstraße mit Vandam tatsächlich war, ist Schlüssel der Geschichte verborgen. Zu ihrer Tragikomik und Härte, zu ihrem Geheimnis und zum Verlust der Illusionen. Im Film erfahren wir nicht allzu viel über die Revolution, einige kleinere Anspielungen laufen ins Leere. Aus der Reflexion über die historischen Ereignisse bleibt also eigentlich nur der attraktive Titel Nationalstraße und das gelungene Timing, mit dem der Film rechtzeitig kurz vor dem 30. Jahrestag im Kino anläuft.

Wenn man die Suche nach einer tieferen Bedeutung aufgibt und Vandams Taten auf der Nationalstraße im November 1989 nur im Hinblick auf ihre die erzählerische Funktion betrachtet, so haben die Filmmacher unnötigerweise zu früh die Pointe verraten. Diese wird dann auch in der Folge nur lasch reflektiert, anstatt das Thema auf einen Wendepunkt zuzuspitzen. Anlass für eine stärkere Reflexion mit der Historie hätten Vandams Freunde geben können, die Stammgäste der Kneipe. Sie erinnern auffällig an die Figurenkonstellation im Film Big Lebowski der Coen-Brüder: Vandam als Dude Lebowski, Psycho als der stille Donny, der das Schlamassel anzieht und am Ende imme alles ausbadet, oder Mrazák, ein rauhes Großmaul à la Walter.

Der Vandam in uns

Vandam könnte eine Art agressiver Švejk des 21. Jahrhunderts sein. Es ist eine interessante Vorstellung, dass Vandam von Zeit zu Zeit auftauchen könnte, um sein Urteil über die Gesellschaft zu fällen. Er entzieht sich nämlich komplett den althergebrachten literarischen und filmischen Typen, die man in der tschechischen Kultur so häufig findet. Vandam ist nicht ironisch und es fehlt ihm der Selbsterhaltungstrieb. Er ist ein grober und unnachgiebiger, starrsinniger Mensch. Wenn wir eine Nation der Švejks sind, dann sind wir sicher auch eine Nation der Vandams. Theoretisch könnte Vandam gar als Vorbild dienen, um den tschechischen Komplex der Unfähigkeit zu direktem Handeln mildern.

Vandam enthüllt aber noch eine weitere unangenehme Seite unseres nationalen Charakters: Er schimpft auf Umstände und Politiker, die seine eigene soziale Schicht zu einem erheblichen Maß mithervorgebracht hat. Aber das thematisiert der Film nicht. Er ist einfach „nur“ ein schlauer Film mit guten Ideen. Die literarische Tiefe von Vandams Seele und Lebensgeschichte kann er allerdings nicht vermitteln.

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