Polyamorie & Wohnen  Nur ein paar zusätzliche Zahnbürsten im Bad?

Nur ein paar zusätzliche Zahnbürsten im Bad? - Polyamorie & Wohnen Foto © Magdaléna Šipka

Die Räume, die wir bewohnen, sind architektonisch entweder für Familien, Paare oder Singles konzipiert. Aber wie wohnt es sich darin, wenn man nicht monogam lebt? Wie spiegeln sich die verschiedenen Formen von Polyamorie im Wohnen wider? Aus eigenen Erfahrungen und Beobachtungen in ihrem direkten Umfeld beschreibt die Dichterin und Pädagogin Magdalena Šipka das polyamore Wohnen.

Die Räume, die wir bewohnen, werden uns in einer Art „Familienpackung“ serviert, ähnlich wie Margarine, Waschmittel oder Autos. Für den polyamoren Lebensentwurf passt dies in einigen Fällen (auch wenn die Wände hierbei etwas durchlässiger sind), doch meist braucht es mehr Räume oder zumindest eine engere Verbindung zwischen einzelnen Wohneinheiten. Eine ethische Nicht-Monogamie wächst nach und nach durch die aufgestellten Kulissen durch und zerstört auf natürliche Weise die vorgefertigten Schubladen. Sie macht so ein Träumen möglich und die Idee von einer etwas anderen Welt als jener der monogamen Zweierbeziehungen, von einer Welt, die zwar auf gegenseitiger Abhängigkeit basieren kann, aber nicht muss.

Interessant ist die Sichtweise, dass wir als Gesellschaft mehrheitlich erotische und sexuelle Beziehungen zwischen mehr als zwei Personen eher ablehnen, aber in puncto Wohnen deutlich toleranter sind. Denn zumindest in einer gewissen Phase unseres Lebens ist es durchaus üblich, sich den Wohnraum mit anderen zu teilen, wofür es im Deutschen den schönen Begriff „Wohngemeinschaft“ gibt. Doch es scheint ein Konsens zu herrschen, dass solche Gemeinschaftsverbindungen im Erwachsenenalter und mit der Eheschließung aufzulösen sind, damit wir uns dann ausschließlich auf Familie, Reproduktion und Erziehung der Nachkommen konzentrieren können.

Die Idee des geteilten Wohnraums oder des Gemeinschaftswohnens richtet sich gegen die individualistische Auffassung vom Wohnen.

Die Neigung zur Nicht-Monogamie kann, muss aber nicht mit dem Wunsch verbunden sein, diesen engen Familienrahmen zu durchbrechen und auch für die Gemeinschaft da zu sein. Denn ähnlich, wie die Idee von polyamoren Beziehungen die stereotypen Vorstellungen von der traditionellen monogamen Familie herausfordert, so richtet sich auch die Idee des geteilten Wohnraums gegen die individualistische Auffassung vom Wohnen.

Der Blickwinkel

Zuallererst möchte ich erklären, wie ich zu „polyamorem Wohnen“ recherchiert habe. Zum einen dank meiner eigenen Beziehungen: Etliche Wohnungen habe ich als Partnerin oder Liebhaberin besucht oder auch als „etwas mehr als eine Freundin, aber lass uns das bitte nicht näher definieren“. Meine Liebsten haben in den zehn Jahren, in denen ich in einer Dreierbeziehung lebe, versucht sich auf Experimente mit Polyamorie einzulassen oder sind gar polyamor geworden (zum Beispiel meine engsten Verwandten oder Freund*innen, die zuvor in strikt monogamen Beziehungen gelebt hatten). Als ich die Fotos auf meinem Telefon nach Wohnungen von polyamoren Menschen durchsuchte, stellte ich fest, dass die allermeisten davon polyamore Wohngemeinschaften sind.

Polyamorie & Wohnen Ich führte eine Reihe von Gesprächen über Polyamorie, aus denen dann sogar die Idee zu einem Dokumentarfilm entstanden ist, für den ich einen Großteil der Aufnahmen gemeinsam mit dem Regisseur Tomáš Tožička und seinem Team auch machen konnte. | Foto: © Magdaléna Šipka Zum anderen führte ich eine Reihe von Gesprächen über Polyamorie, aus denen dann sogar die Idee zu einem Dokumentarfilm entstanden ist, für den ich einen Großteil der Aufnahmen gemeinsam mit dem Regisseur Tomáš Tožička und seinem Team auch machen konnte. Doch leider gab es keine Förderung mehr für die Fertigstellung, dann kam die Pandemie und Tomáš begann in Deutschland zu arbeiten und stellte fest, dass er so zufrieden ist. Auch wenn der Dokumentarfilm nur ein Fragment bliebt, hatte ich durch die Dreharbeiten die Möglichkeit, viele Wohnungen von polyamor lebenden Menschen zu besuchen, denen ich sonst nicht begegnet wäre.

Weitere Quellen von Informationen sind halbzufällige Begegnungen, zum Beispiel mit unterschiedlichen Polyamoriker*innen in einem ehemals besetzten Haus in Berlin, wo ich während meines Forschungsstipendiums war, oder die polyamoren Beziehungen von Kolleg*innen. Irgendwo dazwischen, zwischen den Gruppen der engeren Freund*innen und den zufälligen Begegnungen gibt es noch polyamore Freund*innen aus sozialen Netzwerken, deren Wohnungssituation ich seit einiger Zeit beobachte. Und zu guter Letzt habe ich Informationen aus Gesprächen in diversen Selbsthilfegruppen zum Thema Polyamorie geschöpft, die wir seit Oktober 2022 im Institut Moderne Liebe anbieten (Institut Moderní láska).

Ich werde in diesem Text niemanden ausdrücklich nennen und verwende keine echten Namen. Bei allen Informationen, die ich aus Begegnungen, sozialen Netzwerken und Selbsthilfegruppen übernommen habe, wird ein hohes Maß an Anonymität gewährleistet, genauso bei Freund*innen, die mich explizit darum gebeten haben. Ähnlich bin ich auch mit dem Bildmaterial umgegangen. Zum Teil auch deswegen, weil ich mich frage, ob sich das polyamore Wohnen denn wirklich so sehr von anderen Formen des Zusammenlebens unterscheidet. Es sind eher unsichtbare Ranken, die in andere Wohnungen, an andere Tische und in andere Betten ragen als eine größere Anzahl an Zahnbürsten im Bad.

Ich konnte meinen Partner nicht davon überzeugen, ein Bild von unserem großen Bett zu machen, seine Privatsphäre ist ihm sehr wichtig.

Aber ich habe dennoch meine Freundin gebeten, eine Zahnbürste für alle ihre Partner*innen zu kaufen, um eine rituelle Aufnahme zu machen, das heißt das Symbolbild mit den vielen Zahnbürsten im Bad gibt es auch. Doch meinen Partner konnte ich nicht davon überzeugen, ein Bild von unserem großen Bett zu machen, seine Privatsphäre ist ihm sehr wichtig. Aber auf jeden Fall sind alle Geschichten in diesem Text frisch und unzensiert – versprochen.

Wunsch nach Offenheit und Sicherheit

Für diesen Text habe ich einige längere Gespräche mit polyamoren Menschen aus meiner Umgebung geführt. Einer sagte, er begreife Polyamorie als eine Art antisystemische Therapie, die gegen den sich überall ausbreitenden Individualismus ankämpft, sowie gegen die Vorstellung, dass man alle seine Bedürfnisse durch Finanztransaktionen befriedigen, sich also alles kaufen kann. Als Beispiel gelebter Solidarität in einem Polycule, das heißt innerhalb eines Netzwerks von Menschen in Polybeziehungen, nannte er die Pandemiezeit. Als er während der Lockdowns an Panikattacken litt, waren es eben die Menschen aus seinem Polycule, die ihm durch das gemeinsame Wohnen eine wichtige Stütze waren.

Ein Paar berichtete, sie hätten ihre Beziehung erst geöffnet, nachdem sie aus einer WG ausgezogen waren, in der sie mit engen Freund*innen zusammen gelebt hatten. Im Zusammenhang mit dem Umzug hätten sie darüber gesprochen, dass sie beide keine Lust hätten, nur zusammen und von der Welt abgekapselt zu leben. Und da bekam die Sehnsucht nach anderen festen und intimen Beziehungen außerhalb ihrer Zweisamkeit das erste Mal klare Konturen. Der Raum einer kleinen Zweipersonenwohnung ist in gewisser Hinsicht ein Sinnbild der Zweierbeziehung – gelebte Geschlossenheit, Unmöglichkeit, andere Bindungen einzugehen und Abkapslung können sich für manche sehr unangenehm anfühlen.

Vojta ist einfach zufrieden mit der Beziehung zwischen ihm, seinem Partner und seiner Partnerin und will nicht, dass daran noch mehr Personen beteiligt werden.

Ein anderer polyamorer Mensch – nennen wir ihn Vojta – erzählte von seiner Erfahrung mit der Erkundung von eigenen Grenzen im Rahmen einer Wohngemeinschaft, in der er gemeinsam mit seiner Partnerin und seinem Partner gelebt hatte, die aber zugleich offen war für weitere sekundäre Beziehungen und häufige Besuche von Freund*innen. In diesem Setting hatte er das Bedürfnis die Grenzen seiner Beziehung anhand des Ortes zu bestimmen. Er wollte seine Ruhe haben, mehr Luft zum Atmen und die Möglichkeit, über eventuelle Übernachtungsgäste vorher zu sprechen. Solche Bedürfnisse können von monogamen „Regeln“ aufgefangen werden. Im Kontext einer Polybeziehung kann es sich zum Beispiel um die sogenannte Polyfidelität handeln, also eine romantische nicht-monogame Beziehung von mehr als zwei Partner*innen, bei der alle Partner*innen innerhalb der Gruppe bleiben und keine weiteren Beziehungen eingehen. Vojta ist einfach zufrieden mit der Beziehung zwischen ihm, seinem Partner und seiner Partnerin und will nicht, dass daran noch mehr Personen beteiligt werden. Zugleich bezieht sich diese Einschränkung aber nicht auf Dates außerhalb der gemeinsamen Wohnung.

Sehnsüchte nach mehr Offenheit oder im Gegenteil nach mehr Exklusivität beim Wohnen kann sich innerhalb einer Polybeziehung im Laufe der Zeit verändern, werden gegeneinander abgewogen und führen zur Suche nach Harmonie.

Polyamorie & Wohnen Dreharbeiten für einen Dokumentarfilm über Polyamorie im Mariánské údolí gedreht, wohin eine Polycule zur Abhärtung ging. | Foto: © Magdaléna Šipka Ein weiterer, für polyamore Menschen und offene Beziehungen oft grundlegender Wunsch ist der, etwas Neues zu entdecken, einen Raum für Überraschungen zuzulassen, für gelegentliche Verbindungen. Menschen, die in unserem Leben nicht täglich oder wöchentlich und meist auch nicht monatlich auftauchen, nennt man im Kontext der Polyamorie Kometen. Sie fliegen nur selten heran, aber wenn sie da sind, sind wir wieder Feuer und Flamme und sie können unseren Himmel zum Leuchten bringen.

Solo-Polyamorie und Single-Wohnungen

Auch unterschiedliche Wohnformen könnte man anhand von Beziehungen klassifizieren. Ein*e Verfechter*in der Solo-Polyamorie wird vermutlich allein wohnen oder in einer geteilten Wohnung, aber viel seltener mit anderen zusammen als Vertreter*innen hierarchischer Polyamorie.

Die Solo-Polyamoriker*innen gehen oft mehrere lockere Beziehungen ein, die nicht sehr viele Merkmale einer typischen romantischen Beziehung aufweisen. Sehr wahrscheinlich wird eine solche Person nicht in einer Ehe oder einer festen Partnerschaft leben, denn sie trifft viele Entscheidungen für sich allein und handelt sie nur mit sich selbst aus. Mit Menschen, die sie datet, trifft sie sich dann entweder bei sich oder der anderen Person zu Hause, aber es fühlt sich dann eben wie ein Besuch an.

Hierarchische Polyamorie und sekundäre Beziehungen

Polyamore Menschen, die eine Hauptbeziehung haben, können wiederum in einer auf den ersten Blick „geordneten” Wohnform wohnen: in einer Wohnung oder in einem Einfamilienhaus. Herausfordernd kann sein, wenn sie sich mit ihrem Date treffen wollen, die andere Person aber ebenfalls in einer der Ehe ähnlichen Beziehungskonstellation wohnt, das heißt, dass keiner der Wohnorte als Treffpunkt in Frage kommt. Sie müssen dann entweder auf eine Hotelübernachtung ausweichen oder eine schwierige Familiensynchronisation betreiben, bei der beide Teile des festen Paares gleichzeitig eine andere Person daten. Wohlhabende Polyamoriker*innen können eine solche Situation mit einer Zweitwohnung lösen, die sie sich für die Treffen mit ihren sekundären Partner*innen halten.

Die Teilung, in der die eine Beziehung die erste Geige spielt und die andere sie „nur“ ergänzt und nicht so „bedeutend“ ist, kann sich zum Beispiel beim Umzug als kompliziert herausstellen. Sekundäre Beziehungen, auch wenn sie voller Verständnis, Leidenschaft und tiefer Verbundenheit sind, sind eben nicht so wichtig, wenn es hart auf hart kommt, zum Beispiel bei der Entscheidung, wo man arbeitet und wo man hinzieht. Solche Bindungen können sich lösen, und zumindest aus meiner Erfahrung enden sie oft in dem Moment, in dem die Überwindung der Entfernung aufwändiger und anstrengender wird.

Ich stimme definitiv zu, dass es sehr herausfordernd ist, eine intime Beziehung mit mehreren Personen als nur zu zweit zu führen und zu entwickeln.

Eine Zeitlang wurde ich immer wieder mit der Behauptung einiger tschechischer Psychotherapeut*innen konfrontiert, die meinten, dass Polyamorie nicht funktionieren könne, weil sich echte Intimität nur zu zweit entfalten lässt. Ich stimme definitiv zu, dass es sehr herausfordernd ist, eine intime Beziehung mit mehreren Personen als nur zu zweit zu führen und zu entwickeln. Doch zugleich denke ich, dass man auch zu dritt ein hohes Maß an Intimität entwickeln kann, zum Beispiel zwischen Menschen, die sich lieben, im engen Familien- oder Freund*innenkreis, in dem sich alle vertrauen. Für die Entwicklung von Beziehungen ist es sicherlich vom Vorteil, wenn einzelne Menschen untereinander gute Beziehungen haben, auch wenn sie dabei Teil einer größeren Gruppe sind. Diese Notwendigkeit, eine Beziehung zu pflegen, wird von polyamoren Menschen keineswegs außer Acht gelassen. Die oben beschriebene aufwändige Suche nach einem Ort, an dem man sich treffen kann, weil zu Hause gerade der Partner oder die Partnerin (und oder die Kinder) sind, ist tatsächlich üblich in vielen polyamoren Beziehungen und zeigt deutlich, dass den Beteiligten das Bedürfnis von Zweisamkeit sehr wohl bewusst ist. Sie „arbeiten“ daran an einem „ausgelagerten“ Ort, zum Beispiel im Hotel. Ähnlich machen es alle anderen Menschen auch, wenn es zum Beispiel um enge Freund*innen, Geschwister, Therapeut*innen oder Mitarbeiter*innen geht. Auch hier können wir uns Momente zu zweit organisieren, diese aber immer auch wieder um weitere Menschen ergänzen, die uns wichtig sind.

Die Suche nach einem Zufluchtsort für die Entwicklung von Beziehungen wird immer schwieriger – ob aus zeitlichen oder räumlichen Gründen. Vor allem polyamore Menschen, die in größeren Städten wohnen, haben es oft schwer. Denn selbst wenn man in hochangesehenen und hochqualifizierten Berufen tätig ist, etwa als Übersetzer*in oder Wissenschaftler*in, kann es viel Mühe machen, die Miete zu bezahlen. Ihre Wohnungen haben sie oft über Freund*innen oder Bekannte gefunden, sie haben befristete Mietverträge und müssen jederzeit mit einer Mieterhöhung rechnen.

Polyamorie & Wohnen Eine Zeitlang wohnte ich in einer umfunktionierten Fahrradabstellkammer in einer Wohngemeinschaft in Brno. Eben in dieser Wohnung bin ich anderen polyamoren Menschen begegnet und habe auf dem gemeinsamen Balkon endlose Gespräche über Tattoos, Non-Binarität und psychische Gesundheit geführt. | Foto: © Magdaléna Šipka
Eine Alternative ist der Wohnwagen, aber auch den muss man sich leisten können. Oder man muss sich mit einer umfunktionierten Fahrradabstellkammer in einer Wohngemeinschaft abfinden, so wie ich eine Zeitlang in Brno, wohin ich arbeitsbedingt gependelt bin. Eben in dieser Wohnung bin ich anderen polyamoren Menschen begegnet und habe auf dem gemeinsamen Balkon endlose Gespräche über Tattoos, Non-Binarität und psychische Gesundheit geführt. Dieser Balkon war für mich damals der Eingang in eine Welt, die noch mehr ist als queer.

Zusammenwohnen mit mehreren Partner*innen und Gemeinschaften

Eine weitere Beziehungsform ist eine nichthierarchische Polyamorie mit mehreren Partner*innen, also zum Beispiel ein Leben zu dritt, wobei alle Beziehungen untereinander gleichwertig sind. Solche Beziehungen können entweder offen oder geschlossen sein, die Partner*innen können alle zusammen oder jede*r allein wohnen. Oder sie können in eine gemeinschaftliche Wohnform übergehen, in der es weitere Menschen geben kann, die nicht alle durch eine romantische Beziehung verbunden sind.

Sowohl im Kreis meiner Freund*innen wie auch in den erwähnten Selbsthilfegruppen oder beim Filmdreh über Polyamorie bin ich Polyamoriker*innen mit Kindern begegnet. Da ich selbst keine Kinder habe, kann ich das zwar nicht aus eigener Erfahrung beurteilen, doch meiner Beobachtungen nach lassen sich Polyamorie und Kinder genauso gut unter einen Hut bekommen wie zum Beispiel Kinder und Freizeitreiten. Der einzige Unterschied ist dann, dass es für die Kinder potenziell mehr Bezugspersonen gibt, die sich mit ihnen unterhalten, sich kümmern – einfach ein größerer Kreis derer, die die Carearbeit übernehmen.

Mit der Erforschung der Auswirkung von Polyamorie auf Kinder hat sich die amerikanische Wissenschaftlerin Elisabeth Sheff beschäftigt, die zu dem Schluss kam, dass Kinder kein wesentliches Problem damit haben. Natürlich sollte man sich genau überlegen, wann man Kindern den neuen Partner oder die neue Partnerin vorstellt. Ebenso sollte man offen dafür sein, wenn sich Kinder weiterhin mit jemanden treffen möchten, von dem oder der man sich bereits getrennt hat. So muss niemand eine wertvolle Beziehung verlieren, die über Monate oder Jahre aufgebaut worden ist. In einem solchen Fall ist es wichtig, rücksichtsvoll zu sein und die Beziehungsbedürfnisse des Kindes im Blick zu behalten. Doch vor sehr ähnlichen Problemen stehen auch monogame Paare.

„Gerade“ bei meinen Gesprächen mit polyamoren Menschen bin ich damit konfrontiert worden, dass Menschen oft aus Überzeugung, es sei der einzige Weg um Kinder zu haben, monogam geworden sind. Manche polyamoren Mütter wünschen sich zum Beispiel, dass der Vater des Kindes keine weiteren Beziehungen eingeht, solange das Kind noch klein ist. Ich habe von einem Pärchen gelesen, dass bis zur Geburt des gemeinsamen Kindes in einer polyamoren Gemeinschaft mit weiteren drei Personen gelebt hat, diese aber verlassen hat, nach dem sie Eltern geworden sind.

Polyamorie & Wohnen Manche Räume dienen als Zufluchtsort für Liebende in sekundären Beziehungen und andere als Versteck für die Kinder. | Foto: © Magdaléna Šipka Schwangerschaft und die erste Zeit nach der Geburt des Kindes, sind Phasen, in denen wir unsere Kräfte bündeln müssen und nicht besonders viel Zeit übrig haben. Manche polyamoren Menschen vergleichen es mit der Hochphase beim Schreiben der Doktorarbeit. Eine geringe Intensität in der Beziehung nach der Geburt des Kindes bedeutet aber nicht, dass wir automatisch auch das Interesse an Polyamorie verlieren oder dass die Sehnsucht nach mehreren Beziehungen nicht bald wieder kommt. Genauso wenig muss es aber bedeuten, dass damit andere Beziehungen in die Brüche gehen, nur weil wir auf einmal „nicht mehr so viel Zeit haben“. Mir wurde zum Beispiel oft von meinen sekundären Partner*innen gesagt, dass sie sich auf mein potenzielles Kind freuen. Und ich habe auch eine Beziehung mit einer Partner*in in der Zeit angefangen, als ihr Kind nicht einmal ein Jahr alt war.

Zu Polyamorie finden manche Menschen auch erst dann, wenn sie älter oder krank werden, weil sie das Bedürfnis verspüren „etwas Neues“ zu entdecken oder ihren Liebsten mehr Raum geben zu wollen. Polyamorie verträgt sich auch gut mit Asexualität, Aromantik, Pan- oder Bisexualität, weil sie eben die gängige Vorstellung sprengt, dass es nur eine Person gibt, die uns „alles gibt“ und die alle unsere Vorstellungen erfüllt.

Wie frei können wir lieben?

Polyamore Menschen tendieren – verallgemeinert gesagt – eher dazu, in Gemeinschaften zu leben – ob in einem kleinen Dorf in den slowakischen Bergen, in einem besetzten Haus in Berlin oder auf einem Bauwagenplatz. Das Beziehungsgeflecht kann sich positiv auf die Gemeinschaft auswirken und den Zusammenhalt stärken, genauso aber auch Verwirrung stiften und Missmut verbreiten. Eine ethische Polyamorie könnte die Gemeinschaften durchaus stärken – sie erfordert aber sehr viel offene Kommunikation und ein hohes Maß an Selbstreflexion.

Die Tendenz von vielen polyamoren Menschen in Gemeinschaften zusammenzukommen, kann durchaus damit zusammenhängen, dass sie meist eher liberale als konservative Werte vertreten und für die Idee von Solidarität und gegenseitiger Hilfe mehr übrig haben als für einen starken und allmächtigen Staat und Ordnung. Letztlich ist es auch die Beziehungsanarchie, die der Polyamorie am nächsten steht und oft mit ihr verflochten ist. Im Unterschied zu Polyamorie, die meist als eine auf Konsens aller Beteiligten basierte Beziehung definiert wird, geht Beziehungsanarchie von unantastbaren Rechten einzelner aus und verlässt sich auf die individuelle Wertekohärenz.
Polyamorie & bydlení Da mein Freund mir nicht erlaubte, ein Foto von unserem gemeinsamen Bett zu verwenden, füge ich ein Foto der daneben stehenden Buddha-Statue bei. | Foto © Magdaléna Šipka
Die Radikalität der Beziehungsanarchie führt im Prinzip nur die allgemein verbreitete Einstellung weiter, dass jede*r über den eigenen Körper frei verfügt. Genauso wie wir uns von niemanden sagen lassen wollen, wem wir die Hand geben, wen wir umarmen oder mit wem wir uns zum Mittagessen treffen, bleibt auch die Kontrolle über das Maß der Intimität, die in monogamen Beziehungen oft eine Art Exklusivitätskontrolle bedeutet, in diesem Fall primär die Aufgabe des Einzelnen. Einzelne Beziehungen sind dann Konstrukte, die wir uns selbst schaffen aus dem Gemenge von Einzelabmachungen und geklärten Erwartungen. Wir zeichnen so unsere eigene Karte und passen uns nicht der sogenannten Beziehungsrolltreppe an, wo alles schön aufeinander folgt und auf Ehe, Kinder und so weiter hinausläuft.

Wie kann ich Hierarchien entkommen, wenn ich mit eine*r Partner*in zusammenlebe und mit der anderen nicht? Wenn wir statt des gemeinsamen Nachwuchses zum Beispiel einen Hund, eine Katze oder ein Monster haben?

Doch wie kann sich dies im Wohnen niederschlagen? Wie kann ich Hierarchien entkommen, wenn ich mit eine*r Partner*in zusammenlebe und mit der anderen nicht? Wenn wir statt des gemeinsamen Nachwuchses zum Beispiel einen Hund, eine Katze oder ein Monster haben? Ist das dann dennoch nicht nur eine weitere Stufe der Rolltreppe? Und kann man es überhaupt vermeiden, dass Menschen in unserem Leben unterschiedlich wichtig werden? Schwer zu sagen, doch eins ist klar: Wenn wir uns das wünschen, können wir auch unser Leben und Wohnen so gestalten, dass wir mehr Menschen lieben und mit ihnen tiefe Beziehungen pflegen können. So können Beziehungen genauso wie unsere Wohnräume unseren Bedürfnissen, Interessen und Wünschen entsprechen und nicht alle gleich sein wie die Häuser im Ligusterweg, wo die Pflegefamilie von Harry Potter wohnt.

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