Eine Fotostory von der Peripherie Slatiny – ein „anderes“ Prag
Slatiny entstand als Arbeiter- und Armensiedlung ab 1924 am damaligen Stadtrand von Prag. Der Fotograf Petr Zewlakk Vrabec besucht Slatiny regelmäßig, um ein „anderes“ Prag zu erleben. Überreste von Autokarosserien, Reifen, die gemeinsam mit Geschirr ins Gras einwachsen, verkohlte Wände, eingefallene Dächer. Bis heute finden in Slatiny diejenigen eine Behausung, die sich entweder nicht an einem seltsamen Leben stören oder denen nichts anderes übrig bleibt. Die dokumentierenden Fotografien werden von einem Begleittext von Bára Bažantová ergänzt.
Ein Moor (tschechisch: slatina) ist eine natürliche Formation, die durch das Überwachsen und die Zersetzung von Pflanzen (Gräsern) in stehenden Gewässern (Teichen und Flussläufen) entsteht. Er zeichnet sich durch eine rote, ölige Masse aus. Einige Moorvorkommen werden zu therapeutischen Zwecken genutzt.
Moore entstehen aus Sümpfen, in denen sich Torf bildet.
Vom Zentrum aus gesehen – naja, es kommt darauf an, ob man mit Zentrum die Prager Altstadt oder die Neustadt meint, aber das ist in diesem Fall fast egal – ist es wahrscheinlich am besten, mit der Straßenbahn Nummer zweiundzwanzig bis zur Haltestelle Slávia zu fahren. Dann überquert man die Gleise und taucht hinter der Absteige Nad Slávií in die Gärten ein, dort, wo die Straße Pod Bohdalcem beginnt, biegt die erste Straße links ab und geht dann immer geradeaus. Und schon ist man in der Straße Na Slatinách. Einige der Parzellen rund um den Slatiny-Bach sind zugewachsen, auf anderen stehen kleine Bauten, manche gemauert, manche teilweise, andere gar nicht. Einige bewohnt, mit gepflegten Beeten, ausgestatteten Werkstätten, andere sind unter der Last der Zeit und der Armut in sich zusammengesunken.
Und tatsächlich waren Armut und soziale Entwurzelung der Grundstein für die Entstehung dieses ganz speziellen Ortes.
Ein eigenartiges Dorf
Die Kolonie entstand in den 1920er Jahren, als Legionäre nach dem Ersten Weltkrieg nach Prag zurückkehrten und Handwerker unterschiedlichster Fachrichtungen als billige Hilfskräfte auf der Suche nach Arbeit aus den Dörfern in die wachsende Metropole zogen. Und weil sie billig waren, konnten sie sich die Mieten in den geräumigen Prager Wohnungen mit hohen Decken nicht leisten. Ein Stück Land am Rande der Stadt dagegen war sowohl für Klempner als auch für Soldaten bezahlbar. Zum einen hatten sie das sprichwörtliche goldene tschechische Händchen, zum anderen lehrte sie die besagte Armut nicht nur, wie man sich durchschlägt, es entstand auch ein eigenartig improvisiertes Dorf (damals noch) am Rande der Stadt, eine teilautonome Zone, könnte man sagen. Dächer aus Blech, Wände aus Sperrholz, nicht isolierte Fußböden, aber egal. Man gewöhnt sich an alles. Und an Manches gewöhnt man sich gerne, wenn man sich zusätzlich zur Arbeit an seinem Schuppen auch darauf einlässt, sein Beet zu harken und ziellos in die Sonne zu blicken.
Auch heute noch würde man sich gerne an solch fromme Tätigkeiten und Untätigkeiten gewöhnen, aber es gibt immer weniger Orte wie Slatiny auf der Welt. Auch wenn sich die einzelnen Grundstücke im „Sumpf“ derzeit in Privatbesitz befinden, sieht es nicht so aus, als würde der Kampf um den Erhalt der Kolonie bald enden, eher im Gegenteil. Während der Stadtrat der vorherigen Legislaturperiode die Bewohner*innen der Kolonie unterstützte, zeigen die derzeitigen Stadträt*innen von Prag 10 (vor allem Vertreter der liberal-konservativen Parteien ODS und TOP 09, aber auch der rechtsextremen SPD) viel mehr Bereitschaft, mit Bauunternehmen zu verhandeln, als mit den Mitgliedern des Vereins Na Slatinách. Und das, obwohl die Grundstücke der Stadt in die Mäander des Slatiny-Bachs hineinreichen und somit eigentlich nicht bebaubar sein sollten. Außerdem ist der Verein Na Slatinách eine funktionierende Gemeinschaft, die sich sowohl um die gemeinsamen Flächen als auch um das kulturelle Leben kümmert – jedenfalls dann, wenn niemand mit einer Änderung des Bebauungsplans droht.
Nun! Anträge stellen und Petitionen unterzeichnen, um das Recht auf die eigene Stadt einzufordern, in ihr zu leben und nicht in ihr zu vegetieren. Das Recht auf das eigene Feuchtgebiet einfordern, den eigenen Sumpf, den eigenen Frieden und die eigene Ruhe, untermalt vom Geräusch des Stadtrings oder der Autobahn E65. Wird das ausreichen? Antworten auf Fragen wie diese hallen durch die endlosen Etagen der endlosen Büroetagen der endlos expandierenden Geschäftsgebäude. Doch vorläufig widersetzt sich Slatiny dem Fluss der Zeit und dem Willen von Kapitalismus und Korruption. Noch ist es möglich, an sonnigen Tagen über die schmalen Pfade zu wandern und von dem zu träumen, was Prag war, was es sein könnte, wenn die Landschaft, die Vögel und die Menschen zählen würden und nicht das Geld.
Wracks, Halden, ausgebrannte Häuser
Überreste einer Karosserie, Reifen, die gemeinsam mit Geschirr ins Gras einwachsen, verkohlte Wände, eingefallene Dächer. Auch solche Szenerien sind Teil der Kolonie Slatiny. Wie auch immer man darüber denkt – die Wracks der Häuser, Autos und auch der Menschen sind ein wesentlicher Bestandteil des genius loci solcher Orte. Denn manchmal möchte man seiner Fantasie freien Lauf lassen. Darüber, wer hier einst sein Auto stehen ließ, wohin er ging und was ihm auf dem Weg begegnet ist, so dass er nicht zurückkehrte.
Historische Häuser und andere Wohnstätten
Die historischen Häuser in Slatiny wurden aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gebaut, das älteste im Jahr 1924. Heute befindet es sich in einem eher bescheidenen Zustand, aber vielleicht war das schon immer so. Die Häuser hier sind aus gefundenen Materialien zusammengeschustert – alles von Holz bis Glasfaser, Überreste anderer Bruchbuden und Zäune, Bahnschwellen, einfach alles, was gerade verfügbar war. Eine derart ausgeprägte Upcycling-Architektur sieht man anderswo eher selten.
Das Cimrmansche Schlammbad
Slatiny ist ein Sumpf mit eigenen Schlammbädern. Ältere Einheimische behaupten, dass diese von Jára Cimrman [fiktives tschechisches Universalgenie, Anm.d.Red.] entdeckt wurden, als bei einem Spaziergang ein Steg unter ihm zusammenbrach. Am nächsten Tag stellte er angeblich fest, dass seine rheumatischen Beschwerden ihn verlassen hatten, und damit war das Kurbad von Slatiny auf der Welt. Das Bad wird vom Verein Na Slatinách betrieben, die hier neben dem Kur-Betrieb auch andere Aktivitäten organisieren – wie zum Beispiel eine Nikolausbescherung oder Programm zum Festival Zažít město jinak (Die Stadt anders erleben). Seine fünfzehn Minuten Ruhm erlebte Slatiny während der Dreharbeiten zu dem Film Obecná škola (Die Volksschule, 1991). In der Mitte des Kurbads befindet sich eine Feuerstelle, die auch von Besuchern von außerhalb des Dorfes genutzt werden kann.
Durch Slatiny verläuft ein wichtiger Biokorridor Prags. Der Slatiny-Bach durchquert dieses Gebiet von Osten nach Westen. Viele Vögel und andere Tiere leben in den Gärten und in der umliegenden Natur. Auch Obdachlose, Gärtner*innen und neuerdings auch junge Familien mit Kindern haben hier Zuflucht gefunden. Glücklicherweise führt hier kein Wanderweg durch. Und das ist auch gut so. Das Gelände ist auf zwei Seiten durch einen Bahndamm und auf der dritten Seite durch die Südverbindung, einem Teil des Prager Autobahrings, geschützt.
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES