„Housing first“ ist ein Ansatz, der darauf abzielt, Obdachlosigkeit zu beenden. Die Wohnungsvermittlung in Verbindung mit umfassender sozialer Unterstützung hilft Menschen auf der Straße, körperliche und psychische Gesundheitsprobleme und verschiedene Abhängigkeiten zu lösen und so ihre Lebensqualität zu verbessern. Ursprünglich wurde diese Vorgehensweise in den 1990er Jahren in New York entwickelt, seitdem wurde der Ansatz in Europa in verschiedenen Projekten erprobt. Mal mehr und mal weniger erfolgreich.
Den neuesten Daten zufolge gibt es in der Slowakei mehr als 71.000 Obdachlose (Erhebung von 2021, veröffentlicht im Juni 2023). Im Vergleich zur letzten Erfassung im Jahr 2011 hat sich die Zahl verdreifacht, was einerseits auf eine andere Methodik bei der Zählung, andererseits aber auch auf das schwache Sozialsystem in der Slowakei zurückzuführen ist. Die tatsächliche Zahl dürfte in Wirklichkeit noch höher sein. Gründe dafür sind ein dysfunktionales Präventionssystem, aber auch ein Mangel an Sozialwohnungen und -diensten, wie zum Beispiel Einrichtungen, die sogenannte Krisenwohnungen unterhalten, Schutzräume und Wohnheime. Ein positives Beispiel für ein Land, in dem die Obdachlosigkeit aktiv bekämpft wird und die Zahl der Obdachlosen seit Jahren sinkt, ist Finnland, das genau wie die Slowakei rund 5,5 Millionen Einwohner*innen hat. Zum Vergleich: 2022 gab es dort 3.686 Obdachlose, das sind 262 weniger als 2021. Der finnische Staat unterstützt aktiv verschiedene Initiativen, baut aber auch selbst Sozialwohnungen. In der Slowakei wird diese Rolle des Staates weitgehend von Organisationen und Vereinen der Zivilgesellschaft übernommen. Einer von ihnen ist die Bürgervereinigung Vagus in Bratislava.Die Menschen, die auf der Straße leben, vereint einzig die Tatsache, dass sie ihr Zuhause verloren haben. Sie bilden jedoch keine homogene Gruppe mit denselben Problemen oder Abhängigkeiten. Alexandra Kárová, die Leiterin von Vagus arbeitet seit langem mit diesen Menschen und hilft ihnen bei der Wohnungssuche. Sie hat es bei ihrer Arbeit mit ganz verschiedenen Gruppen zu tun. „Da gibt es junge Menschen aus Kinderheimen (jetzt Kinder- und Familienzentren), Menschen die gerade aus dem Gefängnis entlassen wurden, Rentner, Menschen im arbeitsfähigen Alter oder mit gesundheitlichen Einschränkungen und psychiatrischen Diagnosen. Männer und Frauen. Menschen, die arbeiten, Menschen mit Hochschulbildung oder auch Menschen, die Inhaber verschiedener Gesellschaften oder Unternehmer waren.“ Sie alle haben die gleichen physiologischen Bedürfnisse, und das bedeutet, dass man sich erst dann auf die sekundären Probleme konzentrieren und sich in die Gesellschaft oder das Arbeitsleben integrieren kann, wenn man es warm und trocken hat und satt ist. Ein umfassender politischer Ansatz nach dem Motto „Housing first“ versucht, diese schwierige Lebenssituation an der Wurzel des Problems anzupacken.
Komplexes Problem, komplexe Unterstützung
Für Obdachlose sind Hunger, Unbehagen, Kälte oder Wind die tägliche Realität, vor der sie sich nicht in ein Zimmer verkriechen oder unter eine Bettdecke kuscheln können. Eine Person, die auf der Straße lebt, kann es sich oft nicht leisten, für eine reguläre Unterkunft zu bezahlen, ganz zu schweigen von den kommerziellen Mieten, die selbst für den Teil der Bevölkerung finanziell unerschwinglich sind, der sich in „stabilen“ Arbeitsverhältnissen befindet. Daher reicht es nicht aus, diesen Menschen nur eine Wohnung zur Verfügung zu stellen, sondern die Sozialberatung und die Grundprinzipien des „Housing“ spielen eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der Situation. „Wenn ein Mensch, der zehn oder zwanzig Jahre lang auf der Straße gelebt hat, eine Wohnung bekommt, hat er einen Haufen von Problemen, den er alleine nicht bewältigen kann. Oft hat er keinen Hintergrund und keine Unterstützung durch Familie oder Freunde“, so Alexandra Kárová.Der Verein Vagus leistet Sozialarbeit vor Ort, im niedrigschwelligen Zentrum Domec und durch das Programm Medzimiesto, das Elemente des Prinzips „Housing first“ aufgreift. Ein Teil davon konzentriert sich auf die Verhinderung von Wohnungsverlust, der zweite Schritt ist die Unterstützung der Klient*innen bei der Arbeitssuche, und der dritte Ansatz des Projekts konzentriert sich auf die Bereitstellung von Mietwohnungen. „Wir haben 28 Wohnungen und drei Wohneinheiten in Cvernovka im Rahmen des Wohnungsintegrationsprogramms. Gleichzeitig arbeiten wir mit dem privaten Sektor, dem Stadtrat von Bratislava und den Stadtteilen zusammen.“
Die Mitarbeiter*innen von Vagus wenden sich mit ihrem Angebot der Wohnungsvermittlung an Menschen aus dem Programm, aber auch an andere gemeinnützige Organisationen. Alexandra Kárová erklärt, warum dies ein schwieriger und langwieriger Prozess ist. „Die Zusammenarbeit bei der Wohnungssuche ist in der Regel auf zwei bis drei Jahre begrenzt, was die Situation für uns und vor allem für die Obdachlosen sehr kompliziert macht, weil sie gezwungen sind, ihre Lebensumstände innerhalb einer sehr kurzer Zeit zu regeln. Stellen Sie sich vor, Sie leben seit sieben oder acht Jahren auf der Straße und haben Schulden bei der Krankenversicherung, dem Verkehrsunternehmen und noch andere Zwangsvollstreckungen. Das muss alles herausgefunden, recherchiert, beziffert und ein Zahlungsplan aufgestellt werden.“ Deshalb müsse jede Person individuell in ihrer Situation aufgefangen werden. „Jeder Person im Projekt wird ein Sozialberater oder Betreuer zugewiesen. Am Anfang ist die Beziehung sehr intensiv, sie arbeiten zusammen und schreiben einen Plan, was sie in sechs Monaten bis zu einem Jahr erreichen wollen und arbeiten das dann ab.“
Der Teufelskreis aus Gesundheit, Wohnen und Arbeit
Auf der Straße zu leben und gleichzeitig eine robuste Gesundheit zu haben, ist fast unmöglich. „Viele Menschen haben keinen Hausarzt und das Thema Gesundheit ist eines der ersten, das wir in Angriff nehmen müssen, denn wenn man in der Slowakei nicht für die Krankenversicherung zahlt, hat man keinen Anspruch auf normale Behandlungen, sondern nur bei akuter Lebensgefahr. Daher ist der Gesundheitszustand bei vielen Obdachlosen sehr schlecht, und das ist einer der Gründe, warum sie keine Arbeit finden“, erklärt Kárová. Ziel dieser Vorgehensweise ist es, den Schwerpunkt auf die allgemeine Gesundheit des Einzelnen zu legen, und zwar sowohl auf die psychische als auch auf die physische Gesundheit, und mit Unterstützung der sozialen Wiedereingliederung. Der Beginn einer Behandlung sollte jedoch keine Bedingung für Unterstützung und Unterkunft sein, der Schwerpunkt liegt vielmehr darauf, dass die Person in die Lage versetzt wird, Entscheidungen über ihr eigenes Leben zu treffen.Viele Vorurteile beruhen auf der Vorstellung, dass Obdachlose, wenn sie arbeiten würden, nicht auf der Straße leben müssten und dass die Lösung somit ganz einfach wäre. Abgesehen von den gesundheitlichen Hindernissen handelt es sich jedoch oft um einen Teufelskreis, aus dem man nicht so leicht entkommen kann. „Wenn man sich vorstellt, dass man in einer baufälligen Hütte oder mit zweihundert anderen Menschen in einem Schlafsaal schläft, und dann soll man aufstehen und acht Stunden lang arbeiten gehen, man kann nirgends duschen, nirgends seine Sachen waschen, sich ein Abendessen kochen und sich ausruhen, dann hält man das auf Dauer nicht aus“, beschreibt Alexandra Kárová die Situation. Dennoch haben viele Klientinnen und Klienten irgendeine Form von Beschäftigung. „Oft arbeiten sie aber leider schwarz, denn die Gerichtsvollzieher nehmen ihnen viel Geld ab, so dass sie im Grunde nichts mehr zum Leben haben. Die Klientinnen und Klienten kommen dann selbst mit dem Wunsch, eine geeignete Arbeit finden zu wollen.“
Der Ansatz „Housing First“ geht also nicht davon aus, dass eine Person sich die Wohnung erst einmal verdienen muss, aber es wird von ihr erwartet, dass sie sich wie jede*r andere Mieter*in an die Bedingungen des Mietvertrages hält. „Unsere Klient*innen sind von Anfang an für die ihnen zugewiesene Wohnung mitverantwortlich. Wir finden heraus, wie es um ihre finanzielle Leistungsfähigkeit bestellt ist und richten sie entsprechend ein. Wenn jemand ausrechnet, dass er zehn Euro Miete zahlen kann, zahlt er zehn Euro und Vagus übernimmt den Rest. Dieser Betrag wird schrittweise erhöht, und am Ende des Projekts sollte die Person in der Lage sein, die Miete selbst zu zahlen“, erklärt Kárová.
Es gibt keine einfachen Lösungen für komplexe Probleme, und auch der „Housing-First“-Ansatz wird nicht alle Probleme mit Armut und psychischen Erkrankungen lösen können. Untersuchungen in den USA, Kanada und Europa zeigen jedoch, dass dieser Ansatz bei mindestens acht von zehn Menschen die Obdachlosigkeit beenden kann. Die Direktorin von Vagus fügt hinzu, wie sehr sich ein neues Zuhause auf das Leben eines Menschen auswirkt: „Es ist wirklich kaum vergleichbar. Das Vorankommen und die Effektivität des Beratungsprozesses ist völlig anders, es ist ein riesiger Unterschied, ob man mit einer Person in einem Zelt spricht, damit diese einen Arzt aufzusuchen und sich um ihre gesundheitlichen Probleme zu kümmert, oder ob man mit jemandem spricht, der morgens in einer Wohnung aufgewacht ist, in der er ein Bad hatte, in Ruhe frühstücken und duschen konnte.“ Der erste Schritt zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit ist jedoch ein generelles Umdenken, denn wir müssen Obdachlose ohne Stigmatisierung als Teil der Gesellschaft ansehen.
September 2024