Reflexionen über den Wandel in Vilnius  „Wohnraum ist nicht nur eine Ware, sondern ein Recht“

Tadas Šarūnas ist Dozent an der Universität Vilnius. Zu seinen Forschungsinteressen gehören die Soziologie der Stadt sowie die Soziologie von Kultur und Kunst.
Tadas Šarūnas ist Dozent an der Universität Vilnius. Zu seinen Forschungsinteressen gehören die Soziologie der Stadt sowie die Soziologie von Kultur und Kunst. Foto: © Severina Venckutė

Die litauische Hauptstadt Vilnius ist auf dem Weg zu einer zunehmenden räumlichen Segregation. Jedes neue Stadtentwicklungsprojekt trägt dazu bei. Dieses Gespräch mit dem Soziologen Tadas Šarūnas ist eine Einladung zum Nachdenken über die soziale Realität in unseren Städten und wie wir sie selbst erschaffen.
 

Manchmal sehe ich die Welt durch das Prisma der sozioökonomischen Unterschiede. Diese Unterschiede erleben wir in unserem Alltag: wenn ich in einer Gruppe von Freunden bei der Entscheidung, wohin wir zum Mittagessen gehen, nicht mitreden kann; wenn man erstaunt nachfragt, warum ich noch nie in den Bergen Ski gefahren bin; wenn ich mich an der Universität daran erinnere, wie oft wir in vier Jahren auf die Bedeutung des kritischen Denkens hingewiesen wurden und wie wenig darauf geachtet wurde, der Frage nachzugehen, warum Studenten so unterschiedliche Fähigkeiten zum kritischen Denken in den gleichen Hörsaal mitbringen. Die sozioökonomischen Verhältnisse, in die wir geboren werden und in denen aufwachsen, bestimmen, wie wir die Welt sehen und uns in ihr verhalten.

Nach Angaben der World Inequality Database entfielen 2022 auf die zehn Spitzenverdiener in Litauen 40,4 Prozent des gesamten Bruttonationaleinkommens (BNE). Auf die niedrigsten Einkommensbezieher – die 50 Prozent ausmachen – entfallen dagegen 10,8 Prozent des BNE. Litauen belegt bei der Einkommensungleichheit unter den EU-Mitgliedstaaten den zweiten Platz nach Bulgarien.
 
Eurostat-Daten zur Einkommensungleichheit in der EU 2022.

Eurostat-Daten zur Einkommensungleichheit in der EU 2022. | Quelle: © Eurostat


Der städtische Raum spielt auch eine aktive Rolle bei der Schaffung und Reproduktion von sozialen Beziehungen. Derzeit leben etwa 56 Prozent der Weltbevölkerung in Städten, und dieser Anteil wird bis 2050 voraussichtlich auf fast 70 Prozent steigen.

Lange Zeit erschien mir Vilnius als eine Selbstverständlichkeit, als wäre es ein vorgegebener Raum, ein fester geografischer Punkt. Mehrere Jahre lang ging ich fast jeden Tag über die Wiese von Pašilaičiai, Richtung Schule in Justiniškės, aber in dieser Zeit veränderte sich vor meinen Augen recht wenig. Erst später wurde mir klar, was für eine komplexe und dynamische Struktur die Stadt ist. Sie ist das Ergebnis des ständigen Zusammenwirkens unzähliger Kräfte: ihre Formen und Funktionen ändern sich ständig in Abhängigkeit von den sozialen und politischen Bedingungen.

An einem ganz normalen Dienstag aß ich auf dem Paupys-Markt, eine Food hall im Stadtteil Paupys in Vilnius. Es war Mittagszeit, es waren viele Leute da, ringsum reges Treiben. Bevor ich den Markt betrat, sah ich die Bauarbeiter, die in der Nähe arbeiteten: In der einen Hand ein Brötchen, in der anderen eine Tasse Kaffee aus einem Automaten. Sie wirkten losgelöst von der Hochglanzatmosphäre des Paupys, und ich hatte den Eindruck, dass ich ihnen näher stehe als den Bewohner*innen des Viertels. In diesem Moment wurde mir etwas Offensichtliches klar: Einige städtische Räume umarmen uns, während andere uns abstoßen. In manchen hat man das Gefühl, dazuzugehören, in anderen fühlt man sich durch eine unsichtbare Barriere getrennt. Paupys wirkt auf mich wie ein sorgfältig konstruierter zwanzigsekündiger Werbespot. Eine Art idealisierte Vision des Stadtlebens – vielleicht elegant, sicherlich modern, sehr lebendig.

Einige städtische Räume umarmen uns, andere stoßen uns ab.“

Laut Joseph Stiglitz, Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger, wird wahrer und dauerhafter Wohlstand nur von allen geteilt. Um zu verstehen, was wirtschaftliche Ungleichheit ist und wie sie sich auf Gesellschaften auswirkt, habe ich sein Buch Der Preis der Ungleichheit (The Price of Inequality) gelesen, in dem Stiglitz die wachsende Einkommensungleichheit in den USA analysiert. „Von allen Verlusten, die das oberste eine Prozent der Einkommensbezieher unserer Gesellschaft zufügt, ist dies vielleicht der größte: die Erosion unseres Identitätsgefühls, das für Fairness, Chancengleichheit und Gemeinschaft so wichtig ist“, schreibt Stiglitz. So ungefähr fühle ich mich in einigen Teilen von Vilnius – als ob ich dort nicht hingehören würde.

In meiner Vorstellung von der Stadt ist der Wohlstand eng mit der Möglichkeit verbunden, Menschen zu treffen, die nicht so sind wie ich. In Vilnius erinnerte mich der neu belebte Stadtteil Paupys auch an die wichtigeren Herausforderungen, die in unserer Gesellschaft bestehen. Jemand genießt sein Mittagessen auf dem Paupys-Markt, während sich jemand anders hinter einem hölzernen Kiosk auf dem nahe gelegenen Tymas-Markt auf seinen Schlaf vorbereitet. Hier existieren die Unterschiede nebeneinander, aber sie überschneiden sich selten.
 
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in Paupys die ersten großen Industrieunternehmen gegründet: eine Pelz- und Lederfabrik und eine Brauerei. In der Zwischenkriegszeit wurde beschlossen, die Industrie aus Paupys auszulagern, aber diese Pläne wurden während der Sowjetzeit aufgegeben. 1948 wurde die Vilniuser Stromzählerfabrik gegründet (später firmierte sie unter anderen Namen und ist den Einwohnern von Vilnius am besten als Skaiteks bekannt), die am längsten – bis 2009 – an diesem Ort blieb, und später wurden auch die Spinnerei und Weberei Audėjas, ein Stahlbetonbauwerk und mehrere Möbelwerkstätten eröffnet. Schließlich wurden diese Fabriken geschlossen oder ausgelagert, das Gebiet wurde in den Jahren der Unabhängigkeit für lange Zeit aufgegeben, und im heutigen Paupys gibt es keine Anzeichen mehr von seiner industriellen Vergangenheit.

In den letzten zehn Jahren wurde das Gebiet neugestaltet, um es zu einem Wohngebiet zu machen. Dies ist das Paupys, das wir jetzt haben – die ersten Wohnkomplexe wurden 2020 fertiggestellt, und in anderen Teilen des Viertels hat die Darnu Group mit dem Bau begonnen, der immer noch andauert. In Paupys entstehen Wohn- und Geschäftsviertel mit Erholungsgebieten, einem Kino, einem Sportclub, Cafés, Galerien und Geschäften in der Nähe. Die zehnte Phase des Projekts mit einem durchschnittlichen Quadratmeterpreis von 6.350 Euro an Wohnfläche soll noch in diesem Jahr abgeschlossen werden. 2022 wurde Paupys als erstes litauisches Projekt für die MIPIM Awards, die weltweit größte Immobilienmesse, nominiert.
 
Paupys war der Ausgangspunkt für ein Gespräch mit Tadas Šarūnas, einem promovierten Soziologen. Tadas Šarūnas ist Dozent an der Universität Vilnius. Zu seinen Forschungsinteressen gehören die Soziologie der Stadt sowie die Soziologie von Kultur und Kunst. Unser Dialog lieferte nicht nur einen Kontext für meine Erkenntnisse, sondern stellte sie auch in Frage und vermittelte einen differenzierteren Blick auf die Beziehung zwischen Stadt und Gesellschaft.

Wir begannen unser Gespräch mit Tadas Šarūnas in Paupys und setzten es bei einem Spaziergang durch die Altstadt von Vilnius fort. Das Interview wurde gekürzt und bearbeitet.
 

Die britische Geografin Doreen Massey vertritt die Auffassung, dass Gesellschaften zwangsläufig räumlich konstruiert sind und dass dies ihre Funktionsweise beeinflusst. Der Gedanke, dass der Raum sozial konstruiert ist, scheint uns vertraut zu sein, aber wir denken weniger über die Tatsache nach, dass die Gesellschaft räumlich konstruiert ist. Glauben Sie, dass wir in Litauen, in Vilnius, genug über die räumliche Konstruktion der Gesellschaft sprechen?
Als raumbezogener Stadtsoziologe muss ich zugeben, dass wir natürlich nicht genug darüber sprechen. Doch im Alltag denken die Menschen räumlich: Sie treffen Entscheidungen, sie spüren den Raum mit ihrem Körper, sie haben eine räumliche Intuition. Mir scheint, dass wir manchmal sogar zu oft in räumlichen Metaphern über unsere Gesellschaft sprechen. Ich möchte keine Themen verräumlichen, die sich auf einen abstrakten sozialen Raum beziehen, wie etwa Fragen der sozialen Klasse oder der Ausgrenzung.

Wenn wir uns den sozialen Raum als ein Gestirn vorstellen, sind wir Menschen die Sterne, und wir nehmen verschiedene Positionen im sozialen Raum ein. Und diese Positionen hängen von unserem wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Kapital ab. Wir unterscheiden uns gesellschaftlich dadurch, wie viel und welche Art von Kapital wir haben. Wenn ich mit dem Kultursektor arbeite, sehe ich viele Millionäre des kulturellen Kapitals, die es manchmal schwer haben, an wirtschaftliches Kapital heranzukommen, und umgekehrt – es gibt Menschen, die viele verschiedene Vermögenswerte haben, aber nicht unbedingt kulturell reich sind.

Die Gesellschaft ist wie die Milchstraße. Sie steigt [in die Stadt] über das Wohnfeld, über andere Kraftfelder hinab. Wir haben ein intuitives Gefühl für unseren eigenen Platz in der Welt, das sich verfestigt, wenn wir uns an unserem Platz fühlen. Und wenn unser Körper anfängt zu jucken, heißt das, dass nicht sehr viele Menschen in unserem sozialen Raum um uns herum sind.

Ich sehe das so: Eine Stadt, ihre Gebäude und ihre Infrastruktur sind nur Formen. Sie sind verkörperte, verdinglichte Formen des sozialen Raums mit einer Geschichte. Die Häuser werden Hunderte von Jahren stehen, doch die soziale Füllung wird sich ändern. Diese ganze Stadt hat sich bereits verändert. Unser Vilnius wurde ermordet, vertrieben, mit Neuankömmlingen überbevölkert. 1945 war es das Skelett eines nicht existierenden, zerstörten sozialen Raums, in dem wir jetzt unser Leben aufbauen.

Seitdem ist nicht viel Zeit vergangen.
Sehr wenig. Junge, aufstrebende Städte wie Vilnius haben ihre Reize. Die gesellschaftlichen Strukturen sind hier nicht so kristallisiert und einbetoniert, nicht so ewig und selbstverständlich wie anderswo. In Vilnius gibt es viel Freiheit bei dieser Selbsterkundung. Aber wir betonieren uns bereits ein, wir haben die soziale Segregation seit dreißig Jahren intensiv verstärkt.

Um auf Massey einzugehen, würde ich sagen, dass nicht alles Raum ist. Es gibt immer noch Körper, Zeit. Aber der Raum kann zu einem Werkzeug werden, um Strukturen aufzubauen, um ihre räumlichen Repräsentationen zu schaffen. Dann sind diese Strukturen schwieriger zu leugnen. Zum Beispiel beeinflusst so ein symbolischer Ausdruck von Macht wie der architektonische Stil noch Hunderte von Jahren nach seiner Entstehung symbolisch unser Verständnis von der Stadt. Wenn man die Stadt kennt und seine eigene Geschichte in ihr schafft, bekommt man ein Gespür dafür, wo die persönliche Geschichte in dieser Zeit und in dieser Stadt angesiedelt ist.
 
„In Vilnius gibt es viel Freiheit bei dieser Selbsterkundung. Aber wir betonieren uns bereits ein, wir haben die soziale Segregation seit dreißig Jahren intensiv verstärkt.“, meint Tadas Šarūnas.

„In Vilnius gibt es viel Freiheit bei dieser Selbsterkundung. Aber wir betonieren uns bereits ein, wir haben die soziale Segregation seit dreißig Jahren intensiv verstärkt.“, meint Tadas Šarūnas. | Foto: © Severina Venckutė


Wir sitzen jetzt in Paupys. Welche Emotionen weckt dieses Viertel bei Ihnen?
Paupys ist frisch, erfunden, ausgedacht und füllt sich mit sozialem Inhalt. Es ist eine intensive urbane architektonische Form. Es handelt sich um eine sehr bedeutsame Entstehung einer Art von sozialem Raum im Stadtzentrum. Ein Interventionsraum dieser Größenordnung ist in den letzten dreißig Jahren außergewöhnlich.

Der beste Weg, diesen Teil der Stadt zu analysieren und zu bewerten, ist historisch vorzugehen. Lange Zeit war es ein Vorort, ein Ort außerhalb der Stadtmauer [gemeint ist das Mittelalter, als die Stadtmauer noch stand – Anm. d. Verf.]. Alles, was sich außerhalb der Stadtmauer befand, war nicht unbedingt wünschenswert, aber notwendig. Viele Jahrhunderte lang war dies so ein Ort – ein „schmutziger“ Ort. Hier wurden alle Arten von „schmutzigen“ Geschäften betrieben, wie zum Beispiel die Lederverarbeitung.

In einigen Teilen von Vilnius war die Verschmutzung sogar noch intensiver. Die erste „Säuberung“ fand im 19. Jahrhundert statt. Der größte Teil der „schmutzigen“ Industrie wurde nach Lukiškės verdrängt, und es hieß, dass hier in Paupys etwas anderes angesiedelt werden sollte. Damals gab es einige interessante Argumente von Vermietern, die meinten: „Wir haben zwar alle stinkenden Lederverarbeiter vertrieben, aber die Straßennamen, die uns an ihre Anwesenheit erinnern, sind immer noch da, und wir müssen sie ändern, weil sie die Mietpreise nach unten drücken“.

Paupys war ein anderer Ort – ein Industriegebiet im Stadtzentrum. Als die wirtschaftliche Umstrukturierung in den 1990er Jahren einen Großteil der örtlichen Unternehmen in den Ruin trieb, wurde die Frage aufgeworfen, ob dieser Teil der Stadt anders genutzt werden sollte.

Der Staat hat viel investiert, um dieses Gelände bewohnbar zu machen. Der Boden war sehr verschmutzt und es gab keine Infrastruktur – keine Wege, keine Straßen. Die Art und Weise, wie dies alles organisiert wurde, unterscheidet sich sehr von der Entwicklung in den Vorstädten, wo Häuser ohne Straßen und ohne soziale Infrastruktur gebaut werden. Hier ist aber alles in der Nähe, es ist kein Vorort, und es wurde in diesen Teil der Stadt investiert, bevor die Wohnungen gebaut wurden. Das ist wirklich begrüßenswert, denn es ist etwas, das für eine lange Zeit Bestand hat – die Häuser werden Hunderte von Jahren stehen, jemand wird hier leben und alles ist geplant, geregelt.

Aber es stellt sich sofort auch die Frage nach der räumlichen Gerechtigkeit. Wer hat Zugang zu ihr und wer nicht. In dieser Hinsicht expandiert unsere Stadt auf sehr ungerechte Weise. Es gibt berechtigte Beschwerden: Wir können hierher nach Paupys kommen, wir können hier vielleicht sogar etwas kaufen, aber nicht alles. Dies ist der erste Moment, in dem dieser Raum sozial segregiert wird. Einige Bewohner von Paupys beklagen sich, dass es ein Ort des exklusiven Konsums ist. Die Menschen, die hier leben, brauchen Orte des täglichen, einfachen Konsums. Und hier will man Geld aus diesem Raum herauspressen. Das ist eine begründete Marktlogik, aber sie bestimmt die Monofunktionalität des Raums. Nur eine kleine soziale Schicht kann es sich leisten, hier zu wohnen, was sehr segregierend ist.
 
„Der Staat hat viel investiert, um dieses Gelände bewohnbar zu machen“, sagt Tadas Šarūnas. „Das ist wirklich begrüßenswert, denn es ist etwas, das für eine lange Zeit Bestand hat – die Häuser werden Hunderte von Jahren stehen, jemand wird hier leben und alles ist geplant, geregelt.“

„Der Staat hat viel investiert, um dieses Gelände bewohnbar zu machen“, sagt Tadas Šarūnas. „Das ist wirklich begrüßenswert, denn es ist etwas, das für eine lange Zeit Bestand hat – die Häuser werden Hunderte von Jahren stehen, jemand wird hier leben und alles ist geplant, geregelt.“ | Foto: © Severina Venckutė


Ich war in einer Diskussion, an der auch Sie teilgenommen haben, in der es darum ging, wie man neue Stadtteile mit dem historischen Zentrum in Einklang bringen kann. Die Generaldirektorin der Darnu Group sagte dort, dass „die Käufer von teuren, guten Wohnungen [in Paupys] es Vilnius ermöglichen, ein Projekt wie dieses zu entwickeln, ein Kino, einen Lebensmittelmarkt und alles andere, das immer offen und einladend ist“. Ich hatte das Gefühl, dass Menschen aus einer höheren sozioökonomischen Schicht mich dazu ermächtigten, in einem neuen Viertel Kaffee zu trinken.
An diesen Worten ist etwas Wahres dran, und es ist nicht alles gesagt. In unserem städtebaulichen und wohnungspolitischen Rahmen wird das Wohnen nicht als Recht, sondern als Produkt, als Ware betrachtet. Jedes neues Entwicklungsobjekt ist zugleich ein Objekt, das die Stadt räumlich segregiert. Das heißt nicht, dass die Stadt nicht gebaut werden sollte. Die Stadt erzeugt Kapital, und Kapital wird benötigt, um die Stadt zu erhalten. So funktioniert eine Kapitalwirtschaft.

In gewisser Weise stimmt es, dass Leute einen Kredit aufnehmen mussten, um ein Haus oder eine Wohnung in Paupys zu kaufen, damit es hier Menschen, Leben gibt. Aber was vergessen wird, ist, dass nicht nur die Bauunternehmer, sondern auch der Staat und die Gesellschaft als Ganzes bereits genug dafür bezahlt haben, dass das städtische Leben hier stattfindet.

Die Auffassung, dass einige Menschen finanzieren und gentrifizieren und andere nur kommen und nutzen, ohne etwas zu bezahlen, ist sehr giftig, stigmatisierend und unnötig spannungsgeladen. Diese Art des Denkens hält davon ab, das zu erkennen, was in der Stadt geschieht, und zu verstehen, wie fähig jeder von uns ist, am Leben der Stadt teilzunehmen. Wir müssen über soziale Tatsachen sprechen. Es besteht ein Mangel an Diskussionen über Tatsachen.

Wir haben viele stigmatisierende Begriffe, wie zum Beispiel „sowjetische Plattenbauten“. Solche Kategorien haben nichts mit der Realität zu tun. Mehr als die Hälfte unseres Wohnungsbestands wurde während der Sowjetzeit gebaut. Die Hälfte der Bevölkerung von Vilnius lebt dort, und es ist unfair und unkonstruktiv, sie in eine Klasse zu stecken. Es gab einen historischen Moment – die Privatisierung des Wohneigentums. Wenn man damals die Freiheit haben wollte, die Stadt über das Wohneigentum zu gestalten, war es ein Fehler, das Wohneigentum so zu privatisieren, wie es geschehen ist. Heute ist es zum Beispiel äußerst schwierig, sich über die Sanierung von Wohnungen zu einigen. Die Wohnungen nutzen sich ab, und in Mehrparteienhäusern wohnen viele verschiedene Menschen und es war ein Fehler, den Menschen die Last solcher Entscheidungen aufzubürden. Als ich meine Doktorarbeit schrieb, stellte ich fest, dass es sehr schwierig ist, sich in Häusern mit zehn Wohneinheiten zu einigen. Und wenn es noch mehr Wohnungen sind, ist es fast unmöglich. Aber wir hatten diese Idee, dass „wir privatisieren und alles löst sich von selbst“. Manches hat geklappt, manches nicht.

Eine andere Einstellung zeigt sich bei den Menschen, die aus der Stadt in die Vororte gezogen sind und erwarten, dass die gesamte Infrastruktur für sie gebaut wird. Auch hier gibt es ein stigmatisierendes Moment, denn diese Personengruppe ist spezifisch: Sie verfügte über eine gewisse wirtschaftliche Kapazität, und es wurde ihnen versprochen, dass die Stadt wachsen würde und dass sie dort Häuser bauen könnten. Sowohl die Stadt als auch der Staat haben ihnen in gewisser Weise zu viel versprochen. Die Stadt ist finanziell nicht in der Lage, so viel Infrastruktur zu entwickeln. Diese Menschen wurden indirekt getäuscht. Sie brauchen zumindest einen Bürgersteig oder eine Straße zu ihren Häusern. Außerdem zahlen sie einen hohen Preis, indem sie im Stau stehen, wenn sie in die Stadt fahren, um sie mit ihrer wirtschaftlichen Energie zu versorgen.
 
Sie haben im Zentrum von Vilnius geforscht und Ihre Doktorarbeit über Wohnungswahl und symbolischen Zwang [der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat den symbolische Gewalt mit der Tatsache in Verbindung gebracht, dass die herrschenden sozialen Normen die Menschen dazu zwingen, Ungleichheit oder ihre eigene Marginalisierung unbewusst als „normal“ oder „natürlich“ zu akzeptieren – Anm. d. Verf.] im Zentrum von Vilnius. Wohnungen im Zentrum scheinen schwer erschwinglich geworden zu sein. Ist dies eine Folge unseres neoliberalen Marktes?
Genau. Das Stadtzentrum und einige andere Orte, die aus dem einen oder anderen Grund von höherer Qualität sind, werden langsam aber sicher segregiert. Das Stadtzentrum ist für Menschen mit unterschiedlichen wirtschaftlichen Möglichkeiten nicht mehr gleichermaßen zugänglich. Das ist eine soziale Tatsache. Wer das anders sieht, lebt irgendwo im hinteren Bereich eines sozialen Raums, von dem aus die Realität ein wenig anders gesehen wird. Wir alle haben unsere sozialen Realitäten.

Die Segregation nimmt leider zu – das ist eine Tatsache, bedauerlicherweise. In Vilnius können wir kaum auf das Erbe der sowjetischen sozialistischen Periode stolz sein, aber es gab doch auch etwas Positives: Unsere Stadt war sozial ziemlich unsegregiert. Als eine der Hauptstädte Europas ist Vilnius jedoch vergleichsweise immer noch nicht sehr segregiert, was ich eigentlich gut finde. Hier kommen natürlich Werturteile ins Spiel, aber es gibt viele wissenschaftlich fundierte Argumente dafür, dass die Vielfalt in den verschiedenen sozialen Bereichen der Stadt sehr gesund ist.

Auf der anderen Seite haben wir die modernistische Stadt, die sicherlich eine Monostadt ist, sie ist monofunktional (zum Beispiel „Wohnviertel“, „Geschäftsviertel“), und sie wird auch „monoklassisch“ aufgrund der zunehmenden sozialen Segregation. Die Prinzipien der modernistischen Planung verursachen Probleme. Manche Orte sind nur wochentags lebendig, während sie am Wochenende eine soziale, urbane Ödnis darstellen. Die Infrastruktur, die Straßen, alles, was in sie investiert wurde, das Geld – all das liegt an den Wochenenden brach. Das ist nicht vernünftig.

Der größte Teil der Neubauten in Vilnius wird von privaten Unternehmen durchgeführt. Sie haben bereits erwähnt, dass jede Stadtentwicklung im Wesentlichen die soziale Segregation fördert. Gibt es irgendwelche Mechanismen, um den Wohnraum in der Stadt erschwinglicher und zugänglicher zu machen? Fehlt es an staatlicher Kontrolle und Intervention, oder ist die Kommune einfach unfähig, auf dem Markt mitzuspielen?
Die Kommune ist in diesem Marktspiel gesetzlich verpflichtet, Sozialwohnungen anzubieten. Derzeit stehen in Vilnius 1631 Haushalte auf der Warteliste für Sozialwohnungen [laut Daten von SĮ „Vilniaus miesto būstas“ – Anm. d. Verf.]. Eine ganze Menge. Und wir sprechen hier nur über eine sehr gefährdete soziale Gruppe, die von Obdachlosigkeit bedroht ist – die Sozialwohnungspolitik unseres Landes kümmert sich de facto nur um diese Menschen. Die Gemeinde kauft jetzt private Wohnungen auf, um sie in Sozialwohnungen umzuwandeln, aber es gibt immer noch viele Menschen, die darauf warten.

2023 erhielten 137 Haushalte in Vilnius eine Sozialwohnung, aber die Warteschlange ist mehr als zehnmal so lang.
Lange Zeit hieß es in der Öffentlichkeit, dass etwa 90 Prozent der Menschen in Litauen eine eigene Wohnung besitzen, was bedeutet, dass die Menschen gut versorgt sind. Sie wurden durch die Privatisierung versorgt: Einige hatten ihr eigenes Haus, und die meisten konnten mit Investitionsgutscheinen eine Wohnung kaufen. Die Einzigartigkeit unseres Landes in dieser Hinsicht ist ein Ergebnis der Politik der 1990er Jahre. Heute ist es nicht mehr so, dass jeder ein Haus besitzen kann. Die Wohneigentumsquote hat sich dramatisch verändert, und in den letzten zwei Jahrzehnten hat die Zahl der Mieter in den Städten zugenommen. Vorher waren es auch ziemlich viele. In Ermangelung von Mietkontrollen und strengeren Vorschriften gab es aber keine Daten darüber, welcher Anteil des Wohneigentums tatsächlich selbst genutzt und welcher gemietet wurde.

Es bildet sich eine Klasse von Mietern heraus. Es gibt drei Klassen von Wohnraum: Eigentümer, Mieter und Nutzer von Sozialwohnungen. Die Klasse der Mieter wächst, aber der Mietmarkt in Städten wie Vilnius ist sehr prekär, weil die Rechte der Mieter in Litauen gesetzlich nicht ausreichend geschützt sind, es keine Kontrolle gibt und der Mietpreis dem Marktpreis entspricht. Bei den Mietern handelt es sich in der Regel um junge Menschen, die kein Eigentum geerbt haben oder keine familiäre Unterstützung haben, um sich ein eigenes Haus zu kaufen, also mieten sie und finanzieren sozusagen die Vermieter. Es ist auch eine Generationenfrage. Diejenigen, die in den 1990er Jahren in der Lage waren, Wohnraum zu privatisieren, das heißt Eigentum aus dem alten staatlichen System zu erben, haben nicht mehr so viel sozialen Schutz, ich meine etwa Renten. Daher können einige ältere Menschen ihren Lebensabend mit dem Eigenkapital einer Wohnung finanzieren. Andere sind in der Mietpreisfalle gefangen, denn ob sie nun sparen oder nicht, sie werden trotzdem nicht mit den steigenden Preisen mithalten können. Es ist ein Teufelskreis: Man mietet, aber die Immobilienpreise steigen schnell und man kann nicht sparen.

In den Städten verliert der Wohnraum einen Teil seiner Hauptfunktion, nämlich das Wohnen, und wird zu einem Investitionsobjekt, der Mensch lebt in seinem Investitionskonto. Das verstärkt die Entfremdung von der eigenen Wohnung, trägt zu ontologischer Unsicherheit bei, zu einem Gefühl räumlicher Ungerechtigkeit – man hat Gedanken wie „Wer bin ich in der Stadt?“, „Ich fühle mich nicht heimisch“, obwohl man seine ganze Energie der Stadt schenken könnte.

Wir reden sehr abstrakt über Migration, oft wird die Entscheidung auszuwandern moralisiert, aber wenn es für einen Menschen einfacher ist, sich in Wien niederzulassen als in Vilnius, dann denkt er über diese Möglichkeit nach. Die Abwanderung junger Menschen hängt sehr stark mit Wohnungsfragen zusammen. Die wirtschaftliche Umstrukturierung und die Agrarreform haben viele Menschen aus den kleineren ländlichen Gebieten vertrieben, weil sie keine Arbeit mehr haben. Der Rückzug in die Städte war fast unvermeidlich. Die Stadt bietet einen Arbeitsplatz, und dann kommt die nächste Frage, ob sie auch Wohnraum anbietet und zu welchem Preis.

Man hat Gedanken wie ‚Wer bin ich in der Stadt?‘, ‚Ich fühle mich nicht heimisch‘, obwohl man seine ganze Energie der Stadt schenken könnte.“

Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem sozialen Status und der Wahl des Wohnraums? Sie haben gesagt, dass die Möglichkeit, sich einen Wohnraum auszusuchen, bereits ein Privileg ist, das Menschen mit einem bestimmten wirtschaftlichen Status nicht haben. Trägt dies zur sozialen Hierarchie in der Gesellschaft bei?
Es trägt eher zur Konsolidierung des sozialen Raums bei. Wenn wir räumlich weit voneinander entfernt sind, können wir uns nicht kennen lernen, uns nicht auf der Straße, in der Schule, in der Klinik oder im Café treffen. Das Zusammensein mit Gleichgesinnten ist angenehm, was gut ist, aber andererseits entfernt es uns von den abstrakten „Anderen“. Hier sollte es wahrscheinlich ein Gleichgewicht geben.

Aber wie findet man dieses Gleichgewicht?
Mit einer Wohnungspolitik, die wir nicht haben. Als Erstes müssen wir unsere Vorstellungskraft anregen. Drei Jahrzehnte lang haben wir mit der Vorstellung gelebt, dass der Markt schon alles regeln wird. Aber wir müssen daran denken, dass Wohnraum nicht nur eine Ware ist, sondern ein Recht. Wir müssen dafür sorgen, dass die Ausübung dieses Rechts nicht ungeheuer teuer wird, dass wir nicht alle anderen Möglichkeiten verlieren.

Meines Erachtens wäre es am besten, mit Wohnungsbaugenossenschaften zu beginnen [das berühmteste Beispiel für genossenschaftlichen Wohnungsbau ist das Projekt La Borda in Barcelona. La Borda wurde 2022 mit dem Mies-van-der-Rohe-Preis für aufstrebende Architektur ausgezeichnet. Anm. d. Verf.]. Mit anderen Worten: Gemeinschaftswohnungen, die von den künftigen Nachbarn selbst gebaut werden. Die Wohnraumentwicklung könnte durch Darlehen der Bewohner finanziert werden, durch kommunale Mittel für den sozialen Wohnungsbau oder durch den Verkauf eines Teils [der Wohnungen]. Dies ist jetzt die Hauptlösung [in Europa], außer in Städten, in denen es nicht viele kommunale Wohnungen gibt, kommunale Wohnungen für die Mittelschicht. Wir haben keinen kommunalen Wohnungsbestand, weil er privatisiert worden ist. Das Gleichgewicht muss jedoch nach und nach wiederhergestellt werden, und eine Möglichkeit, dies zu tun, wären solche Maßnahmen. Dies würde dazu beitragen, die städtebauliche Qualität in den verschiedenen Städten zu verbessern.
 
2023 erhielten 137 Haushalte in Vilnius eine Sozialwohnung, aber die Warteschlange ist mehr als zehnmal so lang.

2023 erhielten 137 Haushalte in Vilnius eine Sozialwohnung, aber die Warteschlange ist mehr als zehnmal so lang. | Foto: © Severina Venckutė


Wie lassen sich Urbanisierung und sozialräumliche Gerechtigkeit in einer langfristigen städtischen Vision miteinander vereinbaren?
Wir wissen nicht, was in zehn oder fünf Jahren sein wird; die Pandemie und der Krieg haben uns an diese Wahrheit erinnert – wir leben in einer Gesellschaft der strategischen Visionen, und strategische Dokumente und politische Visionen sind in Litauen sehr beliebt. Es ist schön zu träumen, aber die Erfüllung eines Traums beginnt heute. Die gute Nachricht ist, dass die Stadt die Kontrolle über ihr Gebiet wiedererlangt [Im Februar 2024 hat die Regierung Litauens die Übertragung von staatlichem Land an die litauischen Gemeinden abgeschlossen. Die Entscheidung gibt den lokalen Behörden das Recht, das Land auf ihren Gebieten selbst zu verwalten und zu entwickeln. Anm. d. Verf.]. Die Einbeziehung der Bürger in die städtebauliche Debatte ist ebenfalls sehr wichtig. Bislang wurden die Bürger nur über – manchmal sehr unangenehme – Entscheidungen informiert. Dies ist ein sehr giftiges Prinzip.

Die Einbeziehung der Bürger in die städtebauliche Debatte ist ebenfalls sehr wichtig.“

Brauchen wir mehr partizipative Planung?
Ja, wir brauchen eine partizipative Planung, damit das Wissen und die Visionen der Menschen über ein Gebiet bereits bei der Erstellung der Pläne einbezogen werden und nicht erst bei deren Präsentation. Ich habe den Eindruck, dass in unserer Gesellschaft früher die Einstellung vorherrschte: „Oh, die Architekten haben diesen Ort hässlich und unbeholfen gestaltet“. Jetzt ist klar, dass hier ganz eindeutige wirtschaftliche Kräfte am Werk sind, und sie treffen bestimmte Entscheidungen. Die Menschen reisen und sehen, dass es anderswo anders ist. Warum können wir das nicht? Natürlich können wir das. Wir brauchen nur einen Konsens darüber, wie die enorme Wirtschaftskraft der Stadt genutzt werden soll.

Diese Wirtschaftskraft ist wie ein Ungeheuer – wir müssen es zähmen und lernen, so mit ihm zu tanzen, dass die Lebensqualität für uns alle ein bisschen besser wird. Mehr räumliche Gerechtigkeit, mehr Wohnraum für Menschen, die ihn brauchen, weil sie für die Stadt arbeiten. Es scheint mir sehr wichtig zu sein, mutig und experimentell zu handeln, den Ehrgeiz zu haben, die Qualität zu verbessern und etwas anderes zu tun, unsere Phantasie anzuregen und zu erkennen, dass die wirtschaftlichen Kräfte eine Übereinkunft zwischen uns allen darstellen und dass wir die Entwicklung der Stadt verändern können.

Perspectives_Logo Dieser Artikel erschien zuerst im litauischen Onlinemagazin NARA, einer unserer Medienpartner für PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

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