Kuba Vítek Girard und sein Ehemann führten jahrelang ein Nomadenleben als Hausangestellte. Dieser prekäre Job brachte sie an verschiedene Orte der Welt, bis sie eines Tages den Wunsch verspürten, sich niederzulassen. Aber wie geht so etwas?
Ich bin sieben Jahre alt, als uns Mutter verlässt. Bis heute sehe ich ihre schimmernde Sonnenbrille vor mir, die sie trägt, als sie uns aus dem Fenster ihres Dacia Modell 1300 winkt, während ich mir meine Tränen buchstäblich mit einem Yorkshire Terrier-Welpen abwische, den ich sicherlich als Trostpflaster für ihre Abwesenheit bekommen habe. Als mir Mutter das letzte Mal winkt, ist es Freitag.Am Montag war sie wieder zurück.
Ihr mutiger Versuch, die Sommermonate im Deutschkonversationskurs mit einem Job in einem deutschen Elitehaushalt abzuschließen, und dann mit einem Koffer voller heißbegehrter D-Mark-Scheine nach Hause zu kommen, dauerte nur einige Stunden. Es heißt, wir formen unsere eigene Geschichte durch die Geschichten, die wir uns immer wieder über uns selbst erzählen. Eine der wesentliche Entwicklungseigenschaften osteuropäischer Eltern ist das selektive Gedächtnis. So wurde Mutters ein paar Stunden dauernder Versuch, im Ausland zu arbeiten, mit den Jahren verwässert zu: „Nur ein einziger Blick in ihr widerliches Waschbecken, das ich putzen sollte, reichte mir, und ich habe nicht einmal meinen Koffer aufgemacht.”
Dreißig Jahre später ist es die Erinnerung an Mutters angewiderten Gesichtsausdruck, die meine kontroverse Lebensentscheidung begleitet und mich aus dem Spiegel anstarrt, während ich mir, gebeugt über ein widerliches Waschbecken im Haus bayrischer Multimillionäre am Starnberger See, gelbe Gummihandschuhe überziehe.
Du hast so einen Riesenschritt nach vorne gemacht, und jetzt gleich drei zurück!“
Hier haben wir als ein domestic couple (also wörtlich: Haushaltspaar) erst vor einigen Wochen unsere Koffer ausgepackt, doch das Ein- und Auspacken diverser Gepäckstücke bestimmt schon seit fünf Jahren den Rhythmus unseres Lebens – nachdem mein Mann und ich 2019 London verlassen hatten, um die komfortable Stabilität einer Arbeit am Rechner in einem klimatisierten Büro mit Gratiskaffee gegen das Reiseabenteuer und den private service für Superreiche einzutauschen, mit der Hoffnung, so auch für uns einen besseren Ort zum Niederlassen zu finden, als das Post-Brexit-England. Also ungefähr zwanzig Jahre später als ein solcher Versuch einer antikapitalistischen Anarchie noch Sinn gemacht hätte – wir gingen auf Reisen und Erfahrungen sammeln, während unsere Altersgenossen in dieser Phase ihres Lebens bereits ihr zweites Haus bauen und den zweiten Sohn zeugen, wie mir meine Eltern oft und gern aufs Brot schmieren: „Du hast so einen Riesenschritt nach vorne gemacht, und jetzt gleich drei zurück!“
Die Antiheldenreise
Mit Null Ersparnissen war es auch zuerst notwendig, den Begriff Zuhause für uns neu zu definieren. Fünf Minuten vor dem vierzigsten Geburtstag, zu der Zeit im Leben, in der man das Zuhause nicht mehr nur begreifen kann als ein Haus, in dem die Eltern wohnen, oder eine Untermiete am südlichen Rand von London, die man sich nur leisten kann, weil man sich die Miete zu siebt teilt. Inklusive einer neunzehnjährigen australischen Alkoholikerin, die mehrmals wöchentlich um drei Uhr morgens, nach der Rückkehr aus der Bar unsere Tiefkühlpizza im Ofen fast restlos verbrennen lässt und das ganze Haus mit dem heulenden Rauchmelder weckt.In den letzten Jahren umfasste unsere neue Definition von Zuhause unter anderem: eine Kajüte von der Größe eines Schranks für Wintermäntel im Unterdeck des Ozeandampfers Queen Mary 2, eine schimmelige Kammer mit schlecht isolierten Fenstern und löchrigem Boden in einem napoleonischen Schloss in Südfrankreich, wo wir gegen Kost und Logis bei der Renovierung halfen. Ein Klappsofa in einem türlosen Zimmer auf einem Bauernhof in den bulgarischen Bergen. Eine Kellerwohnung in der Villa des ehemaligen Produzenten von Boy George und der Band Bananarama auf Mykonos, eine Abstellkammer für Skischuhe in einer Berghütte in den Schweizer Alpen. Und zwischen jeder mehrmonatigen Maloche: eine aufblasbare Matratze auf dem Fußboden bei Familie und Freunden.
Die Geschichte, die wir uns zu diesem Kapitel unseres Lebens erzählen und mit der wir durch die Welt düsen, ist im Prinzip nichts anderes als eine von Jung inspirierte archetypische Heldenreise nach Joseph Campbell. Der Held bricht aus der gewohnten Umgebung und dem vorgezeichneten Lebensweg aus, verlässt seine Heimat und durchlebt dank der Abenteuer in der Welt und außerhalb der Komfortzone eine persönliche Transformation, um dann, für immer verändert, nach Hause zurückzukehren, im besten Fall mit den Taschen voll Gold.
Unsere Version des Traums von den Taschen voll Gold heißt: einen Ort abseits der französischen Heimat meines Mannes und meiner tschechischen zu finden, wo wir uns niederlassen und aus neuen Traditionen und Erinnerungen eine eigene Geschichte fortschreiben können, eine über Ankommen und Vermächtnis. Historisch betrachtet müssen wir als queere Menschen unsere Familie, unsere Community sowie unseren Platz auf dieser Welt und in der Gesellschaft, in die wir hingehören, für uns selbst definieren. Es ist eine der wenigen Freiheiten innerhalb des Paradigmas und auf unserem Lebensweg, die sonst von der Toleranzbreite anderer Menschen sowie offizieller Institutionen gegenüber unserer Sexualität definiert wird.
Schon bizarr, dass ausgerechnet unser Weg bedeutet, für andere das Zuhause zu pflegen und mitzugestalten.
Laut offiziellen Angaben der Europäischen Föderation der Gewerkschaften für Ernährung, Landwirtschaft und Tourismus (EFFAT) gibt es derzeit in der EU mindestens zehn Millionen Menschen als sogenannte domestic workers oder Hausangestellte. Laut den Ergebnissen der Untersuchung derselben Organisation vom Mai 2024 sei es dringend notwendig, die Bedingungen in dem rechtlich oft sehr diffusen Bereich Haushaltsdienstleistungssektor zu standardisieren und die Kontrollmechanismen zu verbessern, außerdem seien die langfristige Nachhaltigkeit der logistischen und ökonomischen Stabilität fragwürdig. Das wichtigste Argument für diese Prognose ist die Annahme, dass der Anteil der Über-65-Jährigen in der EU nach 2050 von einem Fünftel auf ein Drittel ansteigt sowie die Feststellung, dass die häusliche Arbeit nicht zu den Tätigkeiten gehört, die man bis ins Rentenalter ausüben kann. Eine Annahme, die ich nach fünf Jahren mit den Händen bis zum Ellbogen in fremden Kloschüsseln und Spülbecken sowie dem endlosen Kampf mit Bergen fremder Dreckwäsche mit gutem Gewissen unterschreiben kann.
Das Märchen bei München
Der südwestlich von München gelegene Starnberger See ist seit jeher ein beliebtes Ziel deutscher Eliten, auf der glatten Wasseroberfläche, in der sich die verschneiden Alpen spiegeln, übten schon die bayrische Herzogin und spätere österreichische Kaiserin Sisi oder der König Ludwig II. das Steinehüpfen. In ihren Fußstapfen treten etwa hundert Jahre später die deutlich weniger anmutigen Reichen und Schönen von heute.Vor sechs Jahren hat sich Gabriela einen märchenhaft reichen Münchner Unternehmer angelacht und zu ihrer Lebensmission wurde, möglichst schnell möglichst viele Nachkommen zu produzieren.
Unsere Chefin, nennen wir sie zum Beispiel Gabriela Bergen, ist zwar mit dem deutschen Luftfahrtpionier Otto Lilienthal verwandt, doch in den fünf Generationen zwischen ihnen wurde sein unbestreitbares Genie auf gerade mal zwei funktionierende Gehirnzellen reduziert. Die erste widmet sich dem endlosen Scrollen auf TikTok (und das mit ihren fast sechzig Jahren), und die zweite ist besessen von Auftauen der Embryonen in einer VIP-Fertilitätsklinik in New York. Vor sechs Jahren hat sich Gabriela einen märchenhaft reichen Münchner Unternehmer angelacht und zu ihrer Lebensmission wurde, möglichst schnell möglichst viele Nachkommen zu produzieren (und noch einmal: das mit ihren fast sechzig Jahren) und somit das astronomische Erbe seiner Ländereien unter möglichst viele Köpfe mit ihrem genetischen Material zu verteilen. Eine Art Absicherung, dass seine Kinder und Enkelkinder aus früheren Ehen umso weniger abbekommen.
Der Münchner Mafioso Bergen, wie wir ihn nannten, ist ein herzkranker Siebzigjähriger mit Vorliebe für Zigarren, Alkohol und das Steuern seines Privatflugzeuges oder Helikopters, ungeachtet der Promillewerte in seinem Blut. Also wenn du wissen willst, wem die Stunde schlägt, sie schlägt ganz unmissverständlich für ihn.
„Da siehst du mal, wie anstrengend das ist!“ Statt „mit mir“ spricht Gabriela ausschließlich „zu mir“. Heute war der Anlass dazu der Anblick, wie ich mich durch das exponentielle Wachstum meiner Arbeitsstunden und Aufgaben kaum noch auf den Beinen halten konnte: „Und stell dir mal vor, wie das ist, wenn wir auf den Seychellen sind und ich niemanden dabei habe! Da dauert meine Schicht 24 Stunden am Tag! Und mich zahlt keiner dafür!!!“ Ja, Gabriela hat ganz offensichtlich auf ihre Art gegen die Definition von Elternschaft rebelliert. Ein nicht lukratives, verlustbringendes Geschäft.
Dieses ganze Ehe- und Familienprojekt ist ihr eigener Egotrip, Gabi hat sich selbst zum Oberhaupt ernannt, und ihren Mann nennt sie ganz ohne Ironie „laufendes Portemonnaie“ (neben der Fähigkeit zur Selbstkritik fehlt es den beiden auch komplett an Humor). In den letzten zwei Monaten bekamen wir das „Portemonnaie“ nur einmal zu Gesicht, als er zwischen einem Ausflug mit seinem Privatjet vom Skifahren in Kanada, Segeln in Brasilien und Tauchen auf den Malediven kurz vorbeischaute, um seine Koffer umzupacken.
Gabis Anweisungen kommen alle ausschließlich in Form von WhatsApp-Nachrichten – eine direkte Kommunikation mit uns hieße nämlich zuzugeben, dass auch wir menschliche Wesen sind, was allerdings nicht in der Stellenbeschreibung steht. Ein Haushaltspaar. Das klingt wie der Name eines Haushaltsgeräts und genau das wird von uns auch erwartet. Sobald wir nicht im Haupthaus sind, nimmt uns Gabi als Geräte wahr, die still in ihrem Kämmerchen im Gästehaus sitzen und dort angeschlossen am Ladegerät warten, bis sie durch eine Whatsapp-Nachricht wieder aktiviert werden. Die blinkt in unseren Telefonen oft auch um elf Uhr abends auf: „Einer der Hunde hat im Auto auf den Kindersitz gebrochen, der muss sofort gereinigt werden, morgen früh geht es zur Schule.“
Heute sind es drei Monate her, seit wir hier sind. Von sieben Uhr morgens und oft bis sieben Uhr abends bin ich mit Schrubben, Kochen, Bett machen, Wäsche waschen, Polieren oder Bügeln beschäftigt und grinse mein demütigendes Spiegelbild in der unpraktischen Spiegeldusche an, die ich mir selbst niemals würde leisten können. David kümmert sich derweil um die Tiere, erledigt Einkäufe, mäht täglich den Rasen, jätet, sammelt Hundeextremente ein, die fast überall auf dem Grundstück verstreut sind, obwohl wir mit den Hunden täglich zwei zweistündige Spaziergänge um den See machen müssen. Nachdem ich jeden Morgen die Kinder gefüttert und angezogen habe, bringt sie David mit dem Auto zur Schule und schickt mir dann nachmittags auf dem Rückweg eine Nachricht, damit ich rechtzeitig mit dem Abendbrot beginne. Dann sitzen wir gemeinsam mit den Kindern über den Hausaufgaben gebeugt, spielen mit Lego und warten, bis jemand von den sogenannten Eltern zu Hause erscheint, damit wir uns in unserem Zimmer im Gästehaus an unsere Ladegeräte anschließen können.
Ende des Nomadenlebens
Zur großen und gänzlich unverhohlenen Freude von Eltern und Freund*innen soll unsere jetzige bayrische Station das letzte Kapitel unseres Nomadenlebens sein. Am Ende haben wir auf unseren Reisen doch ein Stückchen fruchtbarer Erde in Italien gefunden, wo wir vielleicht tatsächlich Wurzeln schlagen könnten. Bei den Bergens haben wir uns notgedrungen für fünf Monate verpflichtet, um unser Finanzloch zu stopfen. Die ständig wachsende Liste der täglichen Aufgaben erschöpft mich zwar, aber sie erschreckt mich nicht. Zwischen Waschmaschine und Trockner, zwischen Dämpfen, Bügeln und Zusammenlegen fremder Wäsche träume ich von einem eigenen Zuhause. Manchmal kichere ich einfach so vor mich hin, wenn mich das Wonnegefühl wie eine Stromladung durchfährt bei der Vorstellung, dass ich bald schon eine eigene Schublade haben werde, in die ich meine eigene Unterwäsche zusammenlegen kann.Während mir diese Illusion hilft, um jeden Morgen um sechs aus den Federn zu springen, scheint es für die erschreckend verstörte Gabriela genau umgekehrt zu sein – viel zu oft irrt sie wie der Geist von Miss Havisham durch ihre gläserne Designervilla am Seeufer herum.
Stell dir dein Leben wie eine Gleichung vor. Ziehe alle finanziellen Sorgen ab. Dann ziehe alle möglichen Anhängsel der menschlichen Existenz ab, all diese Kleinstaufgaben aus der Kategorie Versorgung von Kindern, Tieren und Haus. Teile den Rest durch 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche und 12 Monate im Jahr. Was bleibt? Tabula rasa, ein klaffendes schwarzes Loch existenziellen Grauens. Von außen betrachtet lebt Gabriela den Traum jeder tschechischen Mutter. Hundert Prozent der alltäglichen häuslichen und familiären Aufgaben und Verpflichtungen delegiert sie an bezahlte Helfer*innen. Aber wenn man dann keine Hobbys hat und pflegt, keine Leidenschaften oder Ambitionen, ob privater oder professioneller Natur, mit denen man die leer gewordene Stelle füllt, bricht die ganze Gleichung zusammen. Und genauso tut es Gabrielas Gesundheit.
Womöglich geht dieses Phänomen seit jeher Hand in Hand mit der ungleichen Verteilung von Kontrolle und Macht. Macht und Geld sind zwei Seiten einer Medaille (ha!) und wenn mir die letzten fünf Jahre meines Lebens eines versichert haben, dann ist es die Erkenntnis, dass der Mensch nicht in der Lage ist, einen Überschuss an Macht und Geld zu ertragen. Und wie gehen damit die Hausangestellten um? Ich habe in den letzten Jahren eine weitverbreitete Tendenz unter uns Hausangestellten bei den Superreichen beobachtet: Jeder von uns, unabhängig von Alter oder Nationalität, setzt bei der Arbeit eine Art Maske aus Demut und Professionalität auf, hinter der eine toxische Mischung aus Wut, empfundener Ungerechtigkeit und Undankbarkeit, erlittenen Verletzungen und mangelnder Wertschätzung brodelt. Die Art und Weise, wie wir Haushaltsgeräte voller Groll versuchen, die Waagschalen unter diesen demütigenden Arbeitsbedingungen zu unseren Gunsten auszugleichen, nimmt unterschiedliche Formen an, die von kleinen Diebstählen bis hin zu guerilla-artiger Sabotage reichen, wie zum Beispiel in einem veganen Haushalt Eierkuchen zu machen, den teuren Cognac schluckweise in die eigene Thermoskanne verschwinden zu lassen oder „aus Versehen“ Chefs Lieblingskaschmirpullover zusammen mit anderer Wäsche zu waschen.
In fünf Monaten sind wir in einem anderen Land, im eigenen Haus und die einzigen Unterhosen, die wir je bleichen werden, werden unsere eigenen sein.“
Ich habe mir während einer von Mafiosos mehrwöchigen Abwesenheiten heimlich auf seinem Drucker das Foto unseres italienischen Häuschens ausgedruckt und auf meinen Nachttisch geklebt. Jede Nacht vor dem Einschlafen rufe ich mir laut ins Gedächtnis, dass wir von unserer Dienstleistung definitiv mehr profitieren werden als die widerlichen Bergens. „In fünf Monaten sind wir in einem anderen Land, im eigenen Haus und die einzigen Unterhosen, die wir je bleichen werden, werden unsere eigenen sein.“
Die Krise im Herbst des Lebens
Heute um sieben Uhr morgens stürmten fünfzehn bewaffnete Polizisten und zehn Ermittler der Münchner Kripo buchstäblich die Villa der Bergens. Offensichtlich haben wir mit dem Spitznamen Mafioso den Nagel auf den Kopf getroffen. Der Baron dubioser Finanzgeschäfte Bergen befindet sich derzeit aufgrund einer akuten „Krise im Herbst des Lebens“ auf einer längeren Reise auf dem anderen Ende der Weltkugel, natürlich rein zufällig. Gabriela, der Geist von Miss Havisham, arbeitet ganz unaufgeregt weiter an ihrem Make-up im Schlafzimmer, während in der Küche, wo wir gerade den Kindern das Frühstück servieren, die Polizei ein mobiles Büro improvisiert und diverse Laptops und Aufnahmegeräte verkabelt.„Solche Dinge passieren reichen Menschen wie uns immer wieder. Die Polizei muss sich nur vergewissern, dass die Geschäfte meines Mannes voll und ganz gesetzeskonform sind, was sie selbstverständlich sind“, erklärt Gabriela, während wir die Kinder schnell in ihren Porsche Cayenne verfrachten. Eine Polizeirazzia so früh am Morgen hat ihren Cortisolspiegel in die Höhe getrieben, und sie muss sich schnell eine Vitamininfusion bei ihrem Heilpraktiker organisieren.
„Mein Mann möchte, dass ihr alle Dokumente abfotografiert, die sie von hier wegschaffen wollen und benachrichtigt mich, sobald die Kripo fort ist. Und falls sie fragen, kein Wort darüber, dass ihr im Gästehaus wohnt, mein Mann wünscht nicht, dass sie da auch nur einen Fuß über die Schwelle setzen.“
Nicht nur, dass wir kein eigenes Zuhause haben. Jetzt sollen wir auch noch die Polizei über unseren Übergangswohnsitz hier in Bayern anlügen. Auch eine dumme Putze wie ich, die irgendwoher aus dem armen Osten stammt (Gabriela ahnt bis heute nicht, dass mein Heimatland nur zwei Stunden Autofahrt von hier entfernt ist), weiß, dass wenn zwölf Kriminalbeamte den ganzen Tag das Haus durchsuchen, passiert es nicht, um sich über irgendwas zu vergewissern. Das Verbrechen ist bereits passiert. Und die dumme Putze hat sehr wohl den Papierstoß und die verschlossenen Sicherheitskoffer bemerkt, die auf bizarre Weise hinter den Toilettenpapierrollen in einem der Badezimmer im Gästehaus versteckt sind. Am Ende lohnt es sich immer, die Menschen, die Tag für Tag Ihre dreckige Wäsche in den Händen halten, mit Respekt zu behandeln.
„Na Halleluja, ich hoffe, es war jetzt auch für euch der letzte Tropfen, packt eure Koffer und ab ins richtige Leben.“
Eine Nachricht von meiner Mutter. Ironischerweise gehören die Eltern zu den wenigen Personen, mit denen wir über solche turbulenten Entwicklungen unserer Leben im Dienste der Superreichen reden können. Alle anderen Freundinnen und Freunde warten still und kommentarlos auf den sprichwörtlichen letzten Tropfen für uns. In ihrer satirischen Allegorie des tschechischen postkommunistischen Traums vom plötzlichen Reichtum durch eine ungeahnte Erbschaft Dědictví aneb Kurvahošigutntág (Das Erbe oder: Fuckoffjungsgutntag) – ironischerweise der Lieblingsfilm meines Vaters – traf die Regisseurin Věra Chytilová ein sehr universelles Thema. Solange auf mein Bankkonto regelmäßig jeden Monat mein westliches Gehalt floss – denn im Westen gebe es doch immer ein viel besseres Leben – und solange man bei mir in London kostenlos übernachten konnte, statt für ein teures Hotelzimmer zu bezahlen, war ich der Liebling der ganzen Familie und de facto auch meiner gesamten Heimatstadt.
Manchmal, während ich in Bayern eine von den Millionären vollgeschissene Kloschlüssel putze, stelle ich mir vor, ich hätte Millionen von Euro gewonnen und könnte den Dinosauriern von der Sorte des Filmhelden Bohuš ganz selbstbewusst verkünden: „Und jetzt kaufe ich mir euch alle.“
Bei diesem Leben auf Reisen, voll beschäftigt damit, anderen ein Zuhause zu gestalten, bleibt einem gar kein Raum übrig, um noch etwas Eigenes aufzubauen.
Laut den tschechischen Gehaltstabellen für Sozialarbeiter*innen für das Jahr 2024 liegt unser Lohn in der höchsten Entgeltgruppe 15, Stufe 12 – was einem Gehalt nach 32 Jahren Berufserfahrung entspricht. Aber warum erscheint mir unsere Situation manchmal so ähnlich der von Bohuš aus dem Film, nachdem er das Erbe verprasst hat? Vielleicht ist das Problem gar nicht die Höhe des Gehalts, sondern die Tatsache, dass bei diesem Leben auf Reisen, voll beschäftigt damit, anderen ein Zuhause zu gestalten, einem dann gar kein Raum übrigbleibt, um noch etwas Eigenes aufzubauen. Man ist ein Mensch ohne Netzwerke und ohne eigene Community, der nirgendwohin zurückkehren kann. Ohne die Verantwortung für Zimmerpflanzen, für das Abschreiben von Gaszählerständen, für die Pflege des Rasens vorm Haus oder das rechtzeitige Herausstellen von gelben oder blauen Mülltonnen. Physisch zwar anwesend, aber metaphorisch – im Sinne eines geteilten Lebenswegs und seiner Richtung – weit weg von seiner Familie – Beziehungen, verwässert durch Telefonnachrichten über Erlebnisse von Höhen und Tiefen, die weder die eine noch die andere Seite versteht.
Es bleibt die traurige Realität, dass unsere Heldenreise in Richtung persönliches Wachstum und Nestbau für uns bedeutete, die Illusion von Besitztum komplett aufzugeben, und damit auch ein Zuhause, egal ob als Untermiete oder in anderer Form, und so nicht nur einen abstrakten Status zu verlieren, sondern auch ganz konkrete und nicht unbedeutende Freund*innen, die Sozial- und Krankenversicherung und einen großen Teil der eigenen finanziellen und beruflichen Geschichte. Die Folgen davon werden wir bis zum Rentenalter mit uns herumschleppen, bis uns dann, wie ich aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung annehme, die Generation Z, während wir im Rollstuhl sitzen, von einer Felskante hinunterstößt.
Ein Schritt nach vorne, drei zurück.
Für andere Bäume pflanzen
Meine Mutter begab sich damals auf ihre epische dreiminütige Heldinnenreise nach Deutschland mit dem Ziel, einen fetten Batzen Geld für mein künftiges Studium nach Hause zu bringen. Die geteilte Illusion des postkommunistischen Rausches, genährt durch das Versprechen von Demokratie und Kapitalismus: Je höher die Bildung, desto größer die beruflichen Möglichkeiten mit proportionalem Verhältnis zur Gehaltshöhe, ergibt: ein viel besseres Leben, als wir es einmal hatten. Das bessere Leben ist in dieser Gleichung austauschbar mit dem glücklichen Leben. Die übrigen Komponenten der Lebenserfüllung in dieser philosophischen Gleichung sind ähnlich geradlinig und es ist kein Geheimnis, dass alles, was außerhalb des Plans „ein Haus zu bauen, einen Sohn zu zeugen und einen Baum zu pflanzen“ läuft, für die Generation meiner Eltern nicht nachvollziehbar und somit falsch ist.Spätestens als ich meine Rollschuhe – ein Geschenk zum zehnten Geburtstag – mit meiner Klassenkameradin gegen ihre Barbiepuppe mit der unwiderstehlich glitzernden Meerjungfrauenflosse getauscht hatte, verloren meine Eltern die Hoffnung in Bezug auf mein Zeugen der Söhne und das Generieren von Enkelkindern. Sie unterstützten geduldig meine Jagd nach akademischen Titeln, aus denen nicht ein Spross einer lukrativen Karrieren geboren wurde, also fiel auch die Idee des Hausbaus weg, und Bäume pflanze ich heute in fremden deutschen Gärten. Mit dem entschlossen radikalen Weben der eigenen queeren Identität abseits des Weges, der von mir erwartet worden war, tat ich wieder einmal einen riesigen Schritt nach vorn und dann gleich drei zurück. Aber vielleicht ist das die einzige Möglichkeit, sich auf einem nicht kartografierten Terrain zu bewegen?
Die Heimat aufzugeben, heißt auch, einen Teil der eigenen Identität aufzugeben. In Resignation auf die Ambitionen, an einem bestimmten Ort Wurzeln zu schlagen, stellt man sich dem Risiko, zu erfahren, zu wem man im Moment der Entwurzelung und Verpflanzung in einer neuen Umgebung wird.
Wenn es wirklich stimmt, dass wir die eigene Geschichte dadurch formen, welche Geschichten wir uns über uns selbst erzählen, ist es vielleicht jetzt an der Zeit, das Narrativ zu ändern. Statt der Horrorerzählung von der Rebellion gegen die äußeren Erwartungen, gegen soziale Ungerechtigkeit und den unerträglich erstickenden Wunsch der eigenen Eltern, ein glückliches Kind zu haben, das nirgendwo anders Klos putzen muss als bei sich Zuhause, erzählen wir lieber mit etwas mehr Leichtigkeit und Humor von der verrückten Koketterie mit den modernen Formen der Sklaverei, die am Ende nicht zu den Taschen voll Gold in Form eines Traumzuhauses geführt haben. Sondern durch das Stolpern, Herumirren und die falschen Abzweigungen zu der Feststellung, wie das Traumleben und Traumzuhause auf keinen Fall aussehen sollen. Auf jeden Fall: keine Haushaltshilfe. Vielen Dank, meine eigenen Unterhosen kann ich schon selbst waschen.
Die Polizeirazzia in Bayern interpretiere ich gern als eine Variation jener bekannten narrativen Lösung antiker Dramen Deus ex machina. Ein Eingriff von oben, der die Handlungsstränge unserer Geschichte schnell und unausweichlich entwirrte und uns wieder auf den richtigen Weg brachte, etwas näher an den Mainstream. Auf dem können wir erst jetzt nach dem Ablauf unseres fünfmonatigen Arbeitsvertrags loslaufen. Wer zahlt, bestimmt die Regeln.
Das mit all unserem Besitz vollgestopfte Auto platzt auf dem Weg nach Süditalien aus allen Nähten. Das Haus steht mitten in der Wildnis, zwei Stunden Autofahrt von Rom entfernt, und gehört uns schon seit ein paar Monaten, aber bis jetzt haben wir dort keine einzige Nacht geschlafen. In meiner Fantasie sollte es ein triumphaler Moment sein, der Starnberger See eingerahmt in den Rückspiegel, voller Hoffnung, Erwartungen und dem sonnendurchfluteten Freiheitsversprechen. In Wirklichkeit sind wir voller Angst und Bange. Ähnlich wie damals, als wir unser stabiles Londoner Leben aufgegeben hatten, werden wir uns auch diesmal von Grund auf verändern müssen, damit wir uns an die neue Umgebung, den neuen Rhythmus und die neugewonnene Stabilität anpassen können. Und ähnlich wie damals im Flieger aus London kann ich mir auch jetzt nicht vorstellen, dass eine solch starke Veränderung überhaupt möglich ist. Aber sich der Angst zu ergeben, bedeutet das Ende der Reise, und man muss doch den Eltern noch so viel beweisen. Also einatmen und –
– ein Schritt nach vorne.
Oktober 2024