Das menschliche Bewusstsein ist voller Fallstricke, die unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit vereinfachen und verfälschen: Welche Wahrnehmungsfehler es zu vermeiden gilt, wenn man nicht auf Fake News hereinfallen will.
Wahrnehmungsfehler begleiten uns auf Schritt und Tritt. Wenn wir im Winter aus der warmen Wohnung nach draußen gehen und jemand uns fragt, wie viel Grad es sind, dann sagen wir mit großer Wahrscheinlichkeit, dass es unter Null Grad ist. Zumindest, bis wir sehen, dass die Wasserpfützen nicht gefroren sind – ein eindeutiger Beweis, dass es über Null Grad ist. Unsere Gänsehaut und das Klappern unserer Zähne haben uns zu einer falschen Annahme verleitet, die wir automatisch als Wahrheit erachten.Bei der Bewertung von Ereignissen und beim Treffen von Entscheidungen verlassen wir uns nicht selten auf den ersten Eindruck. Solche Fallstricke des menschlichen Bewusstseins, die unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit vereinfachen – und manchmal sogar verfälschen – bezeichnen wir als Wahrnehmungsfehler. Sie sind auch dafür verantwortlich, dass die sozialen Medien unser Denken mitunter genauso stark beeinträchtigen wie körperliche Signale.
Es wurden bereits so viele Wahrnehmungsfehler identifiziert, dass man sie sich kaum alle merken kann. Manche von ihnen nutzen wir bewusst, um uns besser verständlich zu machen: Gewisse Funktionsweisen des Gehirns ermöglichen es uns, die Aufmerksamkeit unseres Gegenübers zu fesseln, ihm eine Vorstellung von abstrakten Problemen zu vermitteln und seine Empathie zu wecken. Auch in diesem Text finden sich Metaphern und andere Stilmittel, die dem Leser das Verständnis erleichtern und ihm einige hilfreiche Ratschläge vermitteln sollen.
Wie Journalisten Wahrnehmungsfehler nutzen
Wenn wir über wichtige gesellschaftliche Probleme – wie Armut, Ausgrenzung, Gewalt und Krankheiten – sprechen, so tun wir dies gern anhand von konkreten Einzelschicksalen, die uns stärker berühren als abstrakte Zahlen. Wir sind eher geneigt, einem Sprecher unsere Aufmerksamkeit zu schenken und gemäß seiner Intention zu reagieren, wenn ein gesellschaftliches Problem ein Gesicht und einen Namen erhält – wenn es vermenschlicht wird. Doch es geht auch umgekehrt: Die entpersönlichte Metapher der „Flüchtlingsflut“, die über Europa hereinbricht, wurde so mächtig, dass sie die Ansichten und politischen Entscheidungen ganzer Gesellschaften beeinflusste.In beiden Fällen spielen Wahrnehmungsfehler eine wichtige Rolle. Im ersten Fall ruft eine unmittelbare Identifikation mit dem Opfer eine wesentlich stärkere emotionale Reaktion hervor, als eine objektive, mit Statistiken unterlegte Darstellung des Sachverhalts. Im zweiten Fall haben wir es gleich mit zwei Phänomenen zu tun: dem Effekt der Fremdgruppenhomogenität – unserer Neigung, negative oder positive Merkmale einzelner Vertreter einer Gruppe sämtlichen Vertretern dieser Gruppe zuschreiben – und der Clustering-Illusion, die uns nach Kausalitäten suchen lässt, wo es gar keine gibt, zum Beispiel zwischen der Zunahme von Flüchtlingen und terroristischen Anschlägen.
Zum Handwerk von Journalisten und Journalistinnen gehört auch das geschickte Ausnutzen von Wahrnehmungsfehlern, um Tatsachen auf eine möglichst interessante und prägnante Art und Weise zu vermitteln. Journalisten verweisen häufig auf Autoritäten und Expertinnen, deren Behauptungen nur selten zur Diskussion gestellt werden (Autoritätsfehler). Eine weitere Strategie besteht darin, den Lesern ungewöhnliche Fakten und Ereignisse so zu präsentieren, um ihr Interesse für ein Problem und seine Ursachen zu wecken. Dank des Primäreffekts (also des Gedächtnisphänomens, dass wir uns an früher eingehende Informationen besser erinnern als an später eingehende) sind wir in der Lage, uns wichtige Informationen besser einzuprägen und sie später anhand des primären, verblüffenden Beispiels wiederzugeben.
Wir irren wegen Emotionen
Problematisch wird es dann, wenn wir uns dieser Fehler in unserer Wahrnehmung nicht (mehr) bewusst sind. Dies geschieht vor allem dann, wenn wir unter Zeitdruck stehen und starke Emotionen spüren. Also zum Beispiel, wenn wir uns an den hitzigen Diskussionen in den sozialen Medien beteiligen. In diesen Momenten können bereits wenige Wahrnehmungsfehler dazu führen, dass wir eine Falschmeldung nicht als solche erkennen, uns von ihr beeinflussen lassen und sie weitergeben. Eben darin liegt die zerstörerische Kraft von Fake News: Sie nutzen natürliche Mechanismen, die bewirken, dass wir falsche Informationen selbst begründen und weitergeben.Wenn wir Wahrnehmungsfehler vermeiden wollen, müssen wir wissen, wie wir sie identifizieren können, und unser eigenes Denken kritisch hinterfragen. Vergessen wir vor allem nicht den Toter-Winkel-Effekt: Wir erkennen Wahrnehmungsfehler bei anderen, sind jedoch selbst nicht frei von ihnen. Wir konzentrieren uns darauf, Fehler in der Argumentation des anderen zu finden, und vergessen dabei, unsere eigenen Argumente einer objektiven Bewertung zu unterziehen. Der Third-Person-Effekt stärkt diese Überzeugung: Wir glauben fest daran, dass die Massenmedien andere stärker beeinflussen als uns selbst.
Manchmal neigen wir auch zum Fatalismus, und das unabhängig von unseren politischen Ansichten. Die Überzeugung, dass früher alles besser war und die Welt heute auf eine Katastrophe zusteuert, führt zu einer Einschränkung der Perspektive. Erwarten wir möglicherweise geradezu, dass sich unsere schlimmsten Vermutungen bestätigen, und weigern uns deshalb, bestimmte Themen oder Personen aus einer anderen, wohlwollenderen Perspektive zu betrachten? Hierbei handelt es sich um den am weitesten verbreiteten Wahrnehmungsfehler, den Bestätigungsfehler: Wir neigen dazu, Informationen, die unsere Überzeugungen bestätigen, stärker zu gewichten als solche, die ihnen widersprechen. Damit verbunden ist der Hostile-Media-Effect: Darstellungen, die den eigenen Überzeugungen widersprechen, werden als ein Produkt der „Lügenpresse“ abgetan. Eine solche Abwertung der Medien fällt uns umso leichter, als Herausgeberinnen und Journalisten in der Tat immer weniger um Objektivität bemüht sind.
Wahrnehmungsfehler eine Grundlage von Fake News
In der Ära der sozialen Medien hat sich eine besondere Variante des Gruppendenkens herausgebildet. Wir neigen zu Herdenverhalten und fühlen uns gern als Teil einer großen Gruppe. Oft übernehmen wir Meinungen, die in den Medien verbreitet werden, nur deshalb, weil sie die Meinung „unserer“ Gruppe darstellen. Dieses konformistische Verhalten vervielfacht sich und bewirkt den sogenannten Mitläufereffekt. Verantwortlich für diese Vervielfachung ist das Phänomen der Availability Cascade: Je häufiger und intensiver eine Information geteilt wird, desto überzeugender erscheint uns ihr Inhalt. Dieser Trick wird in Desinformationskampagnen ganz bewusst eingesetzt: Sensationsnachrichten werden mithilfe von Social Bots verbreitet, und sobald sie von ahnungslosen Nutzern oder größeren Medien aufgegriffen werden, werden die entsprechenden Profile wieder gelöscht, um jegliche Spuren zu verwischen.Auf diese oder ähnliche Weise verbreitete Vorurteile, die sich oft gegen Politiker oder Konkurrenzprodukte richten, verschwinden auch dann nicht, wenn sie objektiv widerlegt werden. Verantwortlich dafür sind zwei uns bereits bekannte Wahrnehmungsfehler. Wir bevorzugen früher eingehende Informationen gegenüber später eingehenden (Primäreffekt) und versuchen, bereits bestehende Überzeugungen zu bestätigen (Bestätigungsfehler).
Hinzu kommt noch ein weiterer, relativ neu entdeckter Wahrnehmungsfehler, der Backfire-Effekt: Neue Fakten, die unseren eigenen politischen Ansichten widersprechen, können diese noch zusätzlich verfestigen – insbesondere dann, wenn wir uns gerne als unfehlbar sehen möchten. Dies ist sicherlich eine Erklärung für die Wahlerfolge von Parteien, die wiederholt bei der Verbreitung von Unwahrheiten ertappt wurden und die sich dennoch der ungebrochenen Unterstützung ihrer Anhänger erfreuen.
Das Problem der Fake News lässt sich also nicht allein durch den Zuwachs an Wissen lösen. Dennoch kann es sich lohnen, auf die eigene „intellektuelle Hygiene“ zu achten und sich mindestens einmal täglich bei einem Wahrnehmungsfehler zu ertappen – um ihn möglicherweise beim nächsten Mal zu vermeiden.
November 2018