Das gegenwärtige mediale Ökosystem und eine Vielzahl von Technologien ermöglichen die Verbreitung von Lügen, Manipulationen und Verschwörungstheorien im großen Stil. Artikel von verschwörungstheoretischen Portalen gehören zu den meistgeteilten tschechischsprachigen Texten im Internet. Die einschlägigen Webseiten haben treue Anhänger, ihre Botschafter sitzen in parlamentarischen Ausschüssen oder Medienräten.
Obwohl die russische Staatspropaganda die tschechische Szene ausgiebig beliefert und mit ausgewählten Personen zusammenarbeitet, stammt die Vorstellung, dass hinter den Desinformationsportalen vom Kreml bezahlte und gelenkte Trolle sitzen, für sich selbst bereits ein bisschen aus dem Reich der Verschwörungstheorien.Die Betreiber verschwörungstheoretischer Webseiten sind schon dankbar für eine Einladung zu verschiedenen Treffen oder Foren oder dafür, dass sie in russischen Medien auftreten dürfen, womit sie den Anstrich geschätzter Experten erhalten. Die meisten von ihnen tun dies aber freiwillig und aus der Überzeugung heraus, dass sie eine verborgene Wahrheit zeigen.
Wohin mit der Spinne in der Yucca-Palme?
Sie tun dies auch aus einem Bedürfnis nach Anerkennung und dem Gefühl, dass ihre Meinungen sonst kein Gehör finden. Sie haben Freude daran, als Betreiber von amateurhaften Internetportalen, Radios und Fernsehstudios „eigene Nachrichten“ machen zu können. Einige finanzieren den Betrieb aus Werbeeinnahmen oder bekommen Unterstützung von ihren Fans. Das Publikum bekommt dafür die Genugtuung, dass es etwas Besonderes erfährt, das man ihnen „im öffentlich-rechtlichen Tschechischen Fernsehen nicht sagt“.In ihren Analysen von prorussischen Webseiten und „fake news“ begnügen sich tschechische Medien, regierungsunabhängige Think tanks, NGOs, Aktivisten und Sicherheitsexperten meistens mit dem einfachen Etikett, dieser oder jener sei ein prorussischer Troll oder Desinformator, der anschließenden Bezifferung der medialen Reichweite und dem Suchen von Verbindungen zwischen Politikern und „verwerflichen“ Facebook-Gruppen.
Das bloße Kennzeichnen eines „feindlichen“ Inhalts schürt jedoch die irrtümliche Hoffnung, dass „Desinformation“ einfach zu entwurzeln sei. Das ganze Bemühen gleicht der Ausrufung eines Heiligen Krieges gegen die Verbreitung von urban legends über die Spinne in der Yucca-Palme und verseuchte Injektionsnadeln in den Sitzen von Linienbussen.
Das Informationsökosystem, das sich gegenwärtig herausbildet, widersteht allerdings den alten Methoden und Kategorien, die noch im 20. Jahrhundert zum Verständnis der medialen Umgebung und zum Kampf gegen Propaganda benutzt wurden. Aktivistenblogs und amateurhafte Berichterstattung sind Ausdruck einer sich vollziehenden technologischen Revolution und der Einbindung einer immer größeren Zahl von Menschen in das System.
Die von einer technologischen Gesellschafterschaffene digitale DNA formt eine Umgebung, die eine existierende soziale Pathologie verstärkt, die wiederum geschickt von Ideologen und Autoritären ausgenutzt wird. Russland selbst ist eines ihrer Opfer.
Baba Wanga in der Verschwörungshitparade
Verschwörungstheoretiker nehmen unter den „Desinformatoren“ eine führende Stellung ein. Sie fokussieren auf die Aufdeckung „verborgener“ Machtstrukturen und darauf, wie die Welt „in Wirklichkeit“ funktioniert, und gelten damit als Experten, wenn auch vor allem unter ihresgleichen. Das sind keine Verrückten mit Aluminiumhüten, sondern Vollblutaktivisten, die sich den Kampf für die Wahrheit als Hauptziel erkoren haben, an dessen Umsetzung sie ausdauernd arbeiten.„Mehr und mehr Menschen stellen fest, dass grundlegende Positionen und Ansichten von Menschen, die sich mit Verschwörungen beschäftigen, wahrhaftig sind und dass sie funktionieren. Und deshalb vertrauen ihnen immer mehr Menschen“, lobt sich für die gewachsene Beliebtheit der Aktivist Jan Korál, Betreiber der Seite nwoo.cz, eines der aktivsten tschechischsprachigen Internetportale im Bereich der Verschwörungstheorien. „Wir haben uns zehn Jahre lang sehr bemüht und jetzt liest und glaubt uns ein Viertel der Öffentlichkeit. Dabei sind wir ständig verspottet worden“, ergänzt die Aktivistin „für die Wahrheit über den 11. September“ Jana Karásková.
Die Beliebtheit von Verschwörungstheorien bestätigt eine Umfrage der Gesellschaft Globsec von 2018, der zufolge 25 Prozent der Einwohner Tschechiens der Behauptung zustimmen: „Juden haben zu viel Macht und kontrollieren im Verborgenen viele Regierungen und Institutionen in der Welt“.
In der Slowakei glauben dieser Verschwörungstheorie sogar mehr als die Hälfte der Bevölkerung (52 Prozent). Der Theorie, die Amerikaner hätten die Twin Towers selbst gesprengt, glauben in Tschechien 17 Prozent der Einwohner, in der Slowakei sind es 39 Prozent. Ein Fünftel der Slowaken ist sich „nicht sicher“.
Artikel von verschwörungstheoretischen Portalen gehören zu den meistgeteilten tschechischsprachigen Texten im Internet. Wenn man mit dem Instrument Buzzsumo die meistgeteilten Inhalte zu Themen wie Ukraine, Syrien oder Impfen aufruft, sind darunter zu einem Fünftel bis zu einer Hälfte Inhalte vertreten von verschwörungstheoretischen Portalen oder clickbait-Seiten (deren Absicht eine möglichst hohe Zahl von Userklicks ist).
Die Anzahl der medialen Auftritte zum Thema klassischer Verschwörungstheorien hat sich während der letzten zehn Jahre verdoppelt. Über 95 Prozent davon entfallen auf das Internet.
Verschwörungstheorien in den tschechischen Medien | © Anopress IT Der meistgeteilte Text zum Thema 9/11 ist eine frei erfundene Nachricht auf dem Server veksvetla.cz (etwa: zeitalterdeslichts.cz) über einen CIA-Agenten, der sich auf dem Sterbebett dazu bekannt haben soll, persönlich eines der zerstörten Gebäude mit Sprengstoff präpariert zu haben.
Unter den zwanzig meistgeteilten Texten finden sich Artikel über Prophezeiungen der Anschläge durch die bulgarische Seherin Baba Wanga sowie „nie veröffentlichte Aufnahmen“ auf den meistbesuchten verschwörungstheoretischen Seiten AC24, Sputnik und Svobodné noviny bez cenzury (etwa: Freie Nachrichten ohne Zensur). Nach Punkten steht es 8:12 zwischen den rein verschwörungstheoretischen Seiten und den etablierten Mainstreammedien.
Wahre Epidemie aus unwahren Nachrichten
Wenn wir zwei Artikel hinzuzählen aus den Parlamentní listy (etwa: Parlamentsblätter), von denen einer den Angriff auf die Twin Towers mit der Bilderberg-Gruppe in Verbindung bringt, sowie einen Online-Artikel des nach Einschaltquoten drittgrößten tschechischen Fernsehsenders Prima TV mit dem Titel „Die USA wollten irakisches Erdöl, deshalb stürzten sie die Zwillingstürme selbst. Ist das wirklich nur Spekulation?“ („USA chtěly iráckou ropu, proto si 11. září strhly dvojčata samy. Je to opravdu jen spekulace?“) dominieren das Thema 9/11 eindeutig die Verschwörungstheoretiker.Beim Thema Russland liegt auf Platz 1 ein Artikel vom Server AC24.cz, der mehr als 17.000 Mal geteilt und mehr als 200.000 Mal aufgerufen wurde. Der Artikel trägt die Überschrift „Putin zahlt den Zentralbanken die Schulden zurück. Russland ist damit das erste Land, das sich aus der Umklammerung des Bankensystems befreit“ („Putin doplatil centrálním bankám zbytek dluhu. Rusko se tak stalo první zemí, které se osvobodilo od sevření bankovním systémem“) und war so erfolgreich, dass die Seitenbetreiber ihn ein halbes Jahr später erneut veröffentlichten. Die Zahl der Aufrufe war somit mindestens doppelt so hoch.
„Bei geteilten Texten machen wir das so, um Lücken zu füllen“, bestätigt der Betreiber von AC24.cz Ondřej Geršl die Wiederverwertung von Artikeln. Seinen Texten „hilft“ er außerdem zum Beispiel auf der Facebookseite Sdílíme pravdu (etwa: Wir teilen die Wahrheit mit) mit 22.000 Fans oder mit Fakeprofilen junger Frauen. Mit seinen Webseiten verdient Geršl monatlich zwischen 100.000 und 150.000 Tschechische Kronen (ca. 3.900 bis 5.800 Euro).
In der Hitparade der ersten zwanzig Texte zum Thema Russland finden sich viermal die Parlamentní listy, der verschwörungstheoretische Protiproud (etwa: Gegenstrom) des Publizisten Petr Hájek sowie Aeronet, dessen Redaktion und Betreiber anonym auftreten und nur unter Pseudonymen veröffentlichen.
Ein Fünftel der meistgeteilten Texte zum Thema Impfen stellten in den vergangen zwei Jahren verschwörungstheoretische Portale und anonyme Seiten, die ohne jegliche Prüfung Inhalte von ähnlich orientierten ausländischen Quellen übernehmen.
Unter den Top Ten taucht so ein zweimal wiederverwerteter Artikel von AC24.cz auf mit dem Titel „Warum schweigen die Medien? Schweden verbietet wegen ‚ernster gesundheitlicher Bedenken‘ die Pflichtimpfung“ („Proč média mlčí? Švédsko kvůli ‚závažným zdravotním obavám‘ zakazuje povinné očkování“). Ein manipulativer Text, den die staatliche schwedische Gesundheitsagentur Folkhälsomyndigheten wegen seiner massenhaften Verbreitung offiziell dementieren musste.
Das hat auch Auswirkungen auf das reale Leben. Gerade wegen solcher Texte breiteten sich sowohl in Tschechien als auch in ganz Europa wieder die Masern aus. In Prag überschritten die Neuerkrankungen 2018 sogar die Grenze zur Epidemie.
Wer glaubt daran?
Nicht alle sind „alternativen“ Medien gleich gewogen. Laut einer Erhebung der Agentur YouGov und der Universität Cambridge gibt es Unterschiede zwischen den Wählern verschiedener Parteien und auch zwischen verschiedenen Alters- und Einkommensgruppen. Von der Existenz geheimer Machtbünde, die Kriege und Wirtschaftskrisen steuern, sind in Großbritannien 43 Prozent der Wähler der Labour Party und 46 Prozent der Wähler der UKIP überzeugt, gegenüber 27 Prozent unter den Anhängern der Konservativen und 17 Prozent unter denen der Liberaldemokraten.Bei den unter 24-Jährigen stimmen dieser Verschwörungstheorie 20 Prozent zu, gegenüber 41 Prozent der über 60-Jährigen. Zehn Prozent trennen wiederum die Gruppen mit verschieden hohen Einkommen. Ähnliche Zahlen ergaben die Fragen nach Theorien über die absichtliche Verbreitung von AIDS oder heimliche Kontakte von Regierungen zu Außerirdischen.
Der Glaube an Verschwörungstheorien geht Hand in Hand mit dem Vertrauen oder Misstrauen in die Medien. Laut Globsec überwiegt bei einer erdrückenden Mehrheit slowakischer Wähler das Vertrauen in die traditionellen Medien – bis auf zwei Ausnahmen. Diese sind die Wähler der rechtspopulistischen Sme rodina (Wir sind eine Familie) und Marian Kotlebas faschistischer Ľudová strana (Volkspartei), bei denen das Vertrauen in die „alternativen“ Medien überwiegt.
In Tschechien verfolgen die „alternativen“ Nachrichten laut einer Studie des International Republican Institute aus dem Jahr 2017 ein Fünftel der Bevölkerung mehrmals in der Woche und 40 Prozent mindestens einmal im Monat. Insgesamt 12 Prozent der Leser glauben ihnen sogar mehr als den Hauptnachrichtenkanälen. Eine detailliertere Erhebung, die auch die politischen Präferenzen der Konsumenten untersucht, fehlt für Tschechien.
Atlantis, Außerirdische und Illuminaten
Zumindest einen Hinweis liefert eine Analyse, wie sich die Besucher der Internetseiten verschiedener Parteien mit denen von ausgewählten verschwörungstheoretischen Portalen (Liste von konspiratori.sk) überschneiden. Aus ihr geht hervor, dass die treuesten Leser verschwörungstheoretischer Portale auch Besucher der offiziellen Internetseiten der rechtspopulistischen SPD (Strana přímé demokracie – Partei der direkten Demokratie) von Tomio Okamura sind. Die Überschneidungen bei ihnen übertreffen die der anderen Parteien um mehr als das Doppelte (siehe Tabelle).Die SPD ist im Übrigen zusammen mit der rechtsextremen DSSS (Dělnická stranou sociální spravedlnosti – Arbeiterpartei der sozialen Gerechtigkeit) als offizieller Partner des Freien Radios (Svobodné rádio) angegeben, das gegen die Illuminaten und Bilderberg kämpft. Abgeordnete der SPD tauchen regelmäßig als Gäste in vielen verschwörungstheoretischen und prorussischen Medien auf. So zum Beispiel auch im Programm des Freien Senders (Svobodný vysílač), der sich unter anderem über geheime Technologien zur Kontrolle des Wetters und zur Erzeugung von Erdbeben sowie über verheimlichte Dokumente über Atlantis und Außerirdische berichtet.
Der Freie Sender bringt regelmäßig Interview mit Vertretern der Nationalen Heimwehr (Národní domobrana), mit Tomio Okamura, mit dem ehemaligen tschechischen Botschafter in Russland und der Ukraine Jaroslav Bašta oder mit dem früheren Präsidentschaftskandidaten Petr Hannig.
Eine Statistik aber schmälert den allgemeinen Aufschwung von Verschwörungstheorien: Die Anfragen nach ihnen in den Suchmaschinen Google und Seznam sanken im Laufe der vergangenen zehn Jahre etwa auf ein Fünftel (siehe Grafik).
Dafür könnten verschiedene Faktoren verantwortlich sein: von geringerem Interesse der Mehrheit bis zur Verbesserung der automatischen Suchvervollständigung. Unter den Suchanfragen erfreuen sich die Illuminaten und Chemtrails des höchsten Interesses. In jedem Fall wäre es ein grundlegender Fehler, die Anhänger von Verschwörungstheorien nur auszulachen. Aus detaillierten Umfragen in den USA und Frankreich geht nämlich hervor, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung an mindestens eine Verschwörungstheorie glaubt.
Zumindest manchmal sind wir also alle paranoid; vielleicht suchen wir nach Gründen, warum die Kollegen plötzlich verstummen, wenn wir den Raum betreten, haben das Gefühl, dass sie hinter unserem Rücken über uns reden …
Forschungen des Psychologen Daniel Freeman im Jahr 2005 ergaben, dass zumindest einmal die Woche bis zu drei Viertel normaler, gesunder Studenten paranoiden Gedanken haben.