Wer staatlichen Autoritäten kein Vertrauen schenkt, glaubt wahrscheinlich auch deren offiziellen Erklärungen nicht. Der Glaube an Verschwörungstheorien korreliert auch stark mit fehlendem Vertrauen zu Freunden, Familienmitgliedern, Nachbarn oder der Polizei. Empfänglicher für Verschwörungstheorien macht auch das Gefühl, dass die eigene Existenz bedroht sei oder man die Kontrolle über das eigene Leben verloren habe. Die Vorstellung äußerer Kräfte oder eines mächtigen Feinds kompensiert das eigentliche Problem.
Verschwörungstheorien dienen als vereinfachte Erklärungen komplizierter Phänomene, Beziehungen oder Situationen sowie zur Verstärkung eines bereits vorhandenen Verdachts. Ein Musterbeispiel ist die Urheberschaft der Anschläge auf die New Yorker Twin Towers. Die Meinungen darüber gehen in unterschiedlichen Ländern stark auseinander – je nachdem, welche langfristigen außenpolitischen Beziehungen das Land pflegt.Laut der Word Public Opinion, einer Umfrage aus dem Jahr 2008, verdächtigten die Menschen in Jordanien und Ägypten am häufigsten Israel, hinter den Anschlägen vom 11. September 2001 zu stecken. In Mexiko und in der Türkei wiederum war die Zahl derjenigen, die der amerikanischen Regierung die Schuld zuwiesen, nahezu gleich hoch, wie die, die von der Täterschaft Al-Qaida überzeugt waren.
Die passende Verschwörungstheorie kann in Situationen, in denen man sich eine unangenehme Wahrheit eingestehen müsste, eine einfache Entschuldigung sein. Die Mehrheit der Befragten aus arabischen Ländern glaubt deshalb nicht daran, dass arabische Täter, die entführten Flugzeuge am 11. September 2001 steuerten, und aus einer Studie der Agentur Wciom geht hervor, dass mehr als die Hälfte aller Russinnen und Russen meint, die Mondlandung der Amerikaner sei inszeniert worden.
Die im heutigen Russland am weitesten verbreitete Verschwörungstheorie ist die eines angeblich koordinierten Angriffs von Historikern auf die Geschichte Russlands. Die Frequenz, mit der russische Medien diese Theorie aufgriffen, gipfelte in hitzigen Debatten über den hundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution, Dokumentarfilmen über die Ermordung der Zarenfamilie und einem Spielfilm über die leidenschaftliche Beziehung des letzten russischen Zaren und der schönen Ballerina Mathilda Kschessinskaja.
Auf der anderen Seite muss man eingestehen, dass sich so mancher Zweifel und Verdacht gegenüber offiziellen Regierungsbehauptungen in einer Reihe von Fällen als begründet erwies – etwa die Massenvernichtungswaffen, die der irakische Diktator Saddam Hussein angeblich besessen haben sollte, und die als Vorwand für den Angriff auf den Irak herhielten.
Als paranoid galten auch jene, die an die massive Bespitzelung und flächendeckendes Abhören seitens der amerikanischen Geheimdienste geglaubt hatten – bis es die Enthüllungen über das System der amerikanischen NSA bestätigten.
Ins Zentrum der Macht
„Die globale Steuerung der Welt funktioniert mindestens schon seit dem alten Ägypten und die gegenwärtigen Kräfte sind Erben und Nachkommen“, erklärt Jan Korál seine Theorie. Korál ist Aktivist und Betreiber der Webseite nwoo.org, eine der aktivsten Webseiten zu Verschwörungstheorien.„Heute sind es beispielsweise die Bilderberg-Konferenzen, früher waren es die Freimaurer, aber die haben bei weitem keinen so großen Einfluss mehr. Am besten schaut man sich das Mitgliederverzeichnis der Bilderberg-Treffen an, dann sieht man, dass dort die Chefs aller großen weltweit tätigen Konzerne sind, und Politiker, Intellektuelle, Bankiers, Leute aus den Medien und Angehörige alter Adelsgeschlechter. Aber letztendlich lässt sich das schwer identifizieren“, fügt Korál hinzu.
Teil der Verschwörung sei sogar der Papst, glaubt Korál. Indiz dafür sei dessen positive Haltung gegenüber Geflüchteten beziehungsweise Migrantinnen und Migranten: „Das ist ein klarer Hinweis auf eine Konspiration. Eine russische Gruppe nennt das Ganze ein biblisches Projekt der globalen Versklavung. Alle drei großen Religionen und alle unterschiedlichen Kirchen sind Teil einer einzigen Verschwörung, die von eben jener Gruppe ausgeht, die einst aus Ägypten aufgebrochen ist und die in Verbindung mit Atlantis steht. Sie hat die Religionen entworfen, um die Menschheit zu beherrschen“, ergänzt Korál diese alte neue antisemitische Theorie.
Seine Suche nach den geheimen Herrschern der Erde ist in letzter Zeit jedoch praktischeren Tätigkeiten gewichen: „Der Sektor unabhängiger Medien hat sich sehr stark entwickelt verglichen mit der Situation vor sieben Jahren. Damals war es wirklich noch notwendig, Informationen heranzuschaffen. Aber mittlerweile sind viele Medien entstanden, die ihre Arbeit gut machen“, so Korál.
„Im letzten Jahr habe ich die Arbeit auf meiner Webseite eingeschränkt und widme mich verstärkt Tätigkeiten in Organisationen wie der Assoziation unabhängiger Medien (Asociace nezávislých medií) und dem Ausschuss der nationalen Kultur (Výbor národní kultury). Ich bemühe mich, Strukturen zu schaffen, in denen sich mehr Leute versammeln“, beschreibt er seine gegenwärtigen Aktivitäten.
Verschwörungstheorien in den tschechischen Medien | © Anopress IT Auch „Aeronet“ schreibt manchmal etwas Wahres Die bereits erwähnte Assoziation unabhängiger Medien (ANM) gründete Korál im Jahr 2015 gemeinsam mit Ondřej Geršl, dem Betreiber des Servers AC24, dem ehemaligen Polizeipräsidenten Stanislav Novotný und Petr Žantovsky, einem Medienexperten der Webseite Parlamentní listy, der mittlerweile im Aufsichtsrat der Tschechischen Presseagentur ČTK sitzt.
Die Assoziation unabhängiger Medien sei entstanden „zum Schutz gegen die Einschränkung von Freiheit im Internet und allgemein zum Schutz gegen die Einschränkung von Meinungsfreiheit seitens der Europäischen Union und mancher unserer Politiker“, sagte Stanislav Novotný in einem Gespräch mit der Tageszeitung Haló noviny [de facto das Parteiorgan der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens KSČM, Anm. d. Red.].
Eine wesentliche Aktivität der Assoziation ist die Verleihung des sogenannten Kramerius-Preises für „unabhängigen Journalismus“, in dessen Jury auch bereits der Intendant des Tschechischen Rundfunks René Zavoral, der Chefredakteur der Tageszeitung MF Dnes Jaroslav Plesl sowie Rundfunkrat Tomáš Kňourek saßen.
Außerdem führt die Assoziation kleinere Kampagnen durch, verschickt Beschwerden an Medienräte oder betreibt Lobbyarbeit. Im Juni 2018 kritisierte sie in einem offenen Brief an die britische Premierministerin Theresa May (in tschechischer Sprache) die Haftstrafe für einen rechtsradikalen Aktivisten, die diesem wegen der Verletzung von bereits früher erteilten Bewährungsauflagen verhängt wurde.
„Manchmal denken wir uns kleinere Aktionen aus. Nachdem die Medien Zdeněk Bakalas [Ein tschechischer Oligarch, Eigentümer des Verlagshauses Economia, Anm. d. Red.] Anfang des 2018 begonnen hatten, E-Mails zu zensieren, in denen sich Links zu Servern befanden, die auf der Webseite konspiratori.sk aufgelistet waren, haben wir im Parlament Lobbying betrieben.“ Jan Korál verweist hier auf eine Praxis von Freemail-Anbietern des Medienunternehmens Economia (centrum.cz, atlas.cz, volny.cz). Diese hatten E-Mails mit Links zu Webseiten, die auf konspiratori.sk als nicht vertrauenswürdig bewertet sind, in den Spamordner gefiltert.
Zuvor waren alle E-Mails mit solchen Links nicht einmal im Spam gelandet, sondern wurden gar nicht erst zugestellt. Der Server Aeronet, der diese Nachricht zuerst veröffentlichte, konnte hier ausnahmsweise mal mit einer wahren Nachricht punkten.
Verbundenheit der Verschwörungen
Dieses „Eigentor“ verweist auf ein größeres Problem im Wettstreit von „alternativen“ und „Mainstream“-Medien: Ein großer Teil der Verteidiger des „Establishments“ verrät die eigenen Prinzipien. Die Möglichkeit, das große Ganze sehen zu können, sollte nicht behindert werden. Das von den Gründungsmitgliedern der Assoziation unabhängiger Medien deklarierte Ziel, wonach „die unabhängigen Medien möglichst vollständige und nicht verzerrte Nachrichten über die Welt, in der wir leben, liefern sollen“, trifft auf die bizarre Realität der von ihnen betriebenen Webseiten.Die Webseite nwoo.org hat laut dem Dienst Similarweb täglich 12.000 Seitenzugriffen (was umgerechnet etwa 6.000 tatsächlichen Usern entspricht) und veröffentlicht durchschnittlich drei Texte pro Tag. Etwa 30 Prozent sind Artikel, die von der separatistischen ukrainischen Webseite RusVesna übernommen und übersetzt wurden sowie regionale Nachrichten aus Luhansk und dem Donbas. Weitere rund 20 Prozent sind Kommentare, die Russland loben und in den meisten Fällen gleichzeitig den Westen oder die USA verunglimpfen.
Die restlichen Artikel richten sich gegen sogenannte „Gutmenschen“, die EU, Deutschland, die Ukraine, den Islam, die Medien und gegen unterschiedliche „Verräter“. Die meistgeklickten Artikel der zwei zurückliegenden Jahre waren Putins Welt [tschechisch: Svět podle Putina – es handelt sich um den vierteiligen Dokumentarfilm Die Putin-Interviews von Olivier Stone, Anm. d. Red.] sowie Texte mit den Titeln „Die Eliten trinken das Blut kleiner Kinder, um ihr eigenes Leben zu verlängern …“ und „Ein nicht beglaubigter Plan zur Zerstörung Deutschlands“.
Die starke Präsenz russischer Themen und Quellen und ihre positive Bewertung wird umso deutlicher, wenn man es damit vergleicht, was vor fünf Jahren auf dem Server veröffentlicht wurde. Circa 20 Prozent der Texte widmeten sich damals der Kritik an den USA, wurden jedoch aus amerikanischen Quellen übernommen. Ein Fünftel der Artikel beschäftigte sich mit Russland, über das in etwa 15 Prozent von ihnen positiv berichtet wurde.
„Menschen, die recherchieren und publizieren, informieren sich immer mehr aus russischen Quellen. Es zeigt sich, dass das, was Fachleute aus Russland entdeckt haben, genau dasselbe ist, was die im Westen entdeckt haben. Unabhängig voneinander. Das ist also eine weitere Bestätigung für das, was wir von Anfang an behaupten“, erklärt Jan Korál die Hinwendung zu russischen Quellen.
Ausschließlich „hochwertige Informationen“ weitergeben
Auf dem Webportal AC24.cz von Geršl, dem zweiten Gründer der Assoziation unabhängiger Medien, werden jeden Tag um die zehn Texte veröffentlicht. 20.000 Usern (laut dem Dienst NetMonitor) besucht besuchen AC24.cz täglich. Etwa 60 Prozent des Inhalts sind Übernahmen von der tschechischen Version des kremlnahen Sputnik (ehemals Hlas Ruska, deutsch: Stimme Russlands). Dieses Medium befasst sich etwa mit den Erfolgen der russischen Armee, der Präsentation der russischen Waffen und wie schnell die amerikanischen kaputt gehen. Weitere Themen sind die Schwäche des Westens, die Ohnmacht der NATO und die Umzingelung derselben durch Russland. Erwähnenswert ist auch, dass Sputnik nicht wie andere Quellen unter dem Text erwähnt wird. Lediglich die Links in den Texten verweisen auf Sputnik.Die restlichen Inhalte auf AC24.cz sind Übersetzungen von Texten, die sich gegen Migration oder Homosexualität richten, und solche über klassische Verschwörungstheorien wie etwa Pyramiden auf dem Mond, der Einfluss der Rothschilds, die Beeinflussung des Wetters und verschiedene bizarre Dinge, wie Warnungen von Wissenschaftlern vor Gefahren von Zahnpasta oder die Nachricht von Knochensaft aus einem ägyptischen Sarkophag. Eigene Texte publiziert der Server nicht.
„Mir ging es immer darum, den Menschen hochwertige Informationen weiterzugeben“, erklärt Ondřej Geršl. „Ziel des Projekts ist es, eine Ergänzung zu den Informationen zu sein, die die Menschen aus den großen Medien bekommen, damit sie sich ihre eigene Meinung bilden können. Damit sie die Informationen bekommen, die wir ihnen geben, damit sie ihr Leben in die eigene Hand nehmen und sich mit Dingen befassen können, die viel wichtiger sind, als das, was Trump oder Putin gerade machen.“
Nach dem Hinweis, dass die Artikel seines Servers nichts Derartiges aussagen, sondern eher das genaue Gegenteil bewirken, verweist er darauf, dass er das intern klären müsse und dass er sich gerade jetzt mit jemandem darum kümmere.
Die Übernahme unterschiedlicher Texte von Sputnik und weiteren russischen Medien erklärt Geršl mit der thematischen Ähnlichkeit. „Wir haben zuerst sehr viel von amerikanischen Quellen übernommen, aber dann entstand die Plattform Russia Today und die hatten ein sehr ähnliches Konzept wie wir. Ich habe mich gefragt, wie es möglich sein kann, dass ein russisches Medium, das ganz bestimmt irgendeinem politischen Druck unterliegt, mit Dingen kommt, mit denen auch wir uns beschäftigen“, wundert sich Geršl.
Man muss hinzufügen, dass das steigende Interesse für Verschwörungstheorien auch auf der anderen Seite auszumachen ist. Wie eine diesjährige Umfrage der Gesellschaft Medialogy und der Tageszeitung Vedomosti feststellte, hat sich deren Präsenz in den russischen Medien innerhalb der letzten sieben Jahre bis um das Neunfache erhöht.
„Sie machen dasselbe wie der Mainstream“
Das Aufeinandertreffen von Verschwörungstheoretikern und Clickbait-Unternehmern mit russischen Medien war Liebe auf den ersten Blick. „Ich habe nach neuen Quellen gesucht, kam in Kontakt mit Leuten, die Russisch sprechen, habe meine Sprachkenntnisse verbessert und dann haben wir selbst begonnen, nach russischen Quellen zu suchen“, beschreibt Korál die Entwicklung. Er selbst wird gemeinsam mit weiteren Verschwörungstheoretikern eingeladen zu Slawenkongressen in Moskau und Sankt Petersburg oder zum Jalta-Wirtschaftsforum auf der annektierten Krim.Einen russischen Akzent haben in den letzten Jahren die meisten Webseiten bekommen, die sich mit Verschwörungstheorien befassen, aber die Präsenz russischer Medien ist nirgends so offensichtlich wie bei AC24.cz und nwoo.org.
Das stärkste verbindende Element der meisten Amateurwebseiten, die Verschwörungstheorien in die „Berichterstattung“ mischen, ist die Abgrenzung gegen Feinde: Multikulturalismus, Musliminnen und Muslime, Migrantinnen und Migranten, die EU, den Westen und die Vereinigten Staaten, gemeinnützige Organisationen, Mainstreammedien“ und gewöhnlichen Journalistinnen und Journalisten. Die Welt wird als apokalyptisch und totalitär dargestellt, oder zumindest wird so getan, als erlebten wir gegenwärtig eine Art neue Normalisierung [So bezeichnet man in Tschechien die restriktive gesellschaftspolitische Situation nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr 1968, Anm. d. Red.]. Überall gibt es Skandale, Lügen und Betrug. Merkel ist wie Hitler, der Westen liegt in Trümmern, es brechen dunkle Zeiten an. Aber sie bringen die WAHRHEIT, die einem die Medien nicht verraten.
Verbindungen von Desinformations-Servern und Mainstream-Medien | © Information laundering: Desinformationsportale im tschechischen Kontext (2018) Öffentlich-rechtliche Medien und das Medienunternehmen Economia bilden, so Jan Korál, eine weltanschauliche Gruppe. „Sie behaupten, dass die EU alles richtig macht, dass Amerika bis zum Machtantritt Trumps alles gut gemacht hat, sie vertreten die Werte und Meinungen der Demokratischen Partei, verteidigen die NATO und bestreiten alle Verbrechen dieser Organisationen, Gruppen und Vereinigungen – und zwar systematisch. Wir erfahren nicht, dass den Kriegen in Syrien oder Libyen Machtinteressen zugrunde liegen, und dass konkrete Kriegsverbrechen begangen wurden“, entrüstet sich Korál.
„Laut ihnen macht Russland alles falsch. Wir erfahren nicht, dass Russland die Krim und den Donbas gerettet hat, damit die Region nicht zu einem Kriegsgebiet wird. Dass Russland die Kriege beendet“, fügt er hinzu.
„Dahinter stecken viele Emotionen, hier herrscht Informationskrieg und beide Lager verlieren im Eifer des Gefechts den Überblick. Das ist eine Ballung von Ideologien – die einen legen Listen an, die anderen sagen, sie würden lügen“, erklärt der Herausgeber der Zeitschrift Šifra, Milan Vidlák. Er selbst bemühe sich angeblich, den Kampf zwischen „alternativen“ und gewöhnlichen Medien einzudämmen und beim Schreiben von Texten journalistische Regeln einzuhalten.
„Das sind Enthusiasten, die das aber schlampig machen. Das ergibt sich aus ihren fehlenden Möglichkeiten, sie kommen gerade von der Arbeit und stellen was online und oft können sie das gar nicht. In den alternativen Medien befassen sich ein paar Leute aus Überzeugung mit manchen Themen, oder weil es ihr Hobby ist. Die Qualität der Texte – und dabei will ich gar nicht deren Wahrheitsgehalt bewerten –ist leider nicht dieselbe wie bei klassischen Journalisten“, beschreibt Vidlák seine Erfahrungen. Er selbst liest regelmäßig sowohl gewöhnliche Zeitungen als auch „Nachrichten“ auf „alternativen“ Webseiten.
Ihm zufolge ist es ein Problem, dass die „Alternativen“ die Beobachtung des Mainstreams aufgegeben haben. „Sie machen genau das, was sie am Mainstream kritisieren, sie befinden sich nur in einer anderen Blase“, kritisiert Vidlák. Auf der anderen Seite stört es ihn, dass das ausschließliche Interesse für alternative Perspektiven zur Stigmatisierung führt.
„Wenn ich mich serös mit dem 11. September befasse, wird mir unterstellt, dass ich denke, dass das die Amerikaner waren. Aber ich weiß nicht, wer es war. Ich schreibe nicht darüber, was und wie es passiert ist, sondern darüber, was und wie es ganz sicher nicht passiert ist. Das, was ich durch meine zweijährigen Nachforschungen feststellen konnte, war, dass die Resultate der Untersuchungskommissionen etwa auf derselben Niveau waren, als hätte sie ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss in Tschechien erstellt. Das war politisiert, es wurde gepfuscht und es ist klar, dass die offizielle Version einer Überprüfung nicht stand hält“, sagt Vidlák.
Er ist der Meinung, dass beide Seiten manipulieren – die einen dadurch, worüber sie nicht informiert, wenn es politisch oder ideologisch nicht passt, die anderen durch das Verdrehen von Fakten und schlechtem Umgang mit Quellen.
Nachrichten – neu, flüssig und volksnah
Die Verbreitung von Verschwörungstheorien ist eng verbunden mit der Veränderung des medialen Ökosystems. Zählt man die Produktion der größten tschechischen Internetmedien (idnes.cz, ihned.cz, novinky.cz, lidovky.cz, Aktuálně.cz sowie iRozhlas.cz und ct24.cz) zusammen, kommt man auf 450 bis 500 Artikel täglich.Die Produktion der größten Webportale mit Verschwörungstheorien und von Clickbait-News-Seiten, bei denen sich Publikum und Inhalt überschneiden (ParlamentniListy.cz, Eurozpravy.cz, Prvnizpravy.cz, Sputnik, AC24.cz und Czechfreepress.cz), bewegt sich bei einer Anzahl von 250 bis 300 Artikeln täglich – also mehr als die Hälfte dessen, was die „seröse“ Berichterstattung pro Tag veröffentlicht. Das ist nur eine Stichprobe, aber sie gibt einen Eindruck davon, was sich auf dem Feld der Informationen abspielt.
Einen großen Teil der Themen entnehmen Clickbait-Server von „Mainstream“-Quellen, fügen jedoch reißerische Überschriften hinzu, um den abgeänderten Inhalt dann für soziale Netzwerke attraktiver zu machen. Die Verbreitung und Zustellung einer Nachricht geschieht über dutzende Kanäle, darunter Nachrichten-Aggregatoren, Smartphone-Apps und -Notifications, E-Mails, Suchmaschinen oder Profilseiten auf sozialen Netzwerken. Die Nachricht wird dorthin geleitet auf Basis von Algorithmen. Ziel es ist, dass wir uns so lange möglich auf der jeweiligen Plattform aufhalten und uns dazu genötigt fühlen, zurückzukehren.
Zur Vervollständigung des Bildes ist es notwendig, den sogenannten langen Schwanz (Longtail) in Form von tausenden Seiten, Blogs und Mikroblog-Plattformen zu verbinden. Dieser wächst proportional mit der Einbeziehung einer immer größeren Zahl von Nutzern in virtuelle Netzwerke.
Wie Wechseltierchen kursieren die Informationen in diesem Umfeld. Sie reagieren vor allem auf Emotionen und passen sich individuellen Erwartungen und dem sozialen Kontext an. Ihr größter Antrieb ist Neuheit und ein Signal potentieller Bedrohung zu transportieren. Soziale Netzwerke verleihen dem Prozess sozial-psychologische Faktoren: Gruppen- und Selbstbestätigung und die Abgrenzung gegenüber anderen (feindlichen) Gruppen, die unser eigenes Zusammengehörigkeitsgefühl stärken.
Darüber hinaus ermöglichen die Netzwerke eine teilweise Loslösung von Zeit und Raum, was die Zahl gegenseitiger Verknüpfungen erhöht und die Dynamik der Interaktion verändert. Am besten verbreiten sich so Äußerungen von Politikern (meistens aus dem Kontext gerissen): Sie schaffen zwei symbolische Gruppen, von denen eine beleidigt ist, und die andere sich freut, was beide wiederum gegeneinander aufhetzt.
Eine Lüge ist sechsmal schneller
Das neue mediale Ökosystem und die technologischen Plattformen, die seine DNA definieren und diverse Anreize für die Erzeuger von Inhalten, ist in wesentlichem Ausmaß beteiligt an der Erzeugung eines Umfelds, das für die Verbreitung von Falschnachrichten und Verschwörungstheorien günstig ist.Guillaume Chaslot, ehemaliger Entwickler für Google, hat wiederholt nachgewiesen, dass der Algorithmus von YouTube, dessen Suchmaschine heute weltweit die zweitmeistgenutzte ist, im der Liste der empfohlenen Videos einen spalterischen, skandalisierenden und verschwörerischen Inhalt anbietet.
Während der amerikanischen Präsidentschaftswahlen hat YouTube sechsmal häufiger Videos mit Trump empfohlen, in denen bewiesen wurde, dass seine Gegenkandidatin Hillary Clinton an Syphilis leide, ein Verhältnis mit Yoko Ono habe oder verwickelt sei in einen satanistischen Kreis, in dem Kinder missbraucht werden. Chaslot stellte auch Untersuchungen zu den Wahlen in Großbritannien, Frankreich, Deutschland oder Italien an – zu finden auf der Webseite Algotransparency.org.
Vielsagend ist auch eine umfangreiche Untersuchung, deren Ergebnisse von der Zeitschrift Science publiziert wurden. Dort wurde nachgewiesen, dass sich Falschnachrichten auf Twitter sechsmal so schnell verbreiten wie wahre Nachrichten, und eine überwiegende Mehrheit der User lieber Unwahrheiten teilt. Obwohl die Forscherinnen und Forscher unterschiedliche Rahmenbedingungen und Usergruppen untersuchten, wurden Falschnachrichten mit einer um 70 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit geteilt als korrekte (und langweilige) Nachrichten.
Auszug aus dem Datensatz zur Nutzung tschechischsprachiger Nachrichtenseiten auf Facebook im Zeitraum 1.8.2016 bis 1.8.2017 | © Information laundering: Desinformationsportale im tschechischen Kontext (2018) In Tschechien gehen Manipulationen und die Verbreitung von Lügen hauptsächlich auf Facebook vonstatten. Obwohl die Anzahl der Fans von Seiten klassischer Medien um ein fünffaches höher ist, liegen bei der Gesamtanzahl aller Reaktionen (also Likes, Kommentare oder das Teilen von Beiträgen) die Desinformationsmedien souverän vorne. Deren Anhänger veröffentlichen auf Facebook dreimal so viele Posts mit entsprechenden Inhalten, die viermal häufiger geteilt werden als Posts mit Inhalten von „Mainstream-Medien“, wie eine Analyse von Martin Janda an der Prager Karlsuniversität ergab.
Verschwörungstheorien sind allerdings nicht nur Ausgeburten kranker Gehirne, sondern ad absurdum geführte soziale Heuristiken, mit wir die Realität überprüfen und bestätigen. Es geht nicht extreme Erscheinungen, die wir pathologisch katalogisieren könnten, sondern eher um eine unangemessene Weise, mit der Außenwelt umzugehen.
Das gegenwärtige mediale Ökosystem unterstützt die Produktion einer Menge von (oftmals wertlosen) Informationen und es unterstützt auch die Geschwindigkeit, mit der sie zirkulieren. Es erschwert eine Überprüfung, es personalisiert den Inhalt und die sozialen Interaktionen so, dass wir in Blasen eingeschlossen werden. So entsteht ein Umfeld, das bereits existierende soziale Pathologien beschleunigt und verstärkt: Polarisierung, Misstrauen, das Gefühl einer Bedrohung und Kontrollverlust.
Skrupellose Politiker schaffen es, diese Unsicherheiten auszunutzen. Für sie fungieren Lügen und Verschwörungstheorien als Hilfsmittel, um an die Macht zu kommen. Der amerikanische Präsident Donald Trump nutzte in seiner Wahlkampagne eine Verschwörungstheorie über die angeblich gefälschte Geburtsurkunde von Barack Obama, und zog damit in den Vorwahlen etliche Prozent der republikanischen Wähler auf seine Seite.
Indem er sich Theorien über eine weitreichende Verschwörung der Anhänger von Fethullah Gülen bediente, gelang es dem türkischen Präsidenten Erdogan wiederum, 50.000 Menschen ins Gefängnis zu schicken und weitere 150.000 Staatsangestellte zu entlassen oder vom Dienst zu suspendieren. Damit konnte Erdogan jegliche Opposition unterdrücken.
Eine Verschwörungstheorie, die George Soros unterstellt, die Islamisierung Europas zu planen und alle ungarischen Oppositionsparteien inklusive der ultrarechten Jobbik zu beherrschen, half Viktor Orban dabei, die Wahlen zu gewinnen.
Die Smolensk-Theorie, wonach die Russen für den Flugzeugabsturz verantwortlich seien, bei dem im April 2010 94 polnische Politikerinnen und Politiker und Armeeangehörige ums Leben kamen, verhalf der konservativen Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) wiederholt zu Wahlsiegen in Polen.
In Tschechien waren die Parlamentswahlen 2017 von der so genannten „Causa Lithium“ geprägt, die drei Wochen vor den Wahlen vom Webportal Aeronet in die Welt gesetzt wurde [Der damalige sozialdemokratische Industrieminister hatte einer australischen Firma Fördergenehmigung im Erzgebirge erteilt, Anm. d. Red.]. „Elf Prozent der Wählerinnen und Wähler änderten ihre Präferenz wegen dieser Causa und in einem Drittel der Fälle gaben sie ihre Stimme der ANO-Bewegung“, bestätigte Daniel Prokop von der Agentur Median im Tschechischen Fernsehen.
Verschwörungstheorien beherrschen also die Welt – im wahrsten Sinne des Wortes.
Oktober 2018