Politiker-„Neusprech“  Ein Regenschirm ist kein Rettungsschirm

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Martin Haase: „Wir haben Anhaltspunkte, dass es heute mehr ‚Neusprech‘ gibt als früher.“ Foto: Wikipedia | Tobias Klenze | CC-BY-SA 4.0

Wer die Sprache kontrolliert, kann das Denken selbst beeinflussen. Davon macht die fiktive Überwachungsdiktatur in George Orwells „1984“ Gebrauch. Aber auch heute, auch in Demokratien versuchen Politikerinnen und Politiker durch gezielte Wortschöpfungen die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu manipulieren. Entsprechende Beispiele sammeln der Journalist Kai Biermann und der Linguist Martin Haase auf ihrem Blog, den sie in Anlehnung an die regulierte Sprache in Orwells düsterem Roman „Neusprech.org“ nannten. Wir haben mit Martin Haase über den Politiker-Neusprech von heute gesprochen.

Was verstehen Sie heute unter dem Begriff Neusprech? Wo sind die Parallelen zu Orwells Dystopie aus dem Jahr 1948? Wo die Unterschiede?

Orwells Roman spielt in einer Diktatur. In Deutschland haben wir zwar keine Diktatur, aber oft geht es darum, Politik zu vermarkten – ganz ähnlich wie eine Ware. Dabei wirken Mechanismen aus der Werbesprache, die Orwell auch seinem Neusprech zugrunde gelegt hat.

Auch in einer Demokratie werden Dinge, von denen Politiker wissen, sie könnten unpopulär sein, mit der nötigen Aufbesserung durch passende Wörter vermarktet. Wir konnten das ausführlich beobachten beim Nacktscanner, der dann eben nicht Nacktscanner heißen durfte. Der damalige Innenminister Thomas de Maizière hat im Bundestag gesagt: Nein, wir wollen keine Nacktscanner, sondern Körperscanner der dritten Generation. Aber auch das war noch nicht gut genug – immer noch zu körperlich. Dann hat man es zu Sicherheitsscanner geändert. Es wurde also versucht, das Ding durchzusetzen, indem man es einfach anders benennt.

Aber da hatte die Presse bereits den Nacktscanner für sich entdeckt, das klang halt gut …

… und so ein bisschen schlüpfrig. Für die Journalisten also das bessere Wort, um deren Inhalte zu vermarkten.

Ja, das passiert aber nicht immer. In vielen anderen Fällen setzt sich das von der Politik geprägte Wort durch.

Sehr schön beobachten konnte man das am Rettungsschirm. Das klingt harmlos, wie ein Regenschirm. Zu Artikeln über den Rettungsschirm [Bezeichnung für EU-Maßnahmen zur Bankenrettung in einigen Staaten der Eurozone, Anm. d. Red.] waren auch immer Regenschirme abgebildet – auch auf der Website des Bundestages. Dabei kommt der Rettungsschirm natürlich eigentlich vom Fallschirmspringen und ist gar nicht so harmlos wie ein Regenschirm. Aber Rettungsschirm ist sicherlich auch ein Wort, mit dem positive Emotionen getragen werden.

Negative Emotionen hingegen vermitteln Wörter wie Flüchtlingswelle oder Flüchtlingsflut. Passend dazu wurde behauptet, die Grenzen seien geöffnet worden. Das war Unsinn, denn die waren ja vorher schon auf … Es wurde das Bild geschaffen: Die Schleusentore gehen hoch und der ganze giftige Schlamm kommt rein. Das ist eine völlige Entmenschlichung und auch völlig unpassend für die Situation, für Menschen, die vor dem Krieg geflohen sind. Und solche Bilder zu prägen, ist dann auch ethisch verwerflich.

Neusprech ist also immer eine bewusste Schöpfung? Oder kommt es auch schon mal vor, dass Neusprech durch einen „sprachlichen Unfall“ entsteht?

Wie jemand auf ein Wort gekommen ist, weiß man meistens nicht mehr. Natürlich kann da auch mal der Zufall eine Rolle gespielt haben. Aber in Umlauf gebracht werden solche Wörter dann schon bewusst. Wir haben zum Beispiel eine Zuschrift bekommen von einem Referenten eines Ministerpräsidenten. Seine Aufgabe war eben diese „Sprachkontrolle“. Es war ein östliches Bundesland, aber der Ministerpräsident kam aus dem Westen und dem war es sehr wichtig, dass er nichts Falsches sagt. Deshalb hat er extra einen Referenten damit beauftragt, seine Äußerungen sprachlich so hinzubiegen, dass es passt.

Hat sich der Politiker-Neusprech in den ganzen Jahren, die Sie sich nun schon damit beschäftigen, verändert?

Wir haben gewisse Anhaltspunkte, dass es heute mehr Neusprech gibt als früher. Es gab so eine Frühphase in den späten Neunzigern – mit Berlusconi in Italien oder mit Sarkozy in Frankreich. Damals kam ein neuer Politikstil auf und mit ihm rückte gerade dieses Marketingmäßige in den Vordergrund. Vielleicht konnte man das schon Populismus nennen, aber das war noch nicht zu vergleichen mit dem Populismus, den wir heute erleben.

Was ist in sprachlicher Hinsicht das Besondere am heutigen Populismus?

In Deutschland sehen wir besondere Auffälligkeiten, die mit dem Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD) zu tun haben. Es gibt Rückgriffe auf Vokabular aus dem Nationalismus oder sogar dem Nationalsozialismus. Allerdings oft mit Umdeutungen. Wenn die AfD von Umvolkung spricht, dann meint sie damit natürlich nicht das, was man zur Nazizeit damit gemeint hat, nämlich dass bei einer Expansion nach Osten die dort ansässige Bevölkerung zu Deutschen gemacht werden soll – durch Deutschunterricht, Umerziehung, Vernichtung von Juden. Die AfD meint mit Umvolkung, dass die Deutschen angeblich ersetzt werden sollen durch Immigranten – also im Grunde sogar eine gegenteilige Bedeutung des Wortes.

Ähnlich ist es mit dem Wort völkisch, das seit der Romantik die Bedeutung „nicht jüdisch“ hatte. Wenn Beatrix von Storch meint, das Wort völkisch müsse wiederbelebt werden, dann möchte sie damit „nicht muslimisch“ oder „ohne Migrationshintergrund“ ausdrücken. Auch hier also eine ziemlich heftige Bedeutungsverschiebung. Vor dem Aufkommen der AfD gab es diese Besonderheit nicht, dass gezielt Wörter aus dem Nationalsozialismus oder dem Nationalismus aufgegriffen wurden – Wörter, die stigmatisiert sind. Die werden mit neuem Inhalt neu verwendet. Das ist eindeutig Neusprech, aber in einem Ausmaß, das man vorher so nicht hatte.

Die AfD arbeitet mit solchen kalkulierten Tabubrüchen, um die Grenzen des Sagbaren zu verschieben. Sind subtilere Wortschöpfungen, wie etwa „Asylkritiker“, nicht viel gefährlicher?

Genau, das ist gefährlicher. Wörter wie völkisch oder auch Umvolkung sind so stark gebrandmarkt, dass sie von anderen nicht aufgegriffen werden. Aber Asylkritiker oder Flüchtlingswelle wird jetzt allenthalben gesagt. Sogar Angela Merkel hat das Wort Flüchtlingswelle oder Flüchtlingsflut verwendet. Damit hat sie sprachlich sozusagen die Position der Gegenseite vertreten. Das ist das Geschickte: Mit solchen Wörtern kann man auch die Gegner dazu bringen, die eigene Position weiter voranzutreiben, selbstverständlicher zu machen. Deshalb sind diese subtileren Wortschöpfungen gefährlicher und deshalb ist es auch wichtig, darauf hinzuweisen.

Wann sollten unsere Alarmglocken schrillen?

Ich glaube, Neusprech ist wirklich leicht zu erkennen. Wenn irgendwo Wörter auftauchen, die man noch gar nicht gehört hat oder in einem bestimmten Zusammenhang noch nicht gehört hat, sollte man nicht darüber hinweglesen oder hinweghören, sondern sich fragen, was einem damit eigentlich gesagt werden soll.
 

Gibt es bestimmte Neusprech-Muster, die immer wiederkehren?

In der Überwachungsdiskussion werden häufig verharmlosende Ausdrücke verwendet – insbesondere Euphemismen, die Dinge abschwächen. Bei der Flüchtlingsdiskussion ist das genau anders herum, da werden hyperbolische Ausdrücke verwendet, die eine verstärkende Wirkung haben.

Das ist aber nicht nur abhängig vom Thema, sondern auch von der Person, die spricht. Ursula von der Leyen zum Beispiel wollte sich immer als Powerfrau inszenieren und hat deshalb immer sehr starke, hyperbolische Wörter verwendet. Das tut sie eigentlich immer noch, aber nicht mehr so stark. Denn in ihrer Rolle als Verteidigungsministerin muss sie den Wählern auch Dinge schmackhaft machen, die vielleicht auf Ablehnung stoßen, etwa die Erhöhung des Verteidigungshaushaltes oder Ähnliches. Deshalb ist sie da ein bisschen umgeschwenkt.

Warum ist es so wichtig, dass wir sensibel sind für den Neusprech, den man uns unterjubeln will?

Das ist wichtig, damit wir den Politikern nicht auf den Leim gehen. Denn es ist ja wirklich so, dass man am Ende eben auch sprachliche Konzepte übernimmt, und dann werden Dinge ganz normal, die nicht normal sein sollten. Ich glaube, dass man politische Positionen immer kritisch hinterfragen sollte, und das kann man halt nur – heute zumindest – wenn man auch die politische Sprache hinterfragt.

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