Das Konzept der 15-Minuten-Stadt  Die Millionenstadt als Dorf

Straßenszene in Paris. Das Konzept der 15-Minuten-Städte gewann an Aufmerksamkeit, nachdem die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo dafür eintrat.
Straßenszene in Paris. Das Konzept der 15-Minuten-Städte gewann an Aufmerksamkeit, nachdem die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo dafür eintrat. Foto: John Towner via unsplash | CC0 1.0

22 Millionen Einwohner*innen und trotzdem sämtliche Erledigungen zu Fuß machen können? So sieht das Konzept der 15-Minuten-Stadt aus, das auf sozialer und ökologischer Ebene funktioniert. Einige Städte verändern sich bereits zukunftsweisend.

Nicht alles ist schlecht auf TikTok. Es gibt eine erstaunlich große Userbasis, die sich mit progressiven gesellschaftlichen und politischen Ideen auseinandersetzt, gerade auch in den USA. Diskussionen um Konzepte wie die „15-Minuten-Stadt“ oder „Dritte Orte“ haben seit Jahren auf Social Media, allen voran TikTok, Konjunktur und machen sie bei jüngeren Generationen populär. Die dahinterstehenden Ideen sind simpel und eigentlich intuitiv, wirken in einigen Gesellschaften und Großstädten aber nahezu revolutionär.

Der Begriff Dritter Ort geht auf den US-amerikanischen Stadtsoziologen Ray Oldenburg zurück, der ihn 1989 in seinem Buch The Great Good Place skizzierte. Grob gesagt handelt es sich dabei um Orte des Miteinander und der Freizeit, die nach dem Wohnort (Erster Ort) und Arbeitsplatz (Zweiter Ort) einen weiteren wichtigen Kernpunkt im Leben darstellen. Vom ursprünglichen Konzept weiterentwickelt, werden Dritte Orte heute mitunter auch als Orte definiert, in denen es keinen Konsumzwang gibt, also keine Cafés, Bars oder Restaurants, sondern Parks, Bibliotheken, Jugendzentren oder Kirchen. So oder so bleibt der Kerngedanke: Es sind (prinzipiell für alle) zugängliche Orte für informelle Treffen, in denen die Nachbarschaft unabhängig vom persönlichen Einkommen zusammenkommen kann.

Alles zu Fuß?

Während die 15-Minuten-Stadt, auch Viertelstunden-Stadt genannt (und analog dazu die 30-Minuten-Region), unabhängig davon erdacht wurde, gehen die Ideen ineinander über. Das Konzept, das der franko-kolumbianische Urbanist Carlos Moreno 2015 vorgestellt hat, ist relativ einfach. In seinem Buch Die 15-Minuten-Stadt (2020), das jetzt auf Deutsch vorliegt, führt er seine Idee aus (die eigentlich keines ganzen Buches bedarf, Moreno paraphrasiert ermüdend oft seine eigenen Worte): Selbst in Millionenmetropolen sollten alle relevanten Erledigungen in einem Umkreis von (grob) 15 Minuten – zu Fuß oder per Fahrrad – machbar sein, von der Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes über den Besuch bei Ärzt*innen bis hin zur Nahversorgung wie Supermärkte, Apotheken, aber auch Sport- und andere Freizeitmöglichkeiten. Es sei nicht weniger als eine „Revolution der Nähe“, so Moreno.
 

Carlos Moreno: Die 15-Minuten-Stadt | © Alexander Verlag Berlin © Alexander Verlag Berlin


Ähnlich wie beim Gedanken hinter den Dritten Orten steht bei polyzentrisch strukturierten Städten (sprich Städte, die nicht nur einen einzigen Kern haben) der soziale Faktor, also die Stärkung von Gemeinschaft und Nachbarschaft, im Vordergrund. So kann die 15-Minuten-Stadt durch ihren Fokus auf Gemeinschaftlichkeit nicht nur demokratiefördernd wirken, sondern laut Moreno auch ein wichtiger Schritt im Kampf gegen die Klimakatastrophe sein. Denn klar: Begreift man ein Viertel wie eine Art Dorf mit eigenem Zentrum, kann ein Großteil der Verrichtungen des Alltags zu Fuß erledigt werden und Individualverkehr ist nicht von Nöten.

Es gibt gute Gründe, wieso bei der Erforschung des menschlichen Miteinanders aktuell vor allem die Entwicklung von Städten im Mittelpunkt steht. Mit Bezug auf den früheren Bürgermeister von Denver, Colorado, Wellington Webb sagt Moreno, das 21. Jahrhundert sei „das Jahrhundert der Städte“ (im Gegensatz zu dem „der Imperien“ im 19. und dem „der Nationalstaaten“ im 20. Jahrhundert). Inzwischen leben weltweit mehr als 50 Prozent der Menschen in einer Stadt, in Europa sind es sogar 75 Prozent, Tendenz überall steigend. Für die Umsetzung von mehr Nähe und Erreichbarkeit auch in großen Metropolen sei es relevant, die Stadt per se als „unvollendetes Projekt“ zu begreifen, als eine Entität, die ständig weiterentwickelt wird. Um Maßnahmen schneller und individueller implementieren zu können, fordert Moreno mehr Macht für Städte und Kommunen und weniger einen „starken Staat“. Wichtig sei dabei auch, die Komplexität einer Stadt zu erkennen und verschiedene Dimensionen zu bedenken: „So entsteht an der Schnittstelle von Ökologie und Sozialem eine lebenswerte Welt, an der Überlagerung von Ökonomie und Ökologie eine zukunftsfähige, und, wo sich Ökonomie und Soziales überschneiden, eine gerechtere Welt.“

Mit gutem Beispiel voran

Mehrere europäische Städte gehen mit gutem Beispiel voran, wenn es darum geht, soziale Räume zu schaffen und die Klimakrise im Kleinen zu bekämpfen. In Barcelona gibt es die sogenannten Superinseln („Superilles“ auf Katalanisch), bei denen quadratische Häuserblocks zusammengefasst und die Straßen im Inneren der Blöcke verkehrsberuhigt und somit – auch dank neuer Installationen wie Sitzgelegenheiten – zu Begegnungsorten für die Anwohner*innen werden. Eingeführt wurden die Superilles unter der Regierung der damaligen linken Bürgermeisterin Ada Colau (2015-2023). Inspiriert von Barcelona denken weltweit weitere Städte über vergleichbare Schritte nach. In der slowenischen Hauptstadt Ljubljana sperrte man bereits 2007 den historischen Stadtkern komplett für den Autoverkehr. Wer sich innerhalb seiner Grenzen auf vier Rädern bewegen möchte, kann auf kostenlose elektrobetriebene Vehikel zurückgreifen (mit dem schönen Namen Kavalir).

Und in Paris wandelt die sozialistische Bürgermeisterin Anne Hidalgo (seit 2014) die Stadt sukzessive zu einer ökologischeren um. Unter ihrer Ägide sind über 400 Kilometer neue Radwege entstanden, während zehntausende Parkplätze abgeschafft und gleichzeitig zehntausende Bäume gepflanzt werden. Mit Folgen: Besaßen um die Jahrtausendwende noch 60 Prozent der Pariser*innen einen Pkw, ist die Zahl inzwischen auf ein Drittel gesunken. Im Jahr 2020 setzte Hidalgo in ihrer (Wieder-)Wahlkampagne ganz auf die 15-Minuten-Stadt und implementiert seitdem Teile des Konzepts mithilfe von Moreno selbst, der seit Ende der 1970er Jahre in Paris lebt.
 
Eine sogenannte Superinsel (auch Superblock genannt) in Barcelona

Eine sogenannte Superinsel (auch Superblock genannt) in Barcelona | Foto: Marek Lumi via unsplash | CC0 1.0


Das sind nur drei Beispiele von vielen, in denen sich Bürgermeister*innen, Initiativen und Aktivist*innen um lebenswertere Städte bemühen, und diese Initiativen beschränken sich keineswegs auf Europa. In Melbourne etwa wird die 20-Minuten-Nachbarschaft umgesetzt, das Emirat Dubai hat einen vergleichbaren Plan vorgelegt, während Torontos Bürgermeisterin Olivia Chow (seit 2023) in der größten Stadt Kanadas ganz auf nachhaltigen Transport setzt. Allerdings sind viele dieser Maßnahmen von politischen Mehrheitsverhältnissen abhängig und deswegen teilweise weniger langfristig als gedacht. In Barcelona beispielsweise machte Colaus Nachfolger Jaume Collboni einige ihrer Entscheidungen direkt wieder rückgängig. Collboni ist zwar weniger progressiv als Colau, aber trotzdem noch Sozialdemokrat (PSC). Dass inzwischen weltweit rechtsgerichtete Regierungen auf dem Vormarsch sind, ist ein sehr schlechtes Zeichen für grüne Stadttransformationen.

Auf dieses zentrale Problem der modernen Stadtplanung weist Moreno auch in seinem Buch am Beispiel von Medellín hin. Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich die kolumbianische Metropole von der gefährlichsten Stadt der Welt zur Vorzeigestadt entwickelt. Die „Metamorphose des urbanen Raums“, so der Stadtplaner, konnte nur gelingen, „weil selbst wechselnde Regierungen über einen langen Zeitraum hinweg an einem Strang zogen“, aber auch, weil der Support des privaten Sektors, sozialer Institutionen und der Einwohner*innen hinter den dauerhaften Veränderungen standen. Das „Testlabor“ Medellín beweist: Man muss sämtliche Akteur*innen ins Boot holen, um die Umgestaltung in eine sozialere und ökologischere Stadt nachhaltig umsetzen zu können.

Valide und weniger valide Kritik

Alles tutti also, wenn alle mitmachen? Nun, am Konzept der 15-Minuten-Stadt gibt es Kritik. Teilweise ist sie richtiggehend hanebüchen und von rechten Verschwörungsglaubenden verbreitet – 2023 sogar von britischen Politikern, darunter dem damaligen Tories-Verkehrsminister Mark Harper. Laut diesen Verschwörungserzählungen ist die 15-Minuten-Stadt wahlweise ein Programm zur Überwachung der Bürger*innen, ein sozialistischer Komplott oder ein „Ghetto“.
 
Protest gegen das Konzept der 15-Minuten-Stadt in Oxford

Protest gegen das Konzept der 15-Minuten-Stadt in Oxford | Foto: Benjamin Elliott via unsplash | CC0 1.0


Es gibt aber auch valide Kritikpunkte. Zum Beispiel die Befürchtung, dass bei der Stadtplanung primär zentrumsnahe, reiche Viertel berücksichtigt werden, was Segregation und Klassenunterschied zu ökonomisch unterprivilegierten Nachbarschaften noch vergrößern würde. (Dazu sei gesagt, dass Moreno explizit erwähnt, mit seinem Konzept gegen Segregation vorgehen zu wollen.) Eine weitere Befürchtung ist, dass durch das Erschaffen von autofreien Zonen im Zentrum die Verkehrsbelastungen für die außerhalb liegenden Viertel ansteige. Und wo im Zentrum die Lebensqualität aufgrund mehr Natur und weniger Verkehr steigt, besteht die Gefahr der „grünen Gentrifizierung“. Und nicht zuletzt beachtet die 15-Minuten-Stadt keine Spezialisierungen. So mögen beispielsweise Schulen für die meisten Kinder in einem laufbaren Umkreis erreichbar sein; Universitäten aber gibt es viel weniger und bedürfen teilweise weiten Anreisewegen. Einen optimalen Job in unmittelbarer Nachbarschaft zu finden, ist für die meisten Menschen Illusion.

Gerade der letzte Punkt ist relevant: Städte bestehen aus viel mehr Elementen und Orten, als in einem 15-Minuten-Umkreis erreichbar sind, und genau das ist auch Vorteil und Reiz von Städten – die Auswahl, Vielfalt, die Spezialisierung. In seinem Buch betont Moreno immer wieder Ubiquität als ein Charakteristikum seiner Fußgängerstadt, also die Standortungebundenheit, die uns gerade die Digitale Revolution ermöglicht hat. Aber auch Telearbeit oder Online-Bürgerberatung machen nur einen Teil des Alltags aus. Wer, sagen wir, den Louvre besichtigen will, muss sich zumeist mehr als eine Viertelstunde bewegen. Natürlich wird Moreno sein Konzept nicht auf exakt 15 Minuten beschränken. Trotzdem findet Spezialisierung bei ihm überhaupt keine Berücksichtigung. Und es ist vergleichsweise einfach, eine Stadt wie Paris, die an jeder Ecke Supermärkte, Gemüsehändler, Apotheken und Bistros und Cafés hat, in eine fußgängerfreundliche zu modellieren.

„Mixed-use“-Gebäude für die Community

Es gibt ein Meme im Internet, das alljährlich zu Thanksgiving kursiert: One more lane will fix it. Ein kurzes Video zeigt den schleppenden Thanksgiving-Verkehr auf zahllosen Fahrbahnen einer Autobahn in Los Angeles, überschrieben mit der ironischen Bitte an Stadtplaner*innen, eine weitere Fahrbahn zu bauen, die den Stau ganz bestimmt auflösen würde. Auch Moreno geht kurz auf das Thema ein und verweist auf den US-amerikanischen Soziologen Lewis Mumford, der schon 1955 im New Yorker den Ausbau des New Yorker Straßenverkehrs kritisierte. Vergleicht man Länder im Globalen Norden, sind die meisten Städte der USA tatsächlich vollkommen anders aufgebaut als in Europa. Aufgrund bestimmter Gesetze, die in Wohngebieten keine Nahversorgung zulassen, sehen die wenigsten US-Städte auch nur annähernd so aus wie New York City, wo es – vergleichbar mit europäischen Metropolen – sogenannte „mixed-use“-Gebäude gibt mit etwa einem Café oder Geschäft im Erdgeschoss und Wohnungen im Rest des Hauses. Diese Gesetze bedeuten gerade in den Wohnsiedlungen der US-Suburbs, dass man aufgrund der Distanz zu Gewerbegebieten keine Erledigungen ohne Auto machen kann.

Da ist es wenig verwunderlich, dass Ideen wie die der 15-Minuten-Stadt und der Dritten Orte gerade bei jüngeren Generationen in den USA auf fruchtbaren Boden fallen. Sowohl Moreno als auch der Erfinder des Konzepts der Dritten Orte Ray Oldenburg erachten Orte des Austauschs, der Community auch als elementar für die Demokratie. Am Ende sollte man den von Moreno propagierten Radius einer Viertelstunde nicht allzu wörtlich nehmen, sondern kann viele europäische Städte bereits als eine Form der 15-Minuten-Stadt interpretieren. Auch wenn Morenos Konzept in einiger Hinsicht nicht zu Ende gedacht oder gar kritikwürdig ist, sollten dennoch durch politische Förderung, etwa durch Subventionen, Mietpreisbremse und Umwandlung von Auto- in Fahrradbahnen, darauf geachtet werden, dass nicht nur der relevante Einzelhandel zu Fuß erreichbar ist, sondern auch Orte der Begegnung für Bürger*innen geschafft werden. Die Demokratie und die Umwelt würden es danken.

Weiterführende Lektüre:

Carlos Moreno, Die 15-Minuten-Stadt. Ein Konzept für lebenswerte Städte. Aus dem Französischen von Bettina Seifried, Alexander Verlag Berlin, 194 Seiten.

Perspectives_Logo Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

Das könnte auch von Interesse sein

Failed to retrieve recommended articles. Please try again.

Empfehlungen der Redaktion

Failed to retrieve articles. Please try again.

Meistgelesen

Failed to retrieve articles. Please try again.