Sollen Gärten vor allem hübsch aussehen oder eher nützlich sein für die kleinen Wesen, die darin leben? Ondrej Čechvala machte sich auf, verwunschene Gärten in Toronto zu erkunden und entdeckte dabei vor allem sogenannte Wildgärten. Oder vielleicht einfach – Naturgärten? Um dieses Phänomen besser zu verstehen, sprach er mit der Architektin Virginie Gysel.
Ein Rasen im Vorgarten muss regelmäßig gemäht, von Unkraut befreit und gepflegt werden. Was würden denn sonst die Nachbar*innen sagen? Und dann erst die ganzen Zecken und all diese Viecher, die sich in hohem Gras so gut verstecken können. Hieß es früher bei uns auf dem Dorf. Mir kam es immer so vor, als sei ein gestutzter Rasen in Mitteleuropa eine Frage der Höflichkeit und gleichzeitig ein ästhetisches Paradigma. Doch auch Wochenendhausbesitzer*innen in abgelegenen Gegenden ist ein gemähter Rasen wichtig. Als wäre es ein Automatismus. Ich habe über dieses Phänomen nie groß nachgedacht, bis ich nach Kanada, nach Toronto, kam. Dort entdeckte ich zahlreiche imposante Häuser, die eindrucksvoll umwuchert waren von Gärten, die vor Insekten nur so summten (genannt Naturgärten oder Wildgärten). Mich faszinierte nicht nur der Anblick dieser Gärten, sondern auch sie zu erkunden und zu fotografieren.Noch interessanter war für mich die Erkenntnis, dass diese scheinbar wilden und chaotischen Gärten in Wirklichkeit das durchdachte Konzept von Gartenarchitekten sind. Jede Pflanze hat hier ihren Platz und soll nicht in erster Linie das menschliche Auge erfreuen, sondern einen Nutzen für die hier lebenden Lebewesen haben. Und Gärten voller Schmetterlinge und Insekten sind wiederum auch für uns eine Freude. Um mehr über dieses Konzept zu erfahren, kontaktierte ich nun die Gartenarchitektin Virginie Gysel, die mich bereits während meines Aufenthalts in Toronto mit dem Geheimnis der dortigen Gärten vertraut gemacht hatte.
Virginie, könntest du uns zu Beginn ein wenig von dir und deiner Arbeit erzählen?
Aufgewachsen bin ich auf einer neunzig Hektar großen Baumschule nördlich von Oakville. Dort gab es einen Obstgarten, einen Bach, einen Sumpf, viele Blaureiher und einen kleinen Wald, in den wir immer zum Picknicken gingen. Den Rest des Grundstücks bildete die Baumschule. Es war ein wunderschöner Ort, um dort groß zu werden; im Frühling hörten wir die Frösche, den ganzen Sommer über die Vögel und Mücken, im Spätsommer die Zikaden und schließlich die Grillen, die den Winter ankündigten. Wir pflückten Waldbeeren, ernteten Binsen und Obst aus dem Garten und manchmal, wenn es ein feuchtes Jahr war, sammelten wir auch Pilze.Studiert habe ich Architektur. Das fand ich ganz furchtbar, aber was ich dort lernte, konnte ich dann bei der Gestaltung von Firmeninterieurs nutzen, das hat mir Spaß gemacht. Dann kam die Rezession und es gab keine Arbeit, also wechselte ich in die Gastronomiebranche – dort findet sich immer was! Meine Freunde fingen damals gerade an, sich Häuser zu kaufen und sie riefen mich an: „Du kennst dich doch mit Gartengestaltung aus und mit Pflanzen, komm und hilf mir beim Planen meines Gartens!“ Und so fing ich mit den Gärten an. Die ersten waren gut, aber nicht grandios! Ich arbeitete dann für verschiedene Gartenarchitekten, von denen ich viel lernte, und am Ende ging ich sogar nochmal studieren, um einen Bachelorabschluss in Landschaftsarchitektur zu haben.
Außerdem gründete ich TreeMobile, eine gemeinnützige, ehrenamtliche Initiative. Ihr Ziel ist es, einen besseren Zugang zu hochwertigen, regionalen Lebensmitteln zu schaffen, mehr Natur in die Stadt zu bringen und als Konsequenz daraus den CO2-Abdruck von Lebensmitteln zu verringern.
Ich war schon in vielen Städten, aber nirgendwo habe ich so schöne Wildgärten gesehen wie in Toronto. Ist das gerade ein neuer Trend oder gab es sie in Toronto schon immer?
Hmm. Das ist eine interessante Frage und es kommt darauf an, wo in Toronto du hingehst. Wie du weißt, ist unsere Stadt eine der kulturell vielfältigsten Städte der Welt. Und die verschiedenen Viertel haben alle ihre eigene Ästhetik. Du hast damals im Osten der Stadt gewohnt, wo es viele Gärten im Stil der englischen Cottage-Gärten gibt, genauso wie im Westen der Stadt. Locker bepflanzt, hübsch, nicht besonders aufwändig. Direkt daneben gibt es Gärten, in denen jeder Grashalm aufrecht steht, die Hecken dreimal im Jahr gestutzt werden und weit und breit kein Unkraut zu sehen ist. Das ist eine kulturelle Sache. Besonders geprägt wurde Toronto durch die englische Kultur, auch wenn natürlich viele andere Kulturen ihre eigene Vorstellung von Gärten mitbrachten und mitbringen.Der klassische englische Garten ist bekannt für seine weichen, natürlichen Formen, die ganz anders sind als die kontinentaleuropäischen, steifen Versionen von Büschen mit ihren streng disziplinierten Formen. Die Briten, die hier ankamen, waren nicht reich, obwohl auch reiche Briten unter ihnen waren, die sich für einen großen grünen Rasen entschieden, als Symbol für ihren Reichtum. Die ärmeren Briten allerdings brachten Samen aus ihren Cottages mit und legten einfache, hübsche Gärten an.
Genau, das ist eine der Arten von Gärten, die mich in Toronto so verzauberten. Welche anderen Arten von Gärten gibt es in Toronto?
Stark vertreten ist auch die französische/italienische Vorstellung von Garten als etwas, das gebändigt werden muss. Der Natur zeigen, wer der Herr ist. Dann gibt es Leute, die in europäischen Städten aufgewachsen sind, die oft keine eigenen Grundstücke hatten und dadurch auch keine Gartentradition. Wenn die dann ein Haus in Toronto kaufen, wird der Vorgarten gepflastert und vielleicht eine einzige Pflanze hineingesteckt. Und diese Pflanze hat denn die Form eines Regenschirms oder einer Kugel (seufzt).Die Chinesen, sehr sparsame und fantastische Gärtner, bauen in ihren Vorgärten eine unglaubliche Menge Obst und Gemüse an. Einen chinesischen Garten erkennst du sofort. Riesige Kürbisse, Stangenbohnen – gehalten von Holzgestellen. Darunter wird weiteres Gemüse angebaut, wie zum Beispiel Salat. Hier wird kein Platz für Zierrat verschwendet, hier geht es um Produktion.
Wenn ich jetzt darüber nachdenke, was ein kanadisches Gartenideal sein könnte, habe ich das Gefühl, es gibt gar keinen einheitlichen Begriff davon, eher einfach leben und leben lassen.
Lass uns nun über die Wildgärten beziehungsweise Naturgärten reden. In Toronto gibt es sehr viele davon und einer ihrer Hauptzwecke ist es, den Lebewesen in ihrer Umgebung als dauerhafter Lebensraum zu dienen. Außerdem tragen sie dazu bei, die heimische Flora und Fauna zu erneuern und zu erhalten. Was sind die Vorteile solcher Wildgärten?
Da gibt es einige. Der größte Vorteil ist wohl die Unterstützung der örtlichen Biodiversität. Nicht-einheimische Pflanzen sind nicht gut für Insekten und andere Lebewesen, da diese mit ihnen nicht überleben können. Heimische Pflanzen lassen sich leichter anpflanzen, weil sie an unser Klima gewöhnt sind. Manche Leute haben Angst, dass sie von einem Insekt gestochen werden, doch meine Erfahrung ist, dass die Insekten so in ihre Arbeit an den Pflanzen vertieft sind, dass sie uns in Ruhe lassen. Ein wichtiger Teil von Wildgärten sind also auch heimische Pflanzen. Die indigene Bevölkerung nutzt sie bereits seit Jahrtausenden als Lebensmittel, Arnzneien und so weiter. Solche Eigenschaften haben Hybrid- oder Zuchtpflanzen nicht.Wie blicken deine Klient*innen auf Wildgärten?
Meine Klienten wollen oft, dass ihre Gärten das ganze Jahr über fantastisch aussehen. Das Problem mit den heimischen Pflanzen ist, dass sie normalerweise grüne Blätter haben, die meine Kunden langweilig finden. Sie sagen: „Und wenn ich dann eine große Grillparty im Garten habe, dann blüht ja gar nichts“. Ich versuche dann immer klarzumachen, dass ein Garten nichts Zweidimensionales ist. Das immer wieder zu erklären, ist manchmal anstrengend. Ein Garten hat Jahreszeiten, er wächst, ist in Bewegung. Er ist ein lebendiges Wesen. Vögel und Schmetterlinge verleihen einem Garten ebenfalls etwas Lebendiges. Ich verwende immer einheimische Pflanzen, die im Garten gut aussehen, und kombiniere sie mit ein paar Zierpflanzen, dann ist das Ganze ausgeglichen.In Mitteleuropa haben wir in den vergangenen Jahren einen Rückgang an Insekten zu verzeichnen, vor allem bei Bestäubern. Wie sieht die Situation in Toronto aus?
Ich denke, das ist auch hier ein Problem. Aber nach der Gestaltung von insektenfreundlichen Gärten beobachte ich gleichzeitig eine Rückkehr von unglaublich vielen Insekten. Ich hatte gar nicht gewusst, dass es so viele verschiedene heimische Bienenarten gibt! Winzige grüne Bienen, Erdbienen, verschiedene Hummeln und so weiter. Ich habe auch seltene Arten wie Baltimoretrupiale, Zitronenfalter und die Raupe eines Mondfalters gesehen. „Stell ihnen etwas hin und sie kommen von selbst,“ wie es in dem Buch Wilding heißt.In Toronto entstehen gerade viele solcher Projekte. Das luxuriöse Royal York Hotel hat Bienenstöcke auf dem Dach. In der Bucht Ashbridges Bay wurden vor kurzem seltene Zugvögel gesichtet. Sie sollten aber doch normal sein, nicht selten. Schafft man Bedingungen, in denen sie sich wohlfühlen, kommen sie von selbst. Und überleben trotz uns. Wir profitieren dadurch also alle.
Hast du schon einmal Nachbarschaftsstreit zwischen Verfechter*innen von Wildgärten und von „hergerichteten“ Gärten erlebt?
Manchmal ist das in Toronto und auch anderswo ein Problem. Es gibt „Unkrautgesetze“, die sicherstellen sollen, dass der Wert von Immobilien oder das Stadtbild nicht durch nachlässige Hauseigentümer in Mitleidenschaft gezogen werden. Das hat auch Auswirkungen auf die Besitzer von Wildgärten und manche von ihnen waren durch den Druck der Nachbarn sogar gezwungen, ihren Naturgarten wieder aufzugeben, was sehr traurig ist. Andererseits sieht die Vorstellung mancher Leute von einem Naturgarten wirklich aus wie ein Unkrautgewirr! Deshalb ist eine professionelle und durchdachte Gartengestaltung auch so wichtig.Darüber hinaus gibt es aber auch bei Naturgärten Techniken, um ein Gefühl von Ordnung herzustellen. Zum Beispiel indem man den Garten in begrenzten Objekten wie einem Container anlegt oder gemähte Wege oder Ränder belässt. Wenn die Kanten ordentlich sind, wirkt auch der ganze Garten nicht chaotisch, sondern frisch und organisiert.
Mir ist deine Begeisterung aufgefallen, als du mir diesen Garten bei der Kirche gezeigt hast, den du entworfen und gestaltet hast. Warum ist dieses Projekt so wichtig für dich?
Naja, ich wollte eigentlich nur Tomaten anbauen. Neben meinem Haus steht eine Kirche, die damals so ein schönes sonniges Fleckchen hatte, an dem eh nicht viel los war. Also habe ich bei der Kirchgemeinde angefragt, ob ich dort nicht ein paar Tomaten anbauen dürfte und ihnen als Gegenleistung Unterstützung bei der Gartenarbeit angeboten. Diese Idee hat ihnen gefallen.Ein Jahr später durfte ich erweitern und auch Bohnen, Kartoffeln und ein paar Kräuter pflanzen. Ich kümmerte mich für sie um ihre Gärten und baute neue Pflanzen an. So waren alle glücklich. Durch den Garten gewann die Kirchgemeinde sogar neue Mitglieder. Im dritten Jahr fragte ich sie, ob ich nicht einen Obstgarten und einen insektenfreundlichen Garten anlegen dürfte. Und sie sagten: „Machen Sie, was Sie wollen, wir vertrauen Ihnen.” Es dauerte nicht lange und es gab in ihrem Garten überall Obstbäume und neue Pflanzen.
Wie haben die Leute auf deinen neuen Garten reagiert?
Den Leuten gefällt es, manche machten sogar Geld locker, um das Projekt zu unterstützen! Die Schulkinder wollen auf ihrem Heimweg immer unbedingt im Garten vorbeischauen und all die bunten Blumen und Schmetterlinge sehen. Die Nachbarn brachten Spaliere, Rankhilfen und Pflanzen vorbei. Manche Freiwillige (es können nie genug sein!) halfen beim Unkrautjäten. Die Leute von Seedy Saturday [eine Initiative von Leuten, die zusammen Pflanzensamen tauschen und teilen, Anm. d. Red.] haben mir Samen in den Briefkasten gesteckt. Die Kirche übernahm die Kosten für das Bewässerungssystem. Ein Mann von gegenüber hatte ein Auge auf den Garten.Einen schönen Garten anzulegen ist sowohl ein Geschenk für andere, als auch für einen selbst. Wenn man gerade im Garten arbeitet, kommen die Leute auf einen zu und unterhalten sich mit einem. Man macht etwas Schönes, also ist es leicht, miteinander in Kontakt zu treten. Es reicht schon, wenn die Leute sagen, dass sie den Garten schön finden und schon ist man mitten im Gespräch.
Das heißt, du hast nicht nur einen Wildgarten angelegt, sondern dadurch eine echte Gemeinschaft geschaffen?
So kann man das sagen. Einer der Freiwilligen, ein älterer Herr, war leidenschaflich engagiert für den Garten. Er hatte darin einen neuen Sinn gefunden. Durch den Garten war er Teil der Gemeinschaft und immer wenn er zum Gießen da war, haben sich alle mit ihm unterhalten. Also hat er SEHR viel gegossen. Er fühlte sich dadurch nützlich und ich war ihm unglaublich dankbar für seine Hilfe.Da kann man mal sehen. Ich wollte eigentlich nur ein kleines Fleckchen für meine Tomaten und schau, was daraus geworden ist. Eine Gemeinschaft. Zusätzlich zum Kirchgarten pflanzten wir während der Pandemie auch Bäume in unserer Straße. Ich habe es jetzt sogar geschafft, sie von der Stadt genehmigen zu lassen, das heißt, unsere Guerilla-Pflanzaktion ist jetzt auch legal. Obwohl sie zu mir meinten, ich solle das bloß nicht nochmal machen (lacht).
Es reicht ein kleiner Funken, damit eine Gemeinschaft entsteht. Ich denke, dass ich dieser Funken war. Aber es haben sich so viele Leute gefunden, die sich für dieses Projekt begeistern, dass es zu einer Sache wurde, die nun die ganze Straße verbindet. Wir gießen Bäume, grüßen uns und helfen einander.
Virginie, die letzte Frage wird nun etwas philosophisch. Wie lautet deine Definition für einen schönen Garten?
Ondrej, das ist jetzt wirklich eine schwierige Frage, die du da stellst. Lass uns mit dem anfangen, was mir gar nicht gefällt: in langweiligen Reihen gepflanzte Dinge, statische Pflanzungen und das Allerschlimmste ist so ein gescheckter Garten, in dem die Leute ohne Nachzudenken von allem etwas pflanzen oder genau zwei Pflanzen immer abwechseln.Und was mir gefällt? Am wichtigsten ist das Arrangement. Ich arbeite mit Symmetrie, mit Sichtachsen und Ausblicken und einem Gefühl von Ordnung. Wichtig sind Zirkulation und auch praktische Aspekte. Durch meinen architektonischen Hintergrund müssen die Sachen immer harmonisch und ausgewogen sein. Wege und Treppen sollten breit und großzügig angelegt werden. Sobald mit der Umgestaltung begonnen wird, ist es notwendig, die Pflanzen so umzusetzen, dass sie eine Struktur haben und auch im Winter interessant aussehen. Der Winter dauert bei uns fünf Monate. Anschließend wird ein Pflanzplan erstellt. Stell es dir vor wie bei einem Hausbau: Der erste Schritt ist wie das Errichten der Mauern und das Pflanzen ist dann wie das Streichen und Aufstellen der Möbel.
Ein schöner Garten ist in Bewegung, zu jeder Jahreszeit interessant und verströmt ein Gefühl von Harmonie. Einzelne Pflanzen sollten sich wiederholen, das Auge folgt dann diesem Rhythmus. Schön ist ein Sinn für das Geheimnisvolle, ein Ort, der gefunden werden muss. Ein paar menschengemachte Objekte, wie zum Beispiel eine Vogeltränke, eine Laube oder eine Statue können dem Garten noch das gewisse Etwas verleihen.
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um.