Was Luftschutzalarm mit unserer Psyche macht  Das Heulen in der Nacht

Das Heulen in der Nacht Illustration: © Tetiana Kostyk

Das unheilverkündende Geräusch von Sirenen ist ukrainischer Alltag geworden. Ihr akustisches Signal triggert eine breite Skala an psychischen Reaktionen, die Betroffene noch in vermeintlicher Sicherheit heimsuchen. Unsere Autorin erkundet die teils widersprüchlichen Emotionen, die der wiederholte Alarm auslöst.

Ich möchte mich herzlich bei der ukrainischen Psychologin und meiner Freundin Walentyna Skljar für ihre psychologische Expertise bedanken, die mir geholfen hat, diesen Text zu verfassen.

Ein Elektromotor dreht große, geschlitzte Schwungräder. Durch den starken Luftdruck entsteht ein tiefes, durchdringendes Summen. Je schneller die Luftmoleküle die Risse durchbrechen, desto höher steigt der Schall. So entsteht der disharmonische Ton einer Luftschutzsirene.

John Robison, ein schottischer Physiker des 18. Jahrhunderts, hatte diesen Mechanismus als Musikinstrument gedacht. Die Menschheit fand jedoch einen anderen Verwendungszweck dafür. Sie warnt vor Gefahren und macht das gut: Ihr starkes, lang anhaltendes Signal ist kaum zu überhören.

In den 20 Monaten, seit Russland seinen großen Krieg gegen die Ukraine führt, ist die Luftsirene zu einem unverzichtbaren Bestandteil des ukrainischen Alltags geworden. Doch mit dem Warnsignal trägt sie weit mehr in unseren Alltag. Was genau das ist, frage ich mich?

Furcht

Die ersten Luftangriffswarnungen in Lwiw ließen mich erstarren. Der Stress drückte auf Körper und Seele wie ein lähmendes Schreckgespenst. Das Atmen fiel mir schwer, die Konzentration ließ nach, die Glieder wurden schlaff. „Nicht bewegen, bis es vorbei ist.“ Manchmal kam es bis zur Dissoziation: Ich wurde in eine bewusstlose Welt hinausgeschleudert. Massiver Beschuss in der Stadt, irgendwo knallt eine Rakete, alle verstecken sich. Und ich stehe mitten auf dem Platz und schaue Kopfkino, eingefroren und fassungslos vor lauter Verblüffung.

Warum? In einer Stresssituation laufen wir auf Autopilot. Wir tun nicht das Notwendige, sondern das Übliche. Fehlt ein bestimmtes Szenario, so begibt sich das Gehirn auf die Suche in den tieferen Gedächtnisreserven. Als würde es einen fragmentierten Film anschauen: Gibt es vielleicht in all dem Informationsmüll doch einen passenden Bandausschnitt? Irgendetwas Hilfreiches? Die Erstarrung begleitete mich noch lange, bis Luftangriffe zum Alltag wurden. Bis ich einen festen Plan hatte.

Ich höre einen Fliegeralarm, wenn es keinen gibt, im Knistern von Haushaltsgeräten, im Knarren von Türen oder einfach in der Stille der Nacht. Das weckt wieder Angst in mir.

Und doch überkam mich die paralysierende Furcht noch einmal, jetzt in Europa. Viele ukrainische Geflüchtete haben große Angst vor Testsirenen. Es ist, als ob der Krieg dich eingeholt hätte. An einem Ort, der Sicherheit versprach. Als ich bei meiner Freundin in Prag vorbeischaue, erschrecke ich über den Alarm. Ich verliere kurz den Gesprächsfaden und starre ins Leere, plötzlich in die fürchterliche Kriegswelt zurückversetzt. [In Tschechien erfolgt an jedem ersten Mittwoch eines Monats um 12 Uhr ein 140 Sekunden langer Test der Luftschutzsirenen. Anm. d. Red.]

Für ein Flashback, eine spontane Rückkehr der Psyche in die traumatische Situation, braucht es einen Trigger. Etwas, das uns an diese Situation erinnert. Der Auslöser muss aber nicht zwingend real sein, auch etwas Imaginäres kann uns triggern. Wie zum Beispiel die sogenannte Phantomsirene. Ich höre einen Fliegeralarm, wenn es keinen gibt, im Knistern von Haushaltsgeräten, im Knarren von Türen oder einfach in der Stille der Nacht. Das weckt wieder Angst in mir. Dann muss ich die Realität testen. Ich drücke meine Ohren fest zu… und wieder auf. Frage die Menschen um mich herum, ob sie hören, was ich höre. Berühre meine Kleidung, trample kurz mit den Füßen. So hole ich mich zurück in das Hier und Jetzt.

Wut

Es ist, als ob ich plötzlich mit kochendem Wasser übergossen wurde. Mein Körper wird unerträglich heiß, mein Herz schlägt wie ein Presslufthammer. Der Energieschub kommt wie aus dem Nichts. Ich reiße mich ruckartig aus dem Bett und schleife einen Sitzsack und meine Decke in den sicheren Flur. Schon da spüre ich etwas in mir schlangenartig aufsteigen. Das ist die Wut.

Mein Verstand diktiert: Das Risiko ist gering, ich habe schon dutzende solcher Alarme erlebt. Aber mein Körper löst trotzdem eine Stressreaktion aus. Die archaischen Strukturen meines Gehirns sind nämlich nicht auf eine durchdachte, analytische Reaktion auf eine Bedrohung eingestellt. Sie haben ihr eigenes Motto, und zwar den Körper sofort und um jeden Preis vor dem Tod zu bewahren. Dazu den Blutfluss erhöhen, die Atemwege erweitern und den Blutzuckerspiegel steigern. Für eine effektive Rettung sorgen.

Adrenalin und Cortisol lösen in mir eine Kampf-oder-Flucht-Reaktion aus. Ich sitze im Flur, wütend wie ein Stier. Keinen zu schlagen, keinem zu entfliehen hier. Wohl kann ich über die Russen fluchen, aber auch nicht zu laut: Die Nachbarkinder. Also lasse ich den Stress ungenutzt. Ich gehe einfach zurück ins Bett, rolle mich zusammen und versuche, wieder einzuschlafen.

Am Morgen spüre ich die Auswirkungen. Sie reichen über die Gereiztheit durch Schlafmangel hinaus. Unverbrauchte Hormone erzeugen körperliches Unbehagen. Bei manchen Menschen führt dieser aufgestaute Stress sogar zu Schmerz- oder Zitterreaktionen. Nach der Arbeit gehe ich ins Fitnessstudio. Ich will das alles wegtrainieren, ausatmen, ausschwitzen. Krafttraining gleicht mich etwas aus. Aber die Wut verschwindet nicht. Sie scheint, bodenlos zu sein.
 

Paradoxerweise fühle ich mich nur dann ängstlich, wenn die Sirenen sehr lange Zeit nicht zu hören sind.

Apathie

Heute ist der 629. Kriegstag. Ich tippe diesen Text in einer offenen Kunstgalerie im Stadtzentrum von Lwiw. Als die nächstliegende Sirene heult, zeigen weder die Besucher*innen noch das Personal besondere Eile. Jemand seufzt frustriert. Ich überprüfe den Telegram-Nachrichtenkanal. Dort erfahre ich, wohin die feindlichen Raketen oder Shahed-Drohnen fliegen und wie viele von ihnen bereits abgeschossen wurden. Bis jetzt ist alles relativ ruhig. Erst wenn es eine Bedrohung in Richtung Lwiw gibt, werde ich in einen Schutzkeller gehen.

Paradoxerweise fühle ich mich nur dann ängstlich, wenn die Sirenen sehr lange Zeit nicht zu hören sind. Offensichtlich ist dies auch eine Folge von Stress. Chronischer Stress kann unsere Amygdala verändern, die Gehirnstruktur, die für die Suche nach äußeren Bedrohungen zuständig ist. Stellt man sich das Gehirn wie eine Schalttafel vor, kann man die Amygdala mit einem großen roten Knopf vergleichen, der eine Reaktion auf Gefahr auslöst. Bei chronischem Stress ist es, als ob ich ständig den Finger auf diesem Knopf hätte. Daher mein ängstliches Überprüfen der Umgebung. Und die mentale Erwartungshaltung.

Ansonsten ist mir die Sirene fast gleichgültig. Wenn sich belastende Erlebnisse wiederholen, verdrängt die Psyche sie früher oder später. Ein ständiger Adrenalinrausch ist sehr energieaufwendig. Von nächtlichem Fliegeralarm erfahre ich oft erst in den Morgennachrichten, denn ich wache nachts gar nicht auf. Mir fehlt einfach die Fähigkeit, stark zu reagieren, körperlich wie emotional. Es ist einfacher, die Ereignisse zu fatalisieren. Wenn jetzt gerade eine Rakete in meine Richtung fliegt, werde ich wahrscheinlich nicht entkommen. Und wenn nicht, wozu sich überhaupt Sorgen machen?

Adaptation

Der Krieg fragmentiert unsere Realität. Er macht sie unzuverlässig, unberechenbar und unkontrollierbar. Aber auch das, was man nicht ändern kann, kann man neu denken. Selbst während ich dieses Essay schreibe, finde ich neue Deutungsmuster.

Auf Youtube gibt es viele Videos mit ukrainischen Sirenen. Eines davon zeigt einen Mann, der mit einer akustischen Gitarre an einem offenen Fenster sitzt. Ein Fliegeralarm ertönt, und ein paar Sekunden später beginnt der Musiker mitzuspielen. Er überlagert das aggressive Geräusch mit einer harmonischen Melodie, als ob er es zähmen wollte. Das gefällt mir sehr gut. Mir ist klar, dass man dafür die Dauer des Klangs bestimmen, den Ton und den Rhythmus anpassen muss. Kurz gesagt: die Sirene richtig gut kennenlernen.
 
Er ist nicht der Einzige, der daran gedacht hat, die Sirene zu „zähmen“. Die ukrainische Band KAZKA verwendete die Aufnahme einer Luftangriffswarnung in ihrem Lied. Ein Ingenieur griff zur Datenanalyse und visualisierte alle ukrainischen Sirenen auf einer Zeitachse. Viele Komiker thematisieren die Luftalarme im Stand-Up. Alle diese Menschen geben schwierigen Erfahrungen einen neuen Kontext. Im Humor wie in der Kunst handelt es sich oft um eine Art Spiel. Wenn wir mit etwas spielen, haben wir keine Angst mehr.

Immerhin ertönt die Sirene zu meiner Sicherheit. Trotzdem möchte ich, dass sie nur eine Erinnerung bleibt. Ich erträume mir eine Zeit, in der alle Fliegersirenen imaginär werden. Wie ihre mythologischen Namensgeberinnen.

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