Ein Blick durch die vergitterten Fenster der psychiatrischen Klinik in Prag-Bohnice, wo die Zeit ihre eigene Geschwindigkeit hat und die temporären Bewohner*innen in der Düsternis der eigenen Abgründe lernen, Farbkonturen zu erkennen. Die Autorin Bára Bažantová ist an diesen Ort zurückgekehrt, um die eigene Reise ins Innere des Kaninchenbaus noch einmal Revue passieren zu lassen.
Ein sonniger Herbsttag, einer der letzten, bald schon wird uns der Winter tief unter die Haut kriechen. Noch bevor wir die Tore der Klinik erreichen, ziehen sich die Wolken über unseren Köpfen zusammen, womöglich damit wir nicht der Illusion verfallen, es ginge hier um einen gemütlichen Parkspaziergang. Auf dem Briefkasten sind Spuren von zwei abgekratzten Aufklebern und ich erinnere mich, wie ich sie mir hier vor einigen Jahren sehr genau angeschaut habe. Auf dem einen stand Good Night White Pride, an den zweiten kann ich mich nicht mehr erinnern, doch inhaltlich war er ähnlich. Damals habe ich überlegt, ob das wohl bedeutete, dass es mehr Antifas als Faschos in der Klapse gibt. Jetzt überlege ich, ob die zerstörten Briefkastenbotschaften darauf deuten, dass die Zeiten sich geändert haben.Unwillkürlich denke ich an meinen Mitpatienten aus der Station drei, ein zierlicher Mann um die sechzig mit Gefühl für klassische Musik und russische Literatur, der sehr gern die offen rassistische und ausländerfeindliche Band Ortel hörte. Den Sänger Tomáš Ortel bewunderte er so sehr, dass er nach ihm Tomáš genannt werden wollte, obwohl er eigentlich Václav* hieß. Die Intensität der Erinnerung überrascht mich – ich bin nicht einmal durch die Eingangshalle gegangen, aber mein Kopf scheint schon zurück in der Klinik zu sein.
Bipolare Bärin
Auf welchem Weg genau ich vor ein paar Jahren die Klinik betrat, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur, dass mich mein damaliger Freund begleitet hat. Jetzt begleitet mich meine Freundin Kateřina, die gerne auf dem Friedhof am anderen Ende des Areals spazieren geht. Wir passieren das Verwaltungsgebäude und vor uns breitet sich eine kleine Wiese aus und darauf die Jugendstilkirche St. Wenzel. Während meines Aufenthalts in der Klinik habe ich sehr viele Menschen kennen gelernt (einschließlich Herrn Václav-Tomáš), die all ihre Hoffnungen auf diese Kirche richteten. Wir da unten im Empfangsgebäude, am Rande der menschlichen Gemeinschaft und auch am Boden der eigenen Existenz haben durch die vergitterten Fenster im wahrsten Sinne des Wortes empor geschaut zu diesem Hügel, auf dem sich der Kirchturm erhebt. Ich erinnere mich, wie unheimlich ich das damals fand, und so wirkt es auf mich auch heute noch. Als gäbe es in dieser Anstalt für erkrankte Geister keine andere Möglichkeit, als Erlösung und Ruhe in einer sakralen Zeitlosigkeit zu finden.Die St.-Wenzels-Kirche befindet sich in der Mitte des Geländes des Psychiatrischen Krankenhauses Bohnice, gegenüber dem Haupteingang. Sie ist ein bedeutendes Werk des Architekten Václav Roštlapil. | Foto: © Bára Bažantová Obwohl zwischen den Wolken immer wieder Sonnenstrahlen durchschimmern, hängt über dem ganzen Areal eine leise Traurigkeit. Es würde mich interessieren, ob das alle so empfinden, oder nur diejenigen, die die Gebäude hier auch von innen kennen. Wir folgen den Spuren der Traurigkeit, links unten am Empfang vorbei Richtung Café, das inmitten von meinen Stationen steht. Unter einer großen Buche hat jemand gelbes Laub zusammen geharkt und plötzlich sehe ich mich selbst, wie ich mich darin mit meiner Klapsenfreundin Naďa herumwälze.
Mit den Händen haben wir die Blätter zwischen vier Bänke geworfen und uns vorgestellt, wir wären in einem Whirlpool. Das Wasser hatte die gleiche leuchtende Farbe wir Naďas dunkelrote Haare und auch ihre weiße Haut hat in diesem orangenen Meer geleuchtet, als wäre sie eine Porzellanfigur. Als bipolare Bärin, wie sie wegen ihres weißen Herbstpelzes von einem anderen Mitpatienten genannt wurde, hatte sie stets zwei Klinikgorillas als Begleitung.
Nadja habe ich im Haus eins kennen gelernt. Ich bin damals nicht sehr lange geblieben, doch Naďa, ursprünglich aus Moskau, fühlte sich in Tschechien noch einsamer und es war für sie viel schwieriger aus dem Teufelskreis der institutionalisierten psychiatrischen Pflege wieder herauszufinden. Ihr Gesundheitszustand war ständig instabil und oft verschwand sie für ein paar Tage hinter den Glaswänden der Station 27, die man hier „Station Unruhe“ nennt, wo sie ans Bett gefesselt die Antipsychotika direkt in die Venen bekam.
Obwohl zwischen den Wolken immer wieder Sonnenstrahlen durchschimmern, hängt über dem ganzen Areal eine leise Traurigkeit. | Foto: © Bára Bažantová
Immer hungrig
Auf Station eins waren solche Wechsel nicht selten. Es ist die Frauenempfangsstation und sehr oft kam es mir vor, als würden hier neben frisch aufgenommenen Patientinnen auch viele landen, bei denen man nicht genau wusste, wohin mit ihnen. Am häufigsten denke ich dabei an Vlasta, sie hatte Wahnvorstellungen und nannte sich Mutter Vlasta. Sie erzählte mir, wie viele Kindern und Verwandte sie hätte, die schon morgen oder übermorgen zu Besuch kommen würden. Doch sie sind nie gekommen. Und sie, wegen der Benzodiazepine immer hungrig, durchwühlte alle Mülleimer auf Zimmern und Fluren auf der Suche nach etwas Essbaren, die karge Klinikkost hat ihr nie gereicht.Wir waren zu acht im Zimmer, acht unterschiedlich verrückte Frauen, alle total benebelt vom Rivotril, vermutlich, damit wir nicht genau mitbekamen, wo wir waren und was um uns herum passierte (oder eben auch nicht passierte, was die Heilungsprozesse betrifft). Einmal wurde eine Frau auf einer Trage hineingebracht und aufs Bett gelegt. Sobald sie wach wurde, drehte sie sich zu Vlasta um und sagte: „Ich möchte Ihnen gern helfen.“ „Wie denn?“, fragte Vlasta, ganz unbeeindruckt von der dringlichen Wehmutsstimme ihrer neuen Bettnachbarin. „Ich würde Ihnen gern etwas schenken.“ „Was denn?“, fragte Vlasta. „Ich weiß nicht, ich habe ja nichts“, antwortete die Frau. „Was sollst du mir auch schenken, wenn du nichts hast!“, sagte Mutter Vlasta, als hätte es sich um ein ganz normales Gespräch gehandelt und zeigte sich (im Unterschied zu mir) gar nicht beunruhigt.
Diese Frau, die immer noch ihre Hände nach Vlasta ausstreckte, begann davon zu sprechen, wie sehr ihr das alles leidtat, dass sie Vlastas Leid und das Leid der ganzen Welt ganz genau spüren würde. Vlasta verjagte sie und die Frau legte sich aufs Bett und begann die Decke anzuschreien. Ich weiß nicht mehr, was sie geschrien hat, aber ich erinnere mich noch sehr gut an die schreckliche Schwere und den Schmerz, diesen unheimlichen Schmerz in ihrer Stimme. Es hat nicht lange gedauert, bis die Klinikschergen mit der Trage wieder da waren. Sie wehrte sich, wollte sich nicht betäuben lassen, doch die beiden haben sie überwältigt und ihr Psychopharmaka direkt in den Unterarm gespritzt. Sie begann zu erlöschen, wurde wieder auf die Trage gelegt und weggebracht, vermutlich auf die „Station Unruhe“.
Die psychiatrische Klinik Bohnice verfügt derzeit über 36 Abteilungen, in denen psychiatrische Behandlungen in verschiedenen Stadien durchgeführt werden. | Foto: © Bára Bažantová
Helenka hat schon elf
Ich erzähle Kateřina davon und überlege, wie es wohl heute auf der Station aussieht, und in dem Moment sehe ich zwei junge Frauen, die etwas abseits vom Café, vor der Station drei sitzen, der Therapiestation. Wir laufen auf sie zu, die eine stellt sich als Mia vor und sagt, sie sei vor ein paar Tagen aus der Eins auf die Drei gewechselt und sehr froh darüber. Die Zeit dort sei auch für sie wegen mangelnden Angeboten quälend langsam vergangen, und das, obwohl sie nach ihrer Ankunft mit starken Medikamenten sediert wurde.Sie erzählt, dass sie außer mit den oft erschöpften und überarbeiteten Pflegerinnen mit kaum jemanden darüber sprechen konnte, wie es ihr ging. Einmal die Woche gab es Oberarztvisite, zehn Minuten an jedem Bett, einmal die Woche ein Gespräch mit der mürrischen Psychiaterin. Ausgang hatte sie keinen und rauchen konnte man nur auf der Toilette in der ersten Etage.
Während sie so erzählt, erinnere ich mich an den schmalen Flur mit drei Kabinen, wie ich dort unter dem Fenster sitze und um mich herum fünf bis acht weitere Frauen, unterschiedlicher Größen, Formen und Diagnosen. Und auch mit unterschiedlichem Status, unterschiedlichen Persönlichkeiten und Meinungen, aber das spielt hier keine Rolle, hier sind wir alle gleich, alle am Ende. Obwohl dort, im Raucherraum der Toilette das Ende nicht ganz so endlich schien, dort war es eigentlich ganz lustig: „So Mädels, wer von euch ist hier wegen einem Selbstmordversuch?“, dröhnt die Stimme einer matrosenhaft aussehenden Frau mit riesigen Brüsten in einem gestreiften T-Shirt. Eine ganze Galerie an Händen schießt in die Höhe. „Und – wie viele?“, wirft die Matrosin in die Runde und die Frauen antworten: zwei, einer, fünf. Die Matrosin zieht an ihrer Zigarette. „Mädels, das ist ja nichts, Helenka hier, die hat schon elf hinter sich.“ Alle drehen sich zu Helenka um und sie kommt mir auf einmal wie eine Heldin vor. Bescheiden senkt sie den Blick auf den Fliesenboden und Alice, eine feurige Mittdreißigerin mit zerzaustem Haar, fragt sie nach ihrem letzten Versuch. „Ich wollte von der Metro überfahren werden, also kletterte ich in Kačerov in den Tunnel.“ Eine Weile herrscht Stille, wahrscheinlich überlegen alle, wie man es hinkriegt, bei solchen Paranummern aus Versehen nicht doch zu sterben. Und das elfmal, das braucht eine ordentliche Portion Fantasie. Und dann ruft Alice: „In der Metro? Weißt du, wie viele Leute wegen dir zu spät zu einem Date kamen?“ Und wir lachen, dass wir kaum noch Luft bekommen. Dann teilen die, die noch welche haben, ihre Kippen mit den anderen, und so geht es bis zur Abenddosis.
Und ich schreibe hier bewusst Dosis, denn das, was man auf Station eins verabreicht bekam, waren keine Medikamente, die jemanden helfen könnten, sondern in Tabletten gepresste süchtig machende Substanzen zum sofortigen Abschalten und Vergessen. Einige erfahrene Frauen versteckten sie zwischen Lippe und Gaumen, unter der Zunge wurden wir von den Pflegerinnen immer kontrolliert. Ich bin mir nicht sicher, warum sie das taten, wir haben nie darüber gesprochen, aber ich weiß, dass ich es damals sofort verstanden habe. Nicht unbedingt rational, aber emotional auf jeden Fall. Es war ein Ausdruck freien Willens, des Widerstands gegen die vergitterten Fenster und die depressiven Nachmittage beim eingezäunten „Freigang“ hinterm Haus, und vielleicht sogar eine Anzweiflung des eigenen Status als Verrückte. Mia beschreibt nun eine ähnliche Erfahrung, so ähnlich, dass ich mich frage, ob sich wirklich so wenig in der psychiatrischen Pflege in Bohnice in den vergangenen Jahren verändert hat.
Bohnice ist nicht gleich Bohnice
Auf der Drei sei es viel besser, sagt Mia. Dort gibt es Ausgänge und Gruppentherapien, niemand muss hier die Last der Welt allein auf seinen Schultern tragen, und auch das Personal sei viel netter. Mia wirkt weder unzurechnungsfähig noch gefährlich, genauso wie die Allermeisten, denen ich hier während meines Aufenthalts begegnet bin. Genauso wie Naďa oder die traurige Frau von der Trage erscheint mir auch Mia eher übersteigert sensibel als verrückt. Wir verabschieden uns und Kateřina und ich steuern das Therapiegebäude an.Hier finden verschiedene Aktivitäten für die mehr oder weniger funktionierende Insass*innenschaft des Areals statt. Der Putz ist an vielen Stellen kaputt, rechts erstreckt sich ein gemauerter Schornstein. Kateřina behauptet, das sehe wie ein Krematorium aus, und was weiß ich schon, vielleicht hat sie damit recht. Heute ist Feiertag und die Werkstätten sind leider geschlossen. Einer meiner langjährigen Freunde, ein hiesiger Therapeut und Psychoanalytiker in Ausbildung bestätigt, dass hier an Feiertagen und Wochenenden fast nur Pflegerinnen und Pfleger anwesend sind und nur einige wenige Ärzte. Schon eine komische Vorstellung, dass ausgerechnet dieser Ort, so weit weg hinter der Toren der Welt, mit dieser in der Unterscheidung von Feiertagen und Werktagen synchron läuft.
Ein bisschen schade finde ich das schon, ich wollte nämlich die Tischlerwerkstatt besuchen. An die kann ich mich aus meiner Zeit hier sehr gut erinnern, ich mochte die handwerkliche Arbeit, den Geruch von Holz und den bärtigen Mann, der die Werkstatt leitete und der mich an ein Waldwesen erinnerte. Zwischen dem Verteilen von Arbeitsaufträgen lernte er Waldhorn oder ein ähnliches Instrument und als ich einmal vorbeikam, um etwas zu fragen, schoss er gleich los: „Und Sie sind wer?“ Ich sagte, dass ich einer der Patientinnen bin, und er sah mich von oben bis unten an und meinte dann: „Um Gottes Willen, warum? Wenn ich hier eingesperrt wäre, würde ich verrückt werden.“
Petr, ein anderer Angestellter hier, meint wiederum, dass Bohnice nicht gleich Bohnice sei, dass es nicht überall zum Verrücktwerden sei. Die Oberärzte der jeweiligen Stationen haben ziemlich viel Macht und dadurch auch viele Möglichkeiten, die Standards und die Abläufe auf „ihren“ Stationen zu beeinflussen. Genauso wie außerhalb der Klinik, hängt es auch hier drin davon ab, an wen man gerät, oder – wie es Petr etwas übertrieben (und vielleicht auch mit einer großen Portion Selbstironie) ausdrückt: wer einen „in die Krallen“ kriegt.
Mir brachte der Aufenthalt in Bohnice vor allem die Erkenntnis, dass, wenn ich mir nicht selbst helfe, das auch keine Klinik für mich tun wird. Doch mein Kaninchenbau war auch nicht so tief wie bei Menschen mit schwerwiegenderen psychischen Qualen. Es drängt sich allerdings die Frage auf, ob Menschen, die in psychiatrische Kliniken eingewiesen werden, zwangsläufig mehr verrückt sind als alle anderen. Ob ihr Leiden, ihr Tappen in Suchterkrankungen und die Schwierigkeit, die eigenen Grenzen zu setzen, in Wirklichkeit nicht eine plausible Antwort auf die grausame menschliche Gesellschaft ist und auf das schwierige Los, ein Bewusstsein zu haben. Denn am Ende sind es größtenteils die, die eine gewisse Macht über andere haben, und oft auch haben wollen, die darüber entscheiden, ob wir zurechnungsfähig oder verrückt sind.
* Alle Geschichten von Mitpatienten und Mitpatientinnen werden mit deren Einverständnis veröffentlicht, die Namen wurden geändert.
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um.
Dezember 2023