Behandlung psychischer Erkrankungen  Warum die Elektrokrampftherapie ein Comeback feiert

Ein frühes Beispiel für die Elektrokrampftherapie (EKT), der sogenannte Bergonische Stuhl.
Ein frühes Beispiel für die Elektrokrampftherapie (EKT), der sogenannte Bergonische Stuhl. Quelle: © Otis Historical Archives National Museum of Health and Medicine

Trotz ihres grausamen Rufs hat die Elektrokrampftherapie (EKT) seit 2014 nicht nur in Mitteleuropa einen massiven Aufschwung erlebt. Medizinische Daten belegen, dass sie bei manchen psychisch kranken Patient*innen sehr wirksam sein kann.

Michael liegt in einem Kittel auf dem OP-Tisch und wartet darauf, dass der Anästhesist ihn in den Schlaf versetzt. Es sieht aus wie ein normaler chirurgischer Eingriff, aber statt Markierungen für Einschnitte werden Michael zwei Elektroden an die Schläfe geklebt, bevor die Narkose wirkt. Michael erhält eine Injektion mit einem Muskelrelaxans, bevor 120 Volt (genug, um drei normale Glühbirnen zu betreiben) durch sein Gehirn geleitet werden und einen 60-sekündigen Krampfanfall auslösen.

Als Michael wieder zu sich kommt, ist er groggy und hat Kopfschmerzen. Ihm werden Tee und Kekse angeboten, bevor er wieder seine Kleidung anzieht und von seiner Frau nach Hause gefahren wird. In zwei Wochen wird er zu einer weiteren EKT-Session wiederkommen, um die Symptome seiner lebenslangen Depression zu lindern. So sieht die EKT im Jahr 2024 aus.

Was ist die EKT?

Die Elektrokrampftherapie oder auch Elektrokonvulsionstherapie (EKT) wurde erstmals 1938 von Ugo Cerletti zur Behandlung von psychischen Störungen wie Schizophrenie und Manie eingesetzt. Die Methode des italienischen Neurologen, bei der Strom zur Auslösung von Krampfanfällen eingesetzt wird, war eine sicherere Variante als frühere Krampftherapien, die auf der Wirkung von Campher basierten. Fast neunzig Jahre später ist das Prinzip der Auslösung von Krampfanfällen zur „Neuverdrahtung“ der Nervenbahnen weitgehend unverändert geblieben, und jedes Jahr werden weltweit 1,4 Millionen EKT-Behandlungen durchgeführt.

Allein in der Tschechischen Republik werden in 26 Einrichtungen jedes Jahr etwa 100 Patient*innen mit einer EKT behandelt. Diese Therapie, die Studien zufolge Erfolgsquoten von über 65 Prozent bei der Behandlung akuter psychischer Erkrankungen aufweist, ist jedoch nach wie vor sehr umstritten und in Slowenien und Luxemburg sogar verboten. Darüber hinaus gibt es rund um diese Praxis weiterhin Missverständnisse.

Ruf und Wirklichkeit

„Ich dachte, man würde mich festhalten, während mein Gehirn gebraten wird“, sagte Sue (48) aus Toronto. „Ich stellte mir vor, dass Dampf aus meinem Kopf aufsteigt und ich danach wie ein Zombie bin. Aber zu diesem Zeitpunkt war ich bereit, alles zu versuchen.“

Die Personalberaterin Sue kämpfte seit ihrer Jugend mit behandlungsresistenten Depressionen (Treatment-resistant depression – TRD) und hatte bereits von Medikamenten bis hin zu Hypnose verschiedenste Behandlungen in Anspruch genommen, bevor ihr Psychiater 2016 zu einer EKT riet. Nach einigem Zögern willigte Sue schließlich ein, sechs Sitzungen einer unilateralen EKT (bei der eine Elektrode auf dem Scheitel und eine weitere auf einer Seite des Kopfes angebracht wird) über einen Zeitraum von drei Wochen zu absolvieren.

„Es war, als hätte sich ein Nebel gelichtet. Alltägliche Dinge wie das Putzen der Wohnung, Telefonieren und Autofahren fühlten sich wieder normal an. Ich nahm weiterhin Celexa [ein Antidepressivum] und ging zur Beratung, aber alles fühlte sich besser an“, erzählte Sue.

Mehrere der befragten Personen teilten dieses Gefühl der „Rückkehr zur Normalität“ nach der EKT, wobei eine Person ihre Reaktion auf die Behandlung als „wie das Umlegen eines Schalters“ beschrieb.

Dr. Stephen J. Seiner, Direktor des Programms für psychiatrische Neurotherapie am McLean-Krankenhaus in Boston, sagte: „Keine andere Methode hat sich bei der akuten Behandlung von Depressionen als wirksamer erwiesen als die EKT.“ Die vielversprechenden Statistiken zeigen, dass die EKT in den letzten zehn Jahren in weiten Teilen Europas immer häufiger eingesetzt wird, wobei Spanien und Belgien den größten Anteil der Patient*innen behandeln. Doch obwohl die Forschung zeigt, dass die EKT positive Ergebnisse erzielen kann, wenn andere Behandlungen versagt haben, bleibt sie eine kontroverse Behandlung, und einige Menschen berichten von negativen Erfahrungen.

Amnesie und andere EKT-Nebenwirkungen

Sally (49) aus Bristol erhielt 2019 zwölf EKT-Sitzungen wegen einer schizoaffektiven Störung, die Wahnvorstellungen und Selbstmordgedanken auslöste. Die ehemalige Rezeptionistin sagte, die Behandlung habe sie traumatisiert und verwirrt zurückgelassen.

„Ich fühlte mich nach jeder Sitzung krank und habe viel Gewicht verloren. Mein Gehirn war schon vorher verwirrt, aber jetzt kann ich nicht mehr zuhören, wenn jemand länger als ein paar Minuten mit mir spricht, und meine Motorik ist kaputt, ich tue mich schwer, zu tippen und manchmal sogar damit, mir meine Schuhe anzuziehen.“

Sally sagte, ihre Wahnvorstellungen hätten seit der Behandlung nachgelassen, aber die negativen Auswirkungen stellten die Vorteile bei weitem in den Schatten.

Wie Sallys tragisches Zeugnis zeigt, gibt es keine Behandlung, die völlig frei von Nebenwirkungen ist, und es gibt keine Garantie, dass ein Prozedur funktioniert. Im Falle der EKT wird die Gefahr einer dauerhaften Schädigung des Gehirns von Fachleuten widerlegt, wie Dr. Seiner kommentierte: „Zahlreiche bildgebende Studien haben im Laufe der Jahre immer wieder gezeigt, dass EKT keine strukturellen Schäden im Gehirn verursacht.“

Eine unbestreitbare Nebenwirkung der EKT ist der Gedächtnisverlust, den viele Menschen erlitten haben, darunter auch der Lehrer Brian (52) aus Kalifornien. Brian hat im Laufe von neun Jahren etwa 150 EKT-Behandlungen wegen einer Bipolar-II-Störung erhalten. Bei einigen der Behandlungen handelte es sich um Akutbehandlungen, die dreimal wöchentlich als Reaktion auf schwere psychische Episoden durchgeführt wurden, bei anderen um Erhaltungsbehandlungen, also Behandlungen in längeren Abständen, um Rückfälle zu verhindern oder zu lindern. Brian sagte, dass er nach der zwanzigsten Sitzung einen Unterschied in seinem Gesundheitszustand feststellte und dass er die EKT insgesamt weiterhin als nützlich empfindet, jedoch habe er „viele enorme Gedächtnislücken“.

„Manchmal fiel es mir schwer, mich an die Namen von mir nahestehenden Personen zu erinnern, an Details autobiografischer Ereignisse und daran, wie ich mich in einst vertrauten Gegenden zurechtfinde“, sagte er. Brian betont jedoch auch, er betrachte die Nebenwirkungen als kleinen Preis für die Vorteile, die er gewonnen hat, und konstatiert: „Ich hatte mein Leben zurück.“

EKT – ein medizinisches Rätsel

Warum die EKT eine Amnesie verursacht, ist unklar, und darin liegt ein weiterer wichtiger Streitpunkt in der Praxis: Kein medizinisches Gremium, kein*e neurologische*r Spezialist und kein*e EKT-Praktiker*in versteht vollständig, wie die EKT tatsächlich funktioniert. Es hat sich gezeigt, dass ein Krampf die Durchblutung des Gehirns verändert, was mit einer verbesserten Leistung der Amygdala und des frontalen Kortex (Bereiche, die mit Emotionen in Verbindung stehen) in Verbindung gebracht werden könnte. Einige Theoretiker vermuten, dass ein solcher Anfall eine Unterbrechung der neuronalen Schaltkreise des Gehirns auslöst, so dass sich das Gehirn neu verdrahten kann – eine Art neurologischer Neustart. Derzeit gibt es jedoch noch keine endgültige Aussage darüber, wie die EKT psychische Erkrankungen lindert.
 
 

EKT und Popkultur

Ein weiteres Stigma, das die EKT umgibt, hängt mit ihrer Darstellung in den Medien zusammen. Szenen von schwach beleuchteten Räumen mit Patient*innen, die sich gegen ihre Fesseln wehren, während sie mit so viel Strom betäubt werden, dass man damit ein Ferienhaus am Meer versorgen könnte, kennt man aus Filmen wie Shine, Face Off und – am bekanntesten – aus der Verfilmung von Ken Keseys Roman Einer flog über das Kuckucksnest (Regie: Miloš Forman) von 1975.

In diesem Kultfilm, der von Keseys eigenen Arbeitserfahrungen in den psychiatrischen Anstalten der 1950er Jahre geprägt ist, wird der Protagonist Mac gegen seinen Willen einer EKT unterzogen. Er wird von einer Schar weißgekleideter Mediziner*innen festgehalten. Zwar haben Sedierung und niedrigere Stromspannungen das EKT-Verfahren inzwischen verändert, doch wird die Behandlung in einigen Fällen immer noch ohne die Zustimmung der Patientin oder des Patienten durchgeführt.

In der Tschechischen Republik kann eine Person zwangsweise in ein Krankenhaus eingewiesen werden, wenn sie eine akute Gefahr für sich selbst oder andere darstellt. Im Vereinigten Königreich kann dies auf der Grundlage des Mental Health Act von 1983 rechtlich durchgesetzt werden, wie es bei Emily (69) aus London im Jahr 2014 der Fall war. Emily litt unter einer Psychose, die dazu führte, dass sie aus Angst vor einer Vergiftung nicht mehr essen konnte. Sie erhielt gegen ihren Willen eine EKT.

„Ich habe ihnen gesagt, dass ich das nicht will, ich habe mir vorgestellt, wie ich festgeschnallt bin und am ganzen Körper zittere“, sagte sie.

Emilys Erfahrung entsprach ihren schlimmsten Vorurteilen, als sie durch vier verschlossene Türen in einen isolierten Flügel eines viktorianischen Krankenhausgebäudes gerollt wurde. Sie beschreibt, wie sie die Narkose erhielt und alles schwarz wurde, bevor sie mit Kopfschmerzen aufwachte und ihr die Haare zu Berge standen. Anfangs spürte Emily keine Auswirkungen der EKT und dachte, sie würde nicht funktionieren, aber nach neun Sitzungen beschrieb sie eine plötzliche „Rückkehr zur Normalität“.

„Nach der neunten Sitzung wachte ich morgens auf, als die Sonne durch das Fenster hereinkam und ich hörte, wie jemand John Holts Morning of my Life spielte. Zum ersten Mal seit Monaten fühlte ich mich wach und tanzte zu der Musik, während ich mein Bett machte und mich anzog. Da wusste ich: Ich war wieder da!“

Die neunte EKT-Sitzung war Emilys letzte und fast zehn Jahre später hat sie sich ohne Rückfall oder Gedächtnisverlust vollständig erholt. Da es sich bei Emilys Krankheit um eine einmalige Episode und nicht um eine chronische Erkrankung handelte, waren keine weiteren Sitzungen erforderlich.
 
Flow Neuroscience-Headset, das transkranielle Direktstromstimulation von zu Hause aus ermöglicht.

Flow Neuroscience-Headset, das transkranielle Direktstromstimulation zu Hause ermöglicht. | Foto: © Gillian Fisher

EKT als letzter Ausweg, medizinische Vorsicht oder finanzielles Kalkül?

Wie alle Personen, mit denen ich gesprochen habe, hatte Emily vor der EKT mehrere unwirksame Behandlungen ausprobiert, in ihrem Fall insgesamt sieben verschiedene Antidepressiva und Antipsychotika. Das National Institute of Clinical Excellence rät, dass die EKT nur dann angeboten werden sollte, „wenn alle anderen Behandlungsmöglichkeiten versagt haben“, vermutlich wegen der Intensität des Prozesses, aber Emily glaubt, dass die Kosten der entscheidende Faktor sind. „Man hätte es mir früher anbieten sollen, aber es ist natürlich teurer als Tabletten, man braucht den Anästhesisten, das Gerät und das Personal“, sagte sie.

Im Vereinigten Königreich kostet eine sechsmalige EKT-Behandlung den staatlichen Gesundheitsdienst schätzungsweise 2.475 britische Pfund [etwa 2900 Euro], und wer sich privat behandeln lässt, muss bis zu 1.200 Pfund [etwa 1400 Euro] für eine einzige Sitzung ausgeben. Alternativ dazu kostet eine Monatsration Sertralin, das landesweit am häufigsten verschriebene Antidepressivum, bei der maximalen Tagesdosis von 200 mg 1,98 Pfund [2,33 Euro].

Pillen zu schlucken ist eindeutig die billigere Option, und das Fehlen einer wissenschaftlichen Erklärung für die Wirksamkeit der EKT macht sie weniger marktfähig. Aber das unerschütterliche Stigma der medizinischen Barbarei scheint der Hauptgrund dafür zu sein, dass die EKT nicht häufiger angeboten wird. Die Verkaufszahlen der schwedischen Flow Neuroscience-Headsets, die elektrische Impulse in das Gehirn senden, sind jedoch in die Höhe geschnellt. Das Gerät für den Heimgebrauch löst zwar keine Krampfanfälle aus, ist aber durch die transkranielle Gleichstromstimulation eine Art „EKT light“.

Nach Angaben der WHO leidet europaweit eine*r von sechs Menschen an psychischen Problemen, was einem Anstieg von 25 Prozent seit der Covid-19-Pandemie entspricht. Der Verbrauch von Antidepressiva hat sich seit 2020 in der EU mehr als verdoppelt, während er in der Tschechischen Republik um mehr als 600 Prozent gestiegen ist; 660 000 Menschen nehmen heute stimmungsstabilisierende Medikamente ein. Da die Prävalenz psychischer Erkrankungen von Jahr zu Jahr zunimmt, müssen offenbar neue Wege beschritten oder alte überdacht werden.

Die Zukunft der EKT

Damit die EKT zu einer praktikablen Option wird, muss der Schleier des Geheimnisses, der die Behandlung umgibt, gelüftet werden. Eine stärkere Sensibilisierung für das Verfahren, für das, was eine Sitzung im Jahr 2024 beinhaltet, und für die positiven und negativen Auswirkungen würde dazu beitragen, das Tabu zu brechen. Eine strengere und einheitlichere Regulierung des Verfahrens in Bezug auf die angewandten elektrischen Ströme, die Dauer der Behandlungen und die verwendete Anästhesie würde die Ergebnisse messbarer machen. Darüber hinaus ist eine umfassende Prüfung der verwendeten Geräte unerlässlich, um die Sicherheit der Patienten zu gewährleisten. Für Menschen, die eine psychiatrische Behandlung benötigen, ist es von entscheidender Bedeutung, alle verfügbaren Optionen zu kennen, und während die EKT für einige negativ war, hat sie für andere ihr Leben zum Besseren verändert.

Wie Dr. Seiner sagte: „Es ist ein sehr mächtiges Werkzeug im Werkzeugkasten. Heben Sie es sich auf für den Fall, dass es wirklich gebraucht wird. Bei manchen Patienten, insbesondere bei solchen, die sehr schnell sehr krank geworden und suizidgefährdet sind, sollte dieses Instrument viel früher eingesetzt werden.“
Die slowakische Monatszeitschrift Kapitál, einer unserer Partner im Projekts Perspectives, veröffentlichte eine Reportage zu diesem Thema von Barbara Vojtašáková, auf Slowakisch nachzulesen hier: Je elektrokonvulzívna liečba stále kontroverzná?.

Perspectives_Logo Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

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