Die traumatischen Erfahrungen des Krieges verschwinden nicht einfach. Jede*r muss selbst entscheiden, wie damit umzugehen ist. Für Natalia Shcherbyna, eine Psychotherapeutin aus der Ukraine, sind Bildung und Selbsterkenntnis der Schlüssel zur Wahrung ihrer Integrität geworden.
Es kommt manchmal vor, dass man die Helden einer Reportage nicht suchen muss, sondern sie einfach findet. Man erkennt sie an einem gewissen Blick, an der Art wie sie reden; man spürt – dieser Mensch hat etwas zu erzählen. So ging es mir mit Natalia. Wir lernten einander auf dem Internationalen Bibliothekenforum in Lwiw auf einer Bühne kennen. Ich war als Vortragende eingeladen, und Natalia war die Moderatorin. Unser Thema lautete: „Wie man mit Kindern über den Krieg spricht“. Nach der Veranstaltung gingen wir zum Mittagessen, und ich merkte, dass meine Intuition mich nicht getrogen hatte. Noch am selben Tag vereinbarten wir ein Interview.Für Natalia begann der Krieg lange vor der russischen Invasion von 2022, und er hat in ihrem Leben unauslöschliche Spuren hinterlassen. Eine Kollegin hat mir Natalia als „Psychotherapeutin und Bibliothekarin“ vorgestellt; erst später begriff ich, wie diese beiden beruflichen Identitäten miteinander verbunden waren. Natalia erzählt ihre Geschichte und zeigt damit, welche Rolle Bildung, Bibliotheken und Selbsterkenntnis bei der Bewahrung der Integrität einer Person spielen.
Kriegsgefangene
Nach der Besetzung der Krim bekamen wir es erstmals mit Kriegsgefangenen zu tun; betroffen waren vor allem Journalist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen. Damals gab es in der Ukraine keine Spezialist*innen, die in der Betreuung von Menschen, die Gefangenschaft und Folter durchlebt hatten, Erfahrung vorweisen konnten. Der Psychologische Hilfsdienst suchte nach einer Leitung für diesen Arbeitsbereich. Nach einem Monat der Suche hatte man noch immer keine entsprechende Fachkraft gefunden; also rief ich an und meldete mich freiwillig. Ich dachte mir: „Wenn ich lerne, mit solch schwierigen Lebensgeschichten umzugehen, werde ich ein echter Profi.“ Ich war zuversichtlich, was meine Fähigkeiten anging. Allzu zuversichtlich, wenn ich ehrlich bin.
Die ersten zwei Jahren in dem neuen Job waren sehr herausfordernd für mich. Ich las viel, beriet mich häufig mit Kolleg*innen, dachte nach und war ständig am Lernen. Die meisten Menschen, die aus der Gefangenschaft entlassen und in Kyjiw medizinisch untersucht wurden, wurden später direkt an mich überwiesen, um psychologische Unterstützung zu erhalten; denn die Ergebnisse meiner Arbeit waren überzeugend. Mit der Zeit kamen auch Menschen aus anderen Städten zu mir. Es waren Leute, die ein oder zwei Jahre lang geschwiegen hatten, was ihnen in den Kellern widerfahren war. Das Grauen ließ sie nicht los, beherrschte ihre Träume und hatte auch körperliche Spuren hinterlassen. Ich konnte den Menschen helfen, ihre Geschichte der Gefangenschaft von Anfang bis Ende zu verbalisieren und sich auf diese Weise von ihr zu befreien. Nach unseren Sitzungen waren einige sogar in der Lage ihre Erlebnisse zu Protokoll zu geben.
Als meine Supervisorin hörte, dass ich mich vierzig bis fünfzig Stunden im Monat mit den Geschichten von Gefangenen auseinandersetzte, fragte sie mich, ob ich den Verstand verloren hätte. Sie sagte: „Sie können nicht mehr als einen, maximal zwei Klienten beraten. Sie machen sich sonst kaputt!“ Ich entgegnete: „Aber sehen Sie doch wie lange ich mit Klienten bereits arbeite! Schon drei Jahre lang – und nichts ist mit mir geschehen. Es mag merkwürdig klingen... aber vielleicht ist es Gottes Wille, dass ich mit diesen Leuten arbeite. Sie erzählen mir die schlimmsten Dinge, aber es verletzt mich nicht im Geringsten. Ich kann Ihnen mit Sicherheit sagen, dass ich eine besondere Begabung für diese Arbeit habe.“
Mexiko
Nach etwa drei Jahren intensiver Arbeit begann ich plötzlich, über den Tod nachzudenken: Es war auf einem Spaziergang; ich ging ohne Schwermut, frei von Gefühlen jeder Art, für mich hin, da überkam mich folgender Gedanke: „Wenn ich nicht zu meiner Tante fahre, werde ich sterben.“ Hierzu muss man wissen, meine Tante lebt in Mexiko. Sie war mir immer besonders nahe, zumal sie und meine Mutter Zwillinge waren. Ich hatte ein paar Ersparnisse und so beschloss ich zu ihr nach Mexiko zu reisen. Nachdem ich einen Aufpasser für meine Tochter gefunden hatte, machte ich mich auf den Weg.
Ich dachte, ich würde mich nun endlich einmal erholen können… – aber drei Tage nach meiner Ankunft kamen die Schmerzen. Es waren psychosomatische Schmerzen, aber das wusste ich damals noch nicht. Die Lymphknoten unter meinen Armen schwollen so stark an, dass ich nicht mehr schlafen konnte; ich musste mir deswegen sogar Kissen unter die Arme klemmen. Meine mexikanische Familie war sehr beunruhigt.
Ich wurde in Krankenhäuser gebracht, durchlief endlose Tests, sogar bei einem Onkologen war ich – nichts wurde gefunden. Die Ärzte verschrieben mir Schmerzmittel; die halfen zwar ein wenig, aber beschwerdefrei wurde ich nicht. Stattdessen begannen die Schmerzen zu wandern: Erst tat mir eine Woche lang der Kopf weh, nachdem der Kopfschmerz vorbei war, bekam ich es in den Beinen, und schließlich war der Rücken dran… Zwei Monate war ich in Mexiko und zwei Monate habe ich gelitten. Schließlich kam der Tag meiner Heimreise. Nachdem mein Flugzeug auf dem Flughafen Boryspil gelandet war, nahm ich mir ein Taxi, fuhr nach Hause, und legte mich ins Bett. Am nächsten Morgen waren alle meine Schmerzen verschwunden!
In Mexiko war ich an einem sicheren Ort, im Schoß meiner Familie, mein Körper entspannte sich und alle bisher verborgenen Spannungen traten zu Tage. Als ich nach Hause zurückkehrte, baute mein Körper seinen gewohnten Schutzschild wieder auf und der Schmerz verschwand. Heute gehe ich bewusster und gelassener mit den Signalen meines Körpers um. Wenn mir etwa das Bein wehtut, fange ich an, mit ihm zu reden. Ich sage dann etwa: „Na, was ist denn los? Hast du schon wieder Angst?“, und zwei Minuten später ist der Schmerz weg. Heute behaupte ich nicht mehr, „auserwählt“ worden zu sein; vielmehr versuche ich zu vermitteln, wie wichtig es für einen Psychotherapeuten ist, verantwortungsvoll mit den Aufgaben des Berufes umzugehen, das eigene psychologische Abwehrsystem zu verstehen und Heldentum als Berufsphilosophie abzulehnen.
Bibliothek
Zu jener Zeit fiel mir die Arbeit bereits sehr schwer. Ich konnte es schon nicht mehr ertragen, wenn mir Menschen erzählten, wie sie in Donezk gefoltert wurden. Schließlich kam die Zeit der Corona-Pandemie. An die Stelle der Foltergeschichten traten nun andere Berichte des Grauens und der Verzweiflung. Erinnern Sie sich noch, wie beängstigend die Pandemie zu Anfang war?
Nach allen diesen Jahren, in denen mir Menschen von unmenschlicher Grausamkeit berichtet hatten, von der Angst, die allgegenwärtig gewesen war, begann ich es selbst zu fühlen: die abgrundtiefe existentielle Verzweiflung, das Gefühl der Sinnlosigkeit.
Ich beschloss, mit der Arbeit aufzuhören, mir eine andere Beschäftigung zu suchen, mein Leben zu ändern. Eines Tages scrollte ich durch meinen Facebook-Feed und entdeckte eine Anzeige für einen Job in einer Bibliothek. Ich habe sofort angerufen! Bücher bedeuten für mich sowohl Sicherheit als auch Vergnügen, denn ich bin im wahrsten Sinne des Wortes zwischen Büchern aufgewachsen. Die Bibliothek meiner Familie umfasste 4000 Bände! Wann immer ich ein Buch beendet hatte, verschlang ich sofort das nächste. Nicht lesen zu wollen, galt in meiner Familie als unanständig.
Ich beschloss also, an dem Vorstellungsgespräch teilzunehmen. Ich wurde genommen; als ich meine Personaldaten angab, bemerkte ich, dass die Bibliotheksdirektorin und ich den gleichen Nachnamen hatten. „Das muss Schicksal sein“, dachte ich. Es waren zwei besondere Jahre. Ich hatte großes Glück mit meiner Chefin. Ivanka unterstützte mich und beschützte mich sogar in gewisser Weise. Sie müssen wissen – ich werde selten beschützt. Ich wirke nämlich nicht wie jemand, der Schutz benötigt. An der Seite von Ivanka konnte ich wieder zu Kräften kommen. Diese Erinnerungen sind sehr wertvoll für mich.
Im Magazin
Ich war für diese Arbeit prädestiniert, weil ich es liebte, Bücher nach dem Alphabet zu sortieren. Keine meiner Kolleginnen mochte diese Arbeit, weil sie ihnen zu langweilig war. Ich aber konnte mich stundenlang mit ihr beschäftigen. Das Ordnen war für mich wie eine Meditation. Ich liebte die Arbeit im Magazin, den Geruch der Bücher, die völlige Stille. Wann immer ich ins Magazin ging, fühlte ich, wie sich mein Körper entspannte... Angeblich ist es schlecht für die Lunge, wenn man sich lange in einer staubigen Umgebung aufhält. Dennoch spielte ich mit dem Gedanken, ein Klappbett im Magazin aufzustellen und dort zu übernachten, so sehr genoss ich dieses Gefühl von Sicherheit und Ruhe, von Vorhersagbarkeit und Kontrolle, und auch den Geruch, den ich von Kindesbeinen an kannte. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie viele Therapiestunden ich gebraucht hätte, um mich zu erholen, hätte ich nicht dieses Refugium gehabt. Meine Wunden, meine seelischen Wunden, wurden dort geheilt.
Bookcrossing und Heilung
Meine andere Leidenschaft in der Bibliothek war das Bookcrossing: Die Leute brachten uns viele Bücher, die sie zwar nicht mehr benötigten, aber auch nicht wegwerfen wollten. Es waren vorwiegend alte Bücher, genau wie jene, die bei mir zu Hause standen. Ich habe die Bücher an Interessent*innen weitergegeben, und auf diesem Wege ist mir manches Wunder passiert; man könnte auch von Zufällen sprechen, wenn Ihnen dieser Begriff besser gefällt.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich hatte eine alte Ausgabe von Quo vadis von Henryk Sienkiewicz, die für das Bookcrossing vorgesehen war. Das Buch war in einem ausgezeichneten Zustand und lag unter meinem Bibliothekstresen. Kurz vor Weihnachten komme ich mit einer Bibliotheksbesucherin ins Gespräch. Wir erzählen einander von unseren literarischen Vorlieben, unseren Träumen von noch nicht gelesenen Büchern. Da eröffnet mir meine Gesprächspartnerin, dass sie bereits seit Jahren erfolglos nach einer alten Ausgabe von Quo vadis suche. In dem Moment ziehe ich das Buch langsam unter dem Bibliothekstresen hervor und sage: „Ich schenke Ihnen das Buch. Frohe Weihnachten!“. Sie hätten das Gesicht der Frau sehen sollen!
Einmal habe ich eine Mappe mit alten Karten von Kyjiw und der Ukraine bekommen. Daraufhin habe ich eine Anzeige auf olx geschaltet. Schließlich kam zu mir ein Mann, der sein ganzes Leben geographische Karten gesammelt hat. Wie er die Karten befühlt hat! Er hat sogar an ihnen gerochen und dabei die ganze Zeit gelächelt.
Über das Bookcrossing auf olx habe ich auch viele ukrainische Schriftsteller*innen entdeckt. Zum Beispiel Iryna Wilde. Einmal habe ich dort eine zweibändige Ausgabe ihrer Werke gefunden, eine solche hatte ich bis dahin erst einmal gesehen. Ich beschloss, die Bücher zu erwerben. Bookcrossing im Internet ist schon eine tolle Sache!
Etwa ein Jahr später begann ich wieder mit meiner psychotherapeutischen Praxis. In der Bibliothek richteten wir während der Schulferien eine Begegnungsstätte für Kinder ein. Wir brachten den Kindern bei, wie man Geld zählt und wie man miteinander umgeht. Jeden Abend erzählten wir den Eltern, was ihr Kind an diesem Tag gut gemacht hatte und was ihm gelungen war. Wir haben nur von positiven Dingen berichtet. Die Eltern waren mitunter angespannt, weil sie fürchteten, dass ihre Kinder etwas ausgefressen haben könnten.
Eine Mutter ist mir ständig ausgewichen. Sie hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um mir in der Bibliothek nicht über den Weg zu laufen. Ihr Sohn hatte Probleme in der Schule, und wie sich später herausstellte, war der Besuch unserer Begegnungsstätte ein weiterer Versuch der Mutter, einen sicheren Raum für ihren Sohn zu finden, in dem er mit Gleichaltrigen interagieren konnte. Ich habe die Mutter schließlich doch dazu gebracht, mit mir ein Gespräch zu führen; ich erzählte ihr, wie gut ihr Sohn bei uns seine Rechenaufgaben gelöst hatte. Sie wollte mir nicht glauben, hörte mir gezwungenermaßen zu und lief wieder weg. Viele Eltern sind nicht bereit sich Geschichten über die innere Schönheit und Güte, die Talente und Erfolge ihrer Kinder anzuhören. In unserem Bildungswesen steht das Loben nicht hoch im Kurs. Wir sind gewohnt, uns vernichtende Kritik an den Kopf zu werfen und uns gegenseitig damit zu vergiften.
Die Invasion
Wie sich herausstellte, teilte ich mit Angestellten der russischen Botschaft dasselbe Treppenhaus. Einer von ihnen machte unserer Pförtnerin den Hof. Am 23. Februar 2022 verließen sie alle eilig das Haus. Besagter Verehrer würdigte die Pförtnerin keines Blickes, als er seine Habseligkeiten aus dem Haus trug; er verabschiedete sich nicht einmal von ihr.
Meine Nachbar*innen und ich bereiteten uns auf die Verteidigung der Stadt vor. Wir machten Molotow-Cocktails, patrouillierten durch die Straßen, hielten Ausschau nach Saboteuren, versorgten einsame alte Menschen, suchten nach gelben Bändern, um die meine unbeugsame Ivanka gebeten hatte, und unterstützten uns gegenseitig. Ende März beschloss ich, nach Lwiw zu gehen; und im April trat ich den Maltesern bei.
Mittlerweile bin ich wieder in meinem Fachgebiet tätig: Ich helfe Veteranen in einem Rehabilitationszentrum. Sie haben schwere Verletzungen, komplexe Mehrfachamputationen, Erfahrungen von Gefangenschaft und Folter. In der aktuellen Situation ist das wirksamste therapeutische Mittel, Dankbarkeit zu zeigen. Ich danke ihnen dafür, dass sie uns beschützt haben; viele Männer weinen, weil sie von ihrer Umwelt nicht ausreichend Dank erfahren. Sie sind auch sehr verängstigt und sie sprechen auch über ihre Angst. Zum einen haben sie Angst, vergessen zu werden. Zum anderen haben sie Angst, dass jemand aus ihrem Dorf oder aus ihrer Stadt ihnen sagt: „Wir haben dich nicht dorthin geschickt“. Ich gebe den Leuten dann immer meine Visitenkarte und sage: „Aber ich habe Sie dorthin geschickt, ich habe Sie um Schutz gebeten, und Sie sind nicht weggelaufen. Sie haben mich, meine alte Mutter, mein Kind beschützt. Das werde ich Ihnen nie vergessen!“
Mein Team und ich arbeiten auf unterschiedliche Weise mit den Veteranen, weil jeder von ihnen seine eigene Geschichte und seine eigenen Bedürfnisse hat. Ich bin ausgebildete Traumatherapeutin und verfüge über eine breite Palette an Techniken. Einige Veteranen sind bereit, ihre Erinnerungen mitzuteilen, während andere lieber über ihre Kinder und die Zukunft sprechen wollen. Es ist wichtig, so zu arbeiten, dass der Veteran den oder die Psychotherapeut*in als etwas Positives wahrnimmt; damit er sich, nach Beendigung seiner Rehabilitation, auch weiterhin nicht scheut, die Hilfe von Psycholog*innen in Anspruch zu nehmen. Wir arbeiten also auch für unseren Berufstand, für das Vertrauen in unsere Arbeit im Allgemeinen. Abgesehen davon möchte ich jedoch noch einmal betonen: am wichtigsten ist es, den Veteranen unsere Dankbarkeit zu zeigen.
Dissoziation
Ich weiß, dass mein Hauptabwehrmechanismus die Dissoziation ist. Dabei handelt es sich um einen unbewussten Prozess, der zur „Trennung/Aufspaltung“ psychischer Funktionen in separate Komponenten führt. Gedanken sind getrennt, Gefühle sind getrennt, Empfindungen sind ebenfalls getrennt. Auf diese Weise bewahrt mich meine Psyche vor Überforderung. Lange Zeit hat es den Anschein, als würde ich den Schmerz nicht spüren, als würden mich die Geschichten über menschliche Grausamkeit nicht verletzen. Aber irgendwann kommt der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt; und dann macht sich der Schmerz bemerkbar – über den Körper, durch das Gefühl der Scham, durch Tränen, durch Schreie.
Vor nicht langer Zeit nahm ich an einem interessanten Seminar teil. Eine traumtherapeutische Übung hat mir geholfen die einzelnen Schichten meines Schmerzes freizulegen. Der Spezialist, der mit mir arbeitete, meinte, es gebe in mir einen Schmerz, der von meinen persönlichen Erfahrungen losgelöst sei; von diesem Schmerz könne ich mich trennen, um ihn dann zu beobachten. Ich will das illustrieren: Nehmen wir an, ich höre mir die Geschichten eines Klienten an; dabei vertiefen wir uns immer weiter in das Gespräch und versuchen, gemeinsam einen Anker zu finden – plötzlich aber kommt der Moment, in dem eine unaussprechliche Aggression in mir hochsteigt; und später kommt noch die Angst hinzu. Diese Gefühle sind nicht meine, es sind die Gefühle meines Klienten; aber dessen Gefühle sind in mir, ich teile sie mit ihm, helfe ihm, sie zu verarbeiten, sie zu verdauen. Um mir selbst und anderen helfen zu können, muss ich mich selbst gut verstehen. Ich werde meine innere Welt daher weiter erforschen – bis zum Ende meines Lebens.
Die Zukunft der Gesellschaft
Jene Welt, jenes Wir, das wir vor dem 24. Februar 2022 waren – alles das existiert nicht mehr; und es ist unmöglich, zu jenem früheren Zustand zurückzukehren. Aber wir brauchen diesen früheren Zustand nicht. Wir haben uns verändert, weil wir die Welt so gesehen haben, wie sie wirklich ist: Wir müssen für unser Leben, für uns selbst kämpfen. Und wir müssen in uns die Voraussetzungen schaffen, diesen Kampf zu gewinnen. Das gilt auf allen Ebenen: Wer ein lebensfähiges Unternehmen haben will, muss es aufbauen und sich aktiv darum kümmern; wer seinen Seelenfrieden haben will, muss stark sein und mit anderen Menschen in Kontakt stehen. Unsere größte Herausforderung als Gesellschaft besteht darin, dass wir lernen müssen zu kooperieren, um unser aller Überleben zu sichern. Die Attitüde „auf drei Ukrainer kommen drei Hetmane“ schwächt und spaltet uns.
Synchronizität
Ich arbeite gerne in internationalen Projekten. Solche Projekte helfen dabei, „geschlossene Systeme“ zu öffnen und unbequeme Fragen zu stellen, die man sich von allein nicht stellen würde.
Auch im Rahmen solcher Projekte habe ich unglaubliche Zufälle erlebt. Einmal plauderte ich mit unserem Projektleiter. Wir sprachen über dieses und jenes, da sagte er plötzlich: „Gestern war ich auf dem Lychakiw-Friedhof; dort ist meine Großmutter begraben, die Schriftstellerin Iryna Wilde; haben Sie einmal von ihr gehört?“ Später stellte sich noch heraus, dass ich mit der Tochter von Andrii Sodomora [* 1937 ukrainischer Übersetzer und Schriftsteller, Anm. d. Red.] und der Ururenkelin von Ivan Franko [*1856 † 1916 ukrainischer Schriftsteller – Anm. d. Red.] zusammengearbeitet habe. Meine Geschichte ist eine der Synchronizität.
Ich habe momentan nur eine Angst, nämlich in den Urlaub zu fahren... Ob die Schmerzen plötzlich wiederkehren?
Juli 2024