Aufwachsen mit einer nicht diagnostizierten „Störung“  Meine Zwangsstörung ist eine Schneeflocke

Ich erinnere mich nicht daran, wann ich zum ersten Mal den Terminus kompulsive obsessive Störung also Zwangsstörung gehört habe, für mich seitdem für immer „OCeDe“.
Ich erinnere mich nicht daran, wann ich zum ersten Mal den Terminus kompulsive obsessive Störung also Zwangsstörung gehört habe, für mich seitdem für immer „OCeDe“. Foto: Balint Szabo via unsplash | CC0 1.0

Eine mährische Kleinstadt in den Neunzigern und eine Zwangsstörung in Form von Schnauben und dem Klopfen auf Holz. Wie geht das zusammen? In einem Essay über seine Zwangserkrankung (Obsessive-Compulsive Disorder, OCD) teilt Jakub Vítek-Girard seine Erinnerungen an eine Zeit, in der diese Art von Andersartigkeit noch bestraft wurde. Lässt sich eine solche Störung reparieren? Und falls ja, mit welchem Werkzeug?

An einem Dienstagnachmittag im Biologieunterricht – völlig unerwartet hallte ein Schnauben durch das Klassenzimmer. Ich saß neben Ivana Vašíčková, wir teilten uns ein Schulbuch und ich war felsenfest davon überzeugt, dass wir eines Tages auch das Eheleben teilen würden, obwohl es eher die Jungen der Achten waren, die ich beim Sportunterricht oft heimlich beim Umziehen beobachtete. In der Tschechischen Republik der 1990er Jahre gab es kein Konzept für ein Leben außerhalb des Mainstreams.

Eines Tages zerplatzte dann mitten in einer Unterrichtsstunde der Traum von einer Hochzeit mit Ivana Vašíčková ganz unvermittelt, als sie sich meldete und mit einer für vorpubertäre Kinder typischen Grausamkeit der Klassenlehrerin erklärte, dass sie sich weigere, neben so einem „Zurückgebliebenen“ zu sitzen. Mein Schnauben – ein periodisch wiederkehrendes, zwanghaftes und ruckartiges Ausatmen, so als würde man versuchen, diskret nur durch die Nase zu niesen – nervte sie verständlicherweise fürchterlich, da jedes Schnauben die Seiten des Lehrbuchs umblätterte, in dem wir gemeinsam lesen sollten. Außerdem wurde das Schnauben von einer Art rhythmischem Klicken begleitet, das aus den Tiefen meiner Nasenhöhlen drang, was wiederum den Rest der Klasse sehr amüsierte. Ich war das personifizierte Chaos.

Draußen vor dem Fenster der Schule blühten die Kiefern, der unerwartet heftige Aprilregen tat sein Übriges und so wurde die ganze Episode als Pollenallergie interpretiert. Als das „kompulsive Schnauben“ – so hat man es nach einer elend langen Reihe von Tests und Untersuchungen in der örtlichen Poliklinik im offiziellen Arztbericht diagnostiziert und bis heute nicht geändert – aber im Dezember mit aller Macht zurückkehrte, flogen Histamin und Nasentropfen in den Müll und mein Lebensweg schlug eine neue Richtung ein – Lichtjahre entfernt vom konventionellen und allgemein akzeptierten Mainstream. Zum Leidwesen meiner lebenslang geplagten Eltern.

Ein Kind aus einer anderen Dimension

Ich erinnere mich nicht daran, wann ich zum ersten Mal den Terminus kompulsive obsessive Störung also Zwangsstörung gehört habe, für mich seitdem für immer „OCeDe“. Vielleicht war es in den halblauten Debatten, die am Küchentisch oder hinter der Tür des Lehrerzimmers geführt wurden, wohin sie meinen Vater regelmäßig zitierten. Aber ich weiß noch genau, dass ich meinen Vater danach gefragt habe, was das eigentlich bedeutet. Er erklärte mir, dass es so Leute gibt, die einfach nur „Freaks“ seien, die sich „zum Beispiel nach dem Essen zwanzigmal die Hände waschen“ würden. Aber ich wäre ja nicht so.
Die meisten meiner Bekannten sind immer noch erstaunt, dass ich mit meiner Zwangsstörung zuhause nicht mehr Ordnung halte.
Einige der Darstellung von Zwangsstörungen, die die Medien immer wieder heraufbeschwören, gehen mir wirklich gegen den Strich – Keime und Viren lösen so gar nichts in mir aus, und nicht alle von uns schrubben ihr Badezimmer mit einer Zahnbürste. Die meisten meiner Bekannten sind immer noch erstaunt, dass ich mit meiner Zwangsstörung zuhause nicht mehr Ordnung halte. Dennoch muss ich zugeben, dass ein paar der stereotypen Vorstellungen tatsächlich oft allgemein zutreffend sind. Zum Beispiel haben OCDler oft das Bedürfnis etwas zu zählen. Ebenso haben sie diesen unstillbaren Drang ritualisierte Verhaltensweisen zu wiederholen, um ein, wenn auch unwahrscheinliches, Katastrophenszenario zu vermeiden.

In der ersten Klasse der Grundschule lernte ich das symbolische auf Holz klopfen kennen, als Mittel, um Unglück abzuwenden oder Glück herbeizuwünschen. Aus dem zunächst dreimaligen Klopfen auf den hölzernen Rahmen meines Bettes vor dem Einschlafen wurden sehr bald 300 Klopfer. Falls ich einen vergaß oder mich verzählte und nicht wieder bei null und von vorne anfing, würden meine Eltern bis zum Morgen sterben und ich in dem gefürchteten Heim für Kinder mit Mehrfachbehinderungen landen, an dem ich täglich auf dem Weg zur Schule vorbeiging. Das nächtliche auf Holz klopfen schlich sich allmählich in meine täglichen Rituale ein. Auf dem Weg zur Schule musste auf jede Holzoberfläche dreimal geklopft werden, inklusive der zahlreichen Bäume. Gleich danach kamen die Platten auf dem Gehweg dran. Der ganze Weg von der Haus- bis zur Schultür konnte nur bewältigt werden, indem ich von einer gesplitterten Gehwegplatte zur nächsten sprang, jeder Schritt daneben bedeutete, zum Anfang zurückzukehren. Obwohl einige meiner Klassenkameraden dieses „Spiel“ von mir übernahmen, hatte keiner von ihnen so vielen Einträge fürs Zuspätkommen wie ich.

Wer von uns hat sich als Kind die Realität nicht mit Phantasiespielen schöner gemalt als sie war? Und Hand aufs Herz, auch Erwachsene erliegen hin und wieder Gedanken, die sich getrost als „zwanghaft“ bezeichnen ließen. Doch bei Menschen mit obsessiv zwanghaften Tendenzen liegt der Unterschied in der „Unwirksamkeit des Rationalitätsfilters“. Während der gesunde Menschenverstand es uns normalerweise ermöglicht, irrationale und unangenehme Gedanken schnell aus dem Bewusstseinsstrom „wegzuklicken“, nimmt bei OCDlern ein solcher Gedanke sehr rasch monströse Ausmaße an. Ein Monster, das sich in jede Ecke des Bewusstseins ausbreitet und mit ohrenbetäubendem, physisch unerträglichem Geschrei nach Aufmerksamkeit verlangt. Die Bemühungen, es zum Schweigen zu bringen, schlagen sich in pathologischen Ritualen nieder, die das gesamte Alltagsleben verschlucken.
 
Die meisten meiner Bekannten sind immer noch erstaunt, dass ich mit meiner Zwangsstörung zuhause nicht mehr Ordnung halte.

Die meisten meiner Bekannten sind immer noch erstaunt, dass ich mit meiner Zwangsstörung zuhause nicht mehr Ordnung halte. | Foto: © Kuba Vítek Girard

 

Von Schnauben und Kieferknacken

Ticks und Beklemmungszustände gehen Hand in Hand mit Phobien. Das Schnauben war ein Vorbote des Kieferknackens, es kam jedes Mal, wenn wir mit dem Auto an einer Straßenlaterne vorbeifuhren. Das Auslassen einer Lampe hätte einen Autounfall bedeutet, bei dem beide Eltern gestorben wären. Und ich habe schon erwähnt, was dann aus mir geworden wäre. Unzählige durchheulte und schlaflose Nächte verbrachte ich im Bett von Mama und Papa – auch noch in einem Alter, wo das längst nicht mehr gesellschaftlich akzeptiert war. Mit unzureichendem Wortschatz, um die überwältigende Beklemmung zu benennen, habe ich meinen Eltern immer wieder unbeholfen zu erklären versucht, warum ich nicht einschlafen konnte. Die ganze Welt – jedes Geräusch, jeder Gedanke – gebärdete sich wie ein ungezogenes kleines Mädchen, das lachte und immer schneller auf einem Trampolin springt bis zu einer absurd hohen Kadenz und Lautstärke. Die Kinderärztin hat über diese Trampolin-Diagnose nur die Stirn gerunzelt, skeptisch meine müde und auch schon ziemlich genervte Mutter angesehen, mir dann irgendein Chemiezeug gegen Schwindel verschrieben und mich zur Untersuchung des Mittelohrs überwiesen.
Meine Familie übernahm diese Analyse bereitwillig und mit Humor – eine Analyse, die auf dem Programm einer Sekte beruhte, die von einer Frau gegründet wurde, die in einem Kuhstall gearbeitet hat.
Oma Škorpíková, ganz in ihre esoterische Phase versunken, kam gerade von einer Vortragsreihe der Bewegung der Weltraum-Menschen (Vesmírní lidé) im Kulturhaus von Blansko zurück und identifizierte mich sogleich als Indigo-Kind. Ein Überbegriff, der Andersartigkeit und Neurodiversität als übernatürliches Genie begreift und mit der Mission zur Aufbesserung des globalen spirituellen Niveaus der Menschheit verbindet. Meine Familie übernahm diese Analyse bereitwillig und mit Humor – eine Analyse, die auf dem Programm einer Sekte beruhte, die von einer Frau gegründet wurde, die in einem Kuhstall gearbeitet hat und mit der 1995 irgendwelche kosmischen Wesen telepathisch Kontakt aufgenommen hätten.

Der Humor verging meiner Familie erst in dem Moment, als ein Lieferwagen mit einem lebenslangen Vorrat an Nahrungsergänzungsmitteln aus Haifischknorpel vor dem Haus meiner Großeltern vorfuhr. Ein Mittel, das mir garantiert helfen sollte, mein volles Potenzial zu entfalten, mit den Plejadanern Kontakt aufzunehmen und die neue evolutionäre Epoche der Menschheit anzuführen. Oma Škorpíková hatte heimlich fast die gesamten Ersparnisse meines Großvaters dafür angezapft. Bis heute warte ich gespannt darauf, dass mir anstelle der Klobürste feierlich das Zepter zur Herrschaft über den gesamten Planeten überreicht wird.

Andersartigkeit wird bestraft

„Das, was dich anders macht, ist gleichzeitig das, was dich besonders macht. Das ist deine Superkraft.“ Bei dieser absurd sentimentalen Aussage, die vor allem im amerikanischen TV-Programm häufig wiedergekäut wird, verdrehe ich allzu häufig die Augen. Ein Land auf der anderen Seite des Planeten, in dem Eltern ihren Kindern „Ich liebe dich“ sagen, bevor sie zur Arbeit gehen. Eine andere Situation herrschte vor etwa dreißig Jahren in der Kleinstadt Blansko, dort am anderen Ende des Spektrums emotionaler Offenheit und radikaler Akzeptanz, führten Anamnesen, die einen aus dem Normal herausschleuderten, zu Diagnosen, die DEFEKTE feststellten und solche Defekte mussten REPARIERT werden.

Ja, es scheint im Nachhinein nur eine unglückliche linguistische Angelegenheit zu sein, aber man sollte nicht vergessen, dass Sprache auch ein Instrument ist, das uns hilft, die chaotische Realität zu ordnen. Die extremen Ausreißer signalisieren nicht, wer oder was ich bin, sondern eher was mir passiert ist, wie effektiv ich es gelöst und wie schnell ich mich wieder in das System eingefügt habe. Das Maß der Anpassungsfähigkeit an das Große und Ganze signalisiert in direkter Proportionalität die Qualität des persönlichen und beruflichen Lebens. Meine Mission lautete: aufhören zu Schnauben und in der siebenten Klasse Ivana Vašíčková um ihre Hand bitten.
Auf den Bildschirmen des tschechischen Fernsehens küssen sich ab und zu zwei Männer oder Frauen, aber vor den Bildschirmen ist der Fortschritt um einiges langsamer.
Die Welt hat sich seit dieser Zeit ein paar Mal gedreht um ihre Achse der gesellschaftlichen Evolution gedreht. Auf den Bildschirmen des tschechischen Fernsehens küssen sich ab und zu zwei Männer oder Frauen, aber vor den Bildschirmen ist der Fortschritt um einiges langsamer. Das trifft selbstverständlich doppelt und dreifach auf den Bereich psychischer und geistiger Beeinträchtigungen zu, und das, obwohl OCD in dieser Hinsicht global und in der Tschechischen Republik in der Häufigkeit des Auftretens auf dem zweiten Platz hinter Depressionen kommt.

In einer Kleinstadt kennt jeder jeden. Auch ohne Social Media hat man sehr detaillierte Informationen über das Privatleben anderer und so etwas wie Professionalität (Diskretion zum Beispiel) existiert in Blansko nicht. Wer den Krankenschwestern die teuerste Pralinenschachtel bringt, muss nicht den ganzen Nachmittag im Warteraum vor dem Behandlungszimmer verbringen und wenn jemand glaubt, Ärzte würden beim Mittagessen mit der Familie keinesfalls bis ins Detail die bizarren Hautauswüchse eines bestimmten Patienten besprechen, den kann ich als Kind von Medizinereltern von diesem Irrtum befreien. Und so hat auch meine Mutter ziemlich unprofessionell und mit der Ambition sich vor den Kolleginnen am Arbeitsplatz nicht zu blamieren die Logopädin, Frau Martínková, immer dann auf einen Kaffee zu uns eingeladen, wenn sie wusste, dass ich zuhause war. Nach ungefähr zwanzig Minuten des Austausches von Klatsch und Tratsch und des Waschens der schmutzigen Wäsche von Bekannten lockte sie mich mit irgendeiner herbeikonstruierten Frage oder einem Snack zu sich an den Küchentisch. Kurz drauf waren wir plötzlich allein und die nächsten eineinhalb Stunden ging es um Atemübungen und ich habe mich Sätze sagen gehört wir: Zwei tschechische Chefchemiker schlemmten tschechische Schnecken mit Champignons in Champagner und zückten tschechische Streichholzschächtelchen.

Es brauchte fast ein ganzes Jahr, doch Frau Martínková brachte mir schließlich bei, wie ich bewusst mit bestimmten Formen von Zwang umgehen konnte, nicht nur was die Nebenhöhlen betraf. Ihr „Werkzeugkoffer“, wie wir ihre Sammlung an Übungen und Ritualen tauften, stellte sich später als Sammlung von Methoden kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) heraus, die im tschechischen Kontext dieser Zeit revolutionär waren. Ich habe diesen Koffer – mit den Jahren, Überprüfungen und anhaltenden Untersuchungen gewachsen zur Größe eines Schiffskoffers – immer bei mir, auch jetzt, da ich diese Zeilen schreibe. Bestimmt werde ich mir gleich wieder etwas herausangeln.

Eines Nachmittags habe ich mich getraut, die Logopädin nach diesem mysteriösen neuen Wort „OCeDe“ zu fragen. Papa hat gesagt, dass es bedeutet, sich nach jedem Essen zwanzigmal die Hände zu waschen und dass ich das ja nicht mache.

Frau Martínková bot mir eine andere Sichtweise an, indem sie sagte: „Weißt du, jeder von uns ist ein bisschen anders. Wir sind wie Schneeflocken. Wenn sie vom Himmel fallen, sehen alle gleich aus – weiß, kalt, und sie schmelzen auf der Zunge. Gemeinsam bilden sie Schnee. Aber wenn man sich eine von ganz Nahem ansieht, zum Beispiel unter einem Mikroskop, stellt man fest, dass jede ein bisschen anders ist, einzigartig.“

Wie ich später herausfand, war das Engagement von Frau Martínková und ihr breites Wissen über funktionelle Verfahren und Taktiken zur Bändigung aufdringlicher Gedanken keineswegs zufällig. Bei ihrer Tochter wurde zwei Jahre zuvor eine OCD diagnostiziert. Leider war ein Teil ihrer eigenen OCD-Schneeflocke der unerschütterliche Drang, in der Singshow Doremi aufzutreten. Wie ich bereits erwähnt habe, verzeiht die heimatliche Scholle öffentliche Blamage nicht so leicht, und so erhielt Frau Martínková nachdem ihre Tochter ihre einzigartige doch zweifellos historisch schlechteste Version von Helena Vondráčkovás Lied Pátá zum Besten gegeben hatte und das über alle Fernsehbildschirmen der Nation flimmerte, nie wieder eine Einladung zum Kaffee.
 
So wie meine sexuelle Orientierung ist auch die Zwangsstörung nicht das, was meine Identität bestimmt, sondern nur eine der Schneeflocken, aus denen zusammengenommen Schnee entsteht.

So wie meine sexuelle Orientierung ist auch die Zwangsstörung nicht das, was meine Identität bestimmt, sondern nur eine der Schneeflocken, aus denen zusammengenommen Schnee entsteht. | Foto: © Carmen Keuper via unsplash | CC0 1.0

 

Mit ganz kleinen Schritten zu einem besseren Morgen

Der Weg zum Verstehen und der Behandlung von Zwangsstörungen war ein kurvenreicher Weg voller Fehltritte, so wie meine Pilgerreise im April zwischen Schule und Krankenhaus. Jahrhundertelang wurden die Symptome von Zwangsstörungen mit allem Möglichen in Verbindung gebracht, von dämonischer Besessenheit über moralisches Versagen bis hin zur Feststellung einiger in meiner Heimatstadt, dass „manche Menschen einfach Freaks sind“.

Zwangsstörungen gibt es wahrscheinlich schon, seit der menschliche Verstand in der Lage ist, abstrakte Szenarien zu entwerfen, allerdings immer begrenzt durch den vorherrschenden Bezugsrahmen der jeweiligen Zeit. Im Mittelalter fanden sich Menschen, die unter Zwangsstörungen litten, häufig in der Obhut der Kirche wieder, da ihre zwanghaften Gedanken und Rituale dem Einfluss des Teufels zugeschrieben wurden. Die Behandlung umfasste Gebete, Exorzismus und oft auch drastischere Maßnahmen.

Moderne Ansätze betonen das komplexe Zusammenspiel von genetischen, neurologischen und umweltbedingten Faktoren und bevorzugen evidenzbasierte Therapien wie die kognitive Verhaltenstherapie. Das Stigma, das mit psychischen Erkrankungen verbunden ist, erschwerte Diagnostik und Behandlung bis ins 20. Jahrhundert hinein, als man begann, OCD als eigenständige Diagnose zu behandeln. Die Entwicklung moderner therapeutischer Ansätze und der Pharmakotherapie hat Millionen von Menschen, die unter dieser Störung leiden, Hoffnung gegeben.
 
Za Der amerikanische Psychiater Aaron Beck gilt als der Entdecker der KBT.

Der amerikanische Psychiater Aaron Beck gilt als der Entdecker der KBT. | Foto: Liber Brunensis via wikimedia | Public domain

Arrogant, problematisch und immer eine Extrawurst

Ein dominierendes Element der Architektur meiner Schneeflocke war die Unfähigkeit, Autorität auf der Grundlage abstrakter Konzepte wie sozialer Rollenverteilung und institutioneller Hierarchie zu erkennen. Obwohl ich gelernt habe, mir bestimmte Handlungen, Schritte und Redeweisen, die jeder Rolle und jedem Beruf eigen sind, abzuschauen und konsequent zu praktizieren, hebe ich niemanden automatisch auf das Podest des Respekts ohne konkrete Beweise von Talent, Wissen und Fähigkeiten, nur weil jemand erwachsen ist oder eine bestimmte Position einnimmt.

Diese unausgesprochene, aber doch ziemlich greifbare Präzedenz inspirierte meine Umgebung hin und wieder, meistens aber ärgerte er sie. Meine Lehrer an der Grundschule und dem Gymnasium litten unter einer brutalen kognitiven Dissonanz. Auf der einen Seite war da dieser außergewöhnlich intelligente und fleißige Schüler. Für jemanden mit einer Zwangsstörung erzeugt das bloße Wissen um Hausaufgaben oder die Notwendigkeit, sich auf bevorstehende Tests vorzubereiten, ein prioritäres Bedürfnis, das alle anderen überlagert – einschließlich Essen, Schlaf und Hygiene. Solange die Aufgabe nicht zur vollsten Zufriedenheit erledigt ist, ist es, als würde man versuchen, in einem brennenden Zimmer unter ohrenbetäubendem Feueralarm zu meditieren.

Auf der anderen Seite hatte es etwas Beunruhigendes, dass dieses Kind die Autorität eines Erwachsenen nicht anerkennen wollte, die Lehrer ständig korrigierte, ihre Behauptungen in Frage stellte, Diskussionen provozierte und offensichtlich mit voller Absicht aus Protest lautstark schnaubte, und damit den Unterricht immer wieder störte.

Für jeden von uns haben Diagnosen eine wichtige Funktion. Sie geben der chaotischen Realität eine scheinbare Ordnung, denn man muss sich in ihr ja zurechtfinden und eine klar definierte Rolle einnehmen können, wenn man innerhalb der Grenzen der menschlichen Gesellschaft funktionieren will. Einer der Diagnoseversuche einer Grundschullehrerin, ihr ganz persönlicher Beitrag zu einer Vielzahl subjektiver Meinungen bezüglich meiner gänzlich objektiven psychiatrischen Störung, schlug sich in Form einer zweiseitigen Notiz in meinem Hausaufgabenheft nieder. Der Eintrag hatte sogar eine eigene Überschrift: „Ihr Sohn ist unmotivierbar!“ und setzte sich fort mit einer tiefgründigen Persönlichkeitsanalyse wie „zwanghaftes Bedürfnis, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken“ und „die guten Noten werden ihm in der Zukunft nichts nützen, wenn er in Betragen ein ungenügend hat“ – ja, das Betragen wurde in meiner Kindheit auch bewertet, auf einer Skala von eins bis fünf. Zumindest mit der Sache mit dem „zwanghaften Bedürfnis“ lag sie nicht völlig daneben.

Diese Doppelseite aus dem Hausaufgabenheft hängt noch immer an der Pinnwand im Büro des Leiters unseres Kindertheaterclubs als Beweis dafür, dass es unter seinen Absolventen ein wahres Genie gegeben hat. Oder, um es mit den Worten der Leute von Blansko zu sagen, einen Freak.

Vom Kind auf dem Trampolin zu einem Erwachsenen, der das Gleichgewicht sucht

Da meine Medizinereltern jedes Symptom meiner Erkrankung immer gesondert behandelten – anstatt den Schnee weg zu schippen, jagten sie mit mir jeder neuer Schneeflocke nach – leide auch ich bis heute unter einer gewissen kognitiven Dissonanz. Die Zwangsstörung ist für mich immer noch etwas, das andere betrifft und nicht mich. Ich bin eine einzigartige Schneeflocke.

Im Jahr 1994 gesellte sich zu der ganzen Reihe anderer bizarrer Symptome auch mein Schnaufen hinzu. Das war zufälligerweise dasselbe Jahr, in dem in der Tschechischen Republik die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD, englisch: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) in Kraft trat und damit die lange Suche nach einer passenden Diagnose in Gang gesetzt wurde. Die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte ICD, ein weltweit anerkanntes Kodifizierungssystem zur Kennzeichnung und Klassifizierung menschlicher Krankheiten, Störungen, Gesundheitsprobleme und anderer Symptome, ist nach zahlreichen Überarbeitungen in der Version ICD-11 veröffentlicht worden und in dieser Fassung für jedermann zugänglich, der sich im Internet durchzuklicken vermag.

Das ICD definiert die Zwangsstörung in meiner Unterkategorie F42.9 wie folgt:
„Zwangshandlungen oder -rituale sind Stereotypien, die ständig wiederholt werden. Sie werden weder als angenehm empfunden, noch dienen sie dazu, an sich nützliche Aufgaben zu erfüllen. Der Patient erlebt sie oft als Vorbeugung gegen ein objektiv unwahrscheinliches Ereignis, das ihm Schaden bringen oder bei dem er selbst Unheil anrichten könnte. Im Allgemeinen wird dieses Verhalten als sinnlos und ineffektiv erlebt, es wird immer wieder versucht, dagegen anzugehen. Angst ist meist ständig vorhanden. Werden Zwangshandlungen unterdrückt, verstärkt sich die Angst deutlich.“

Halleluja! Wenn ich in meiner Kindheit anstelle meines Vaters das Internet hätte konsultieren können, wäre mein Heureka-Moment schon Jahrzehnte früher gekommen. Andererseits sind der Trend „Dr. Google“ zu Rate zu ziehen und die Tatsache, dass die sozialen Medien voller Verschwörungstheorien, Fehlinformationen und Propaganda sind, für mich als OCDler, als ob ich täglich über Minenfeld rennen müsste. Wegen der allgegenwärtigen „Internetexpert*innen“ decke ich bis heute die Kamera an jedem Laptop sorgfältig ab.
In einem viral gegangenen Video wurde behauptet, dass sich in einem Vollbart mehr Bakterien tummelten als auf der Klobrille bei McDonald's.
Auf Facebook stellte jemand die Frage, ob man sich die Zähne sechs Minuten lang statt der empfohlenen drei putzen müsste, wenn man es am Abend zuvor vergessen hatte. Diese vermutlich witzig gemeinte Frage verfing sich an jenem Abend, als ich im Badezimmer stand, in meinem Kopf, wiederholte sich in Endlosschleife – aus sechs Minuten Zähneputzen wurden schnell neun Minuten – drei mal drei hat eine bessere Symmetrie. Doch dann mussten die neun Minuten dreimal wiederholt werden und so weiter, exponentiell, bis der Abend zur Nacht wurde und mich das Blut stoppte, das meinen Mund und das Waschbecken tränkte. In einem viral gegangenen Video wurde behauptet, dass sich in einem Vollbart mehr Bakterien tummelten als auf der Klobrille bei McDonald's. Deshalb rasiere ich mich jeden Tag, auch wenn ich die Nacht im Zug oder in einem Flugzeug verbringe. Oft sogar ohne Rasierschaum, wenn gerade keiner zur Hand ist. Der Rationalitätsfilter lässt sich nicht gewaltsam in Gang setzen, ich kann nur mein Leben lang wie am Rande einer Klippe balancieren, meine eine Hand hält den „Werkzeugkasten“ und an der anderen halten mich meine Lieben.

Für mich ist es immer noch problematisch, die OCD als eine „Störung“ zu betrachten, unter der ich „leide“, anstatt einfach nur als meine Art, die Realität zu verarbeiten. Wenn dann die Gespräche auf die OCD kommen (selten von meiner Seite aus), höre ich von Freunden oft: „Wieso hast du das noch nie erzählt?“

Meist folgt darauf zeitnah ein: „Das muss ja wahnsinnig anstrengend sein.“ Ist es nicht. Denn ich kenne keinen anderen Modus Operandi, und ich bin mir nicht sicher, ob zum Beispiel ein Mensch, der ohne Gehör geboren wurde, es bedauert, die Harmonien der klassischen Musik nicht wertschätzen zu können?

So wie meine sexuelle Orientierung ist auch die Zwangsstörung nicht das, was meine Identität bestimmt, sondern nur eine der Schneeflocken, aus denen zusammengenommen Schnee entsteht. Und außerdem führen die meisten Anamnesen zu einer Buchstabenkombination, deren Bedeutung von der Popkultur aufgeweicht wird, reduziert auf einige wenige, selten schmeichelhafte und oft völlig falsche Stereotypen.

Vielleicht ist es auch Großmutter Škorpíkovás Verdienst, dass meine Zwangsstörung meine Identität nie ganz und gar übernommen hat. Denn anstatt mich wie ein unnatürliches Kind abzustempeln, wurde ich wie ein übernatürliches angenommen. So einem Kind sollte man bloß nicht die Herrschaft über eine spirituell erhabene Menschheit versprechen.

Denn einige Freaks wie ich könnten das sogar glauben.

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