Lobbyismus und Bürokratie  Ein Roman über Brüsseler Beamte?

Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse
Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse Foto: Filmfestival Linz, CC BY 2.0

Die tschechische Übersetzung des Romans Die Hauptstadt des österreichischen Schriftstellers, Essayisten und Übersetzers Robert Menasse ist angekündigt als Roman über Brüssel: „Eine Schau der manipulativen Verzweifelten und ihrer unfreiwilligen Komplizen, aber auch der ewigen Idealisten.“ Geht Menasse mit seinem Roman aber nicht weit tiefer?

Ein Schwein als Leitmotiv

Zu Beginn des Romans bemerkt einer der Hauptcharaktere, der Holocaustüberlebende David de Vriend, dass durch die Straßen dieser zivilisierten und perfekt funktionierenden Stadt Brüssel ein Schwein läuft. Nun ist dies aber nicht irgendein Phantom, sondern ein echtes Schwein, naturalistisch beschrieben, mit tierischen Emotionen, verschreckt, stark, verwirrt bewegt es sich in der Welt der Fußgänger, Radfahrer, des öffentlichen Nah- und Autoverkehrs. Wir verfolgen seinen Weg, und so entsteht eine imaginäre Karte von Brüssel: hier ist die Hauptstraße, hier der Fahrradweg, hier sind die Weinstuben und die Brasserien.

Das Schwein wird zur Sensation und zum Thema der Lokalpresse inmitten der Sauregurkenzeit. Den Streit über das Schwein führen die Brüsseler Journalisten oder Ethologen, die Bewohner der Stadt haben Spaß an der Episode.

Eben mit der Haltung von Schweinen beschäftigt sich der ältere Bruder einer weiteren Romanfigur, des Österreichers Martin Susman, eines leicht depressiven und ungeschickten ordentlichen Beamten des Generaldirektorats für Bildung und Kultur.

Die Schweinehaltung und das internationale Geschäft mit den Tieren sind der Streitpunkt zweier europäischer politischer Politikfelder, der Außenhandelspolitik und der Agrarpolitik. Die gegenläufigen Interessen führen zu Antipathien unter den Beamten der einzelnen Ressorts und auch zwischen den Interessensverbänden (an der Spitze des einen steht eben der Bruder von Martin Susman) und den Vertretern der Europäischen Union.

Zu dem Schwein kehren wir auch in den letzten Zeilen des Romans zurück, nachdem die einzelnen Erzählstränge und Geschichten der Romanfiguren ihr Ende gefunden haben. Bewegende Momente wie das Verschwinden oder der Tod eines Menschen stehen neben Banalitäten wie dem Streit zwischen den Schreiberlinge der Brüsseler Gazetten über das Schicksal des Schweins, das einfach verschwunden ist.

Anhand dieses Prinzips, das das gesamte Buch durchzieht, gelingt es dem Autor scheinbar, etwas von der Essenz der europäischen Union sichtbar zu machen: wirklich bedeutsame Ereignisse existieren neben Banalitäten auf derselben Ebene.

Der eigenartige Kollege Bohumil

Das Buch wird gerne als Roman über die Beamten der Europäischen Union vorgestellt. Diese unattraktive Einordnung führt unter anderem auch zu einer erheblichen Verzerrung. Robert Menasse gibt zwar der Beschreibung der Lebensweise einzelner Funktionäre der verschiedenen Organe der Europäischen Union ausreichend Raum. Auf der anderen Seite geht es nicht nur um banale Verwicklungen wie zum Beispiel ihre Beziehungen beziehungsweise Liebesbeziehungen untereinander oder berufliche (Miss)erfolge. Seine Erzählungen gehen tiefer, in ihren familiären Hintergrund, die gesellschaftlichen Verhältnisse und historischen Ereignisse, die sie geprägt haben.

Außerdem widmet sich das Buch nicht nur den Personen, die im Verwaltungsapparat der Europäischen Union arbeiten, sondern auch weiteren europäischen Bürgern. Konkret sind das zwei Belgier (ein Rentner jüdischen Ursprungs, der den Holocaust überlebte, und ein Polizeikommissar mit erheblichem Übergewicht), ein Österreicher (ein alter Philosoph und Denker, der Teil eines Think-Tanks für Europa ist) und ein Pole (ein Geistlicher, der für den Geheimdienst arbeitet, und der sich am Rande des Gesetzes bewegt).

Man kommt nicht umhin zu bemerken, wieviel Raum Robert Menasse den Figuren widmet, die aus Mitteleuropa stammen. Neben dem Beamten Martin und seinem Bruder, dem Vorsitzenden des Schweinezüchterverbands, gibt es hier auch seinen eigenartigen Kollegen Bohumil. Der Tscheche wuchs in Wien auf, wohin seine Eltern emigriert waren, und Kosmopolitismus ist ihm daher nicht fremd. Er steht vor dem Dilemma, ob er zu der Hochzeit seiner Schwester erscheinen soll, die einen ultrarechten Politiker heiraten wird. Anhand dieser Geschichte wird das Auseinanderdriften der politischen Meinungen und Werte innerhalb von Familien nicht nur in Tschechien demonstriert. Eine wichtige Rolle spielt auch die Figur des polnischen Geistlichen Mateusz.

Mit dem Schicksal dieser Figuren zeigt uns Robert Menasse die komplizierte Entwicklung der Staaten des ehemaligen Ost-Blocks und auch, dass trotz aller Bemühungen um Integration, der kulturelleren Offenheit und gegenseitigen Annäherung zwischen den Völkern in ganz Europa in jedem Land andere historische Erfahrungen bleiben, die natürlich nicht übertragbar sind.

Die Herkunft der Figuren ermöglicht die Spiegelung der komplizierten Einstellung der Völker und Mentalitäten gegenüber der Europäischen Union. Neben den Völkern Mitteleuropas haben auch die Figur eines Engländers, einer Engländerin und einer Griechin ihren Platz. Die Zersplitterung auf der Ebene staatlicher, nationaler und ethnischer Gruppen, aber auch im Rahmen von so grundlegenden Einheiten wie Familien, fängt Robert Menasse sehr glaubhaft ein.

Nationale Interessen vs. Europäische Werte

Man kommt nicht umhin zu bemerken, dass im Buch, so wie auch in der Realität, jede Figur zu allererst Pole, Spanier oder Belgier ist, und danach erst Beamter, Verkäuferin oder Kommissar. Die zwei Belgier, der Rentner und der Kommissar, vermitteln dem Leser einen anderen Blick auf Brüssel. Hier geht es nicht mehr um den Sitz des Beamtenapparates, sondern um eine Stadt mit Geschichte und Denkmälern, aber auch um eine Stadt wie jede andere, in der es auch Krankenhäuser, Kirchen, Seniorenheime, Friedhöfe und Restaurants gibt.

Es sind vor allem die Erinnerungen des Kommissars Brunfaut und die Erzählungen seines Großvaters, in denen wir Vergleiche zwischen der Masse der die Stadt belagernden Touristen und der nationalsozialistischen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs finden. Das gegenseitige Unterscheiden in wir und die funktioniert nach wie vor in den Köpfen aller Einwohner der Europäischen Union nach dem Prinzip der Nationalität.

Diese Tatsache können wir nicht nur als Prädisposition des Autors wahrnehmen oder als Art und Weise, wie man die „Helden“ des Romans sinnvoll charakterisiert, sondern auch als Reflexion der immer stärker werdenden Tendenzen in ganz Europa. Nationale Interessen und nationaler Egoismus sind auch die Ursache, warum Martins Bruder Florian die Stelle als Vorsitzender der Schweinezüchter nicht behält. Nachdem er selbst fast bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, gelangt ein ungarischer Konkurrent mit stark antieuropäischer Haltung an die Spitze des Schweinezüchterverbands.

In Robert Menasses Buch ist die Nationalität kein lebloser Begriff. Im Gegenteil, sie gehört zu den grundlegenden und prägenden Elementen, die zur Selbsterkenntnis führen, zur Charakterisierung der einzelnen Persönlichkeiten, aber auch zum schwer überwindbaren Hindernis oder unumstößlichen Argument in einer Diskussion. Dies illustriert zum Beispiel das Dilemma der griechischen Zypriotin, die für Griechenland in der Union ist, aber als Zypriotin unter den neuen Umständen andere berufliche Möglichkeiten haben könnte.

Die Historie ist nicht Vergangenheit

Obwohl der Name vermuten lässt, dass die Stadt Brüssel ein essenzieller Bestandteil der Handlung des Romans sei, ist die Geschichte des modernen Europas dem Buch weit wichtiger. Sie wird beständig von den einzelnen Figuren in Erinnerung gebracht, dargestellt und verkörpert. Ob es der pensionierte Überlebende aus dem Vernichtungslager ist oder der europäische Beamte, der zu einem Besuch nach Auschwitz eingeladen wird.

Das 20. Jahrhundert ist immer noch gegenwärtig mit all seinen Traumata, wie die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, dem Rassismus, Faschismus, Kommunismus, dem eisernen Vorhang, den Bürgerkriegen, dem Gefühl der Minderwertigkeit und der Überlegenheit, die ihren Ursprung in früherer kultureller Dominanz oder im Kolonialimperialismus hat. Robert Menasse ist sich dieser Tatsache bewusst und arbeitet sie überzeugend in jede Schicht seines Romans ein.

Einen besonderen Stellenwert haben in der Geschichte auch die Endlichkeit und das Bewusstsein um die Sterblichkeit. Viele Figuren sind in fortgeschrittenem Alter, denken über das Ende ihres Lebens nach, besuchen Friedhöfe (wegen verschwörerischer Treffen oder als kulturelles Erlebnis), erinnern sich an Verstorbene. Dem Tode nah ist auch eine der jüngsten Romanfiguren, Mateusz, wahrscheinlich wegen seiner ungewöhnlichen Aufgaben, die er erfüllt, und den Folgen, die sich daraus ergeben. Außerdem begleitet ihn die Erinnerung an seinen toten Vater und Großvater, in der er ein Muster erahnt und eine Parallele zum eigenen Schicksal sucht.

Menasse hat weniger einen Roman über Brüssel geschrieben, als ein Buch über die wesentlichen Tendenzen der heutigen Gesellschaft des europäischen Kontinents: darüber, dass alles und jeder seine Wurzeln und seine Richtung hat. Das Buch hat auch noch vollkommen andere Qualitäten und Ambitionen, und der aufmerksame Leser bemerkt, dass es im Streit um den Nutzen der Europäischen Union weder durch die eine noch die andere Seite einfach so missbraucht werden kann.

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