Geflüchtete in Griechenland  Freiwillig auf Samos

Freiwillig auf Samos Foto: © Wolfgang Sréter

Auf der griechischen Insel Samos betreten viele Geflüchtete zum ersten Mal den Boden der EU. Seit Kurzem werden sie in einem neuen, modernen Lager untergebracht, das Menschenrechtler als „Gefängnis“ bezeichnen. Die Samos Volunteers helfen seit 2016 vor Ort und wollen sich auch von den neuen, erschwerten Bedingungen nicht unterkriegen lassen.

„Die Waschmaschinen haben wir hier gelassen“, sagt Simone Innico, „als die Geflüchteten abgeholt wurden.“ Er steht vor einer der beiden Wäschereien in Vathy auf Samos und schaut besorgt auf das nun leere Lager und den Dschungel in 200 Metern Entfernung. Drei Tage hat der Umzug in das Zervou Refugee Camp, das erste geschlossene Lager der EU mit kontrolliertem Zugang, gedauert. Es musste schnell gehen, damit für Proteste wenig Zeit blieb. Auch deshalb wurde die Zahl der Geflüchteten in den letzten Monaten auf unter Tausend gedrückt.

Von einer großen Anzahl von NGOs, die nach 2015 nach Samos kamen, sind wenige übrig geblieben. Seit 2016 gibt es die Samos Volunteers in der Dimitriou Petrou Strasse. Im letzten November kam Simone in den Hauptort der griechischen Insel und ist für die Kommunikation mit Journalisten und für das notwendige Fundraising zuständig. Er hat in Turin Philosophie und International Relations studiert. Durch seine Arbeit bei der italienischen Botschaft in Athen erfuhr er von der katastrophalen Situation auf dieser griechischen Insel und beschloss, sich für ein Jahr bei den Samos Volunteers zu verpflichten. Jeden Tag berichteten ihm Besucher*innen von Ratten, die sogar die Kleidung anfraßen und von Ungeziefer, das Ausschläge vor allem bei den Kindern auslöste. „Im Januar“, sagt er, „hatten wir Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Im August stieg das Thermometer teilweise auf 44 Grad. Manche im Dschungel hatten nur eine Plane um sich zu schützen. Außerdem sind viele geschwächt von der Flucht.“

Der Dschungel ohne sanitäre Anlagen Der Dschungel ohne sanitäre Anlagen | Foto: © Wolfgang Sréter

Kein Teil des restriktiven Systems

Als die Corona-Beschränkungen in Griechenland zwischenzeitlich weitgehend aufgehoben wurden, waren bei den Samos Volunteers wieder alle willkommen, ganz gleich, ob sie im Lager überleben mussten oder im Dschungel, einer Ansammlung von Zelten, notdürftigen Planen und Bergen von Müll, die das Camp mit seinem massiven Metallzaun umgab und die sich weit in den Hang oberhalb der Stadt gefressen hatte. Die unabhängige NGO Samos Volunteers arbeitete ausschließlich außerhalb des Lagers, weil sie, wie Simone sagt, nicht Teil dieses restriktiven Systems sein will, das hilfsbedürftige Menschen mehr ausgrenzt als aufnimmt und fundamentale Menschenrechte missachtet. Ihr oberster Grundsatz, genauso wie bei den Ärzten ohne Grenzen: Hilfe nahe an den notwendigen Bedürfnissen der Menschen.

Eine der beiden Wäschereien Eine der beiden Wäschereien | Foto: © Wolfgang Sréter
Das Lager hatte kein fließend heißes Wasser, deshalb gibt es auch die beiden Wäschereien mit ihren insgesamt sechzehn gemieteten Waschmaschinen und Trocknern. Sie sind an sechs Tagen der Woche zwölf Stunden lang in zwei Schichten im Einsatz. Jeder und jede soll die Möglichkeit haben, umsonst das Wenige sauber zu halten, das er besitzt oder in einem Kleiderlager neben der Wäscherei abgeholt hat. Dieses Angebot wäre nicht möglich gewesen ohne die großzügige Hilfe örtlicher Handwerker und Techniker, die Maschinen wieder zum Laufen brachten, wenn sie einen Defekt hatten. In Regalen stapeln sich die Wäschesäcke, streng getrennt nach ungewaschen und sauber. In manchen Monaten waren es mehr als 2.000 Insgesamt wurde seit 2018, als die Wäschereien von Ärzte ohne Grenzen übernommen wurden, der Inhalt von etwa 43.000 Säcken gewaschen.

Ein paar Häuser weiter befindet sich das Alpha Center der Samos Volunteers. Als erstes fallen die vielen Steckdosen im Erdgeschoss des einstöckigen Hauses auf. Dort können die Besucher*innen ihre Mobiltelefone aufladen, um mit der alten Heimat, die sie verloren haben, oder mit Verwandten und Freunden auf anderen Inseln zu telefonieren. Vor allem die Sorgen der afghanischen Geflüchteten um ihre Familienangehörigen sind seit der Übernahme von Kabul durch die Taliban groß. Die psychosoziale Unterstützung, teilweise in Einzelsitzungen, wurde deshalb massiv ausgebaut.

Der Communication Manager der Samos Volunteers Simone Innico vor dem Alpha Center Der Communication Manager der Samos Volunteers Simone Innico vor dem Alpha Center | Foto: © Wolfgang Sréter In Ergänzung zur Wäscherei gibt es einen Raum, in dem vier Nähmaschinen stehen. Weitere acht können an andere Organisationen ausgeliehen werden. Bei meinem Besuch näht ein afghanischer Schneider zusammen mit einem afrikanischen Kollegen Kinderkleidung. Es wird nicht nur geflickt, sondern auch umgearbeitet. Die Kommunikation läuft über Englisch, Farsi, Paschto und zurück. Ein Weg, der gehörige Unebenheiten hat und viele Lacher auslöst. An manchen Tagen wird ein Schild mit der Aufschrift „Women Space“ vor die Tür gehängt. Dann gehört der Raum allein den Frauen, die sich dort zurückziehen können, vor allem aber den Innenhof mit seiner Bepflanzung zur Erholung genießen.

Im ersten Stock befinden sich die Unterrichtsräume. Sprachkurse in Griechisch, Englisch, Französisch und Deutsch werden auf verschiedenen Levels von den einzelnen Mitgliedern der Samos Volunteers, von örtlichen Lehrkräften, aber auch von Geflüchteten angeboten. In den Unterrichtsräumen sitzen Männer und Frauen mit Masken vor dem Gesicht, die aus den unterschiedlichsten Ländern kommen und sich teilweise nicht untereinander verständigen können. Neben einem Whiteboard sind große lateinische Buchstaben aufgeklebt. Viele der Lernenden müssen andere Zeichen und oft auch eine andere Schreibrichtung lernen. Für die Ausbildung am Computer steht außerdem eine begrenzte Anzahl von Laptops zur Verfügung. Während des Lockdowns versammelten sich einzelne Gruppen zum Unterricht auf einer freien Fläche zwischen zwei Gebäuden. Andere füllten Arbeitsblätter aus, die in Kästen bereitgestellt und korrigiert wurden. 

In der Schneiderei In der Schneiderei | Foto: © Wolfgang Sréter Die Räume werden außerdem für Yoga, Entspannung und Musik genutzt. Es wurden Feste darin gefeiert, um interkulturelle Unterschiede wahrzunehmen und zu akzeptieren, die im Lager, vor allem aber im Dschungel oft zu Konflikten führten. Viele Kinder konnten im Alpha Center ihren ersten Geburtstag nach einer gefahrvollen Flucht feiern.

„Seit langem planen wir einen Fotoworkshop, weil Frauen aus dem Lager daran Interesse gezeigt haben“, sagt Ani, die aus Argentinien kommt und im Zentrum die Koordination von sicheren Räumen für Frauen übernommen hat. „Es wäre so einfach, denn alle haben Mobiltelefone. Wir brauchen nur jemanden, der auch Ahnung von Bildbearbeitung hat.“ Zu den verschiedenen Bildern an den Wänden könnten dann auch Fotos kommen, auf denen sich die Geflüchteten mit ihrer Situation auseinandersetzen oder die einfach nur Hoffnung geben und Freude bereiten.

Die Zufahrt zum Zervou Refugee Camp Die Zufahrt zum Zervou Refugee Camp | Foto: © Wolfgang Sréter

Zu gesundheitlichen kommen immer mehr psychische Probleme

Ob die Samos Volunteers mit ihren fünfunddreißig Mitgliedern vor Ort, darunter auch viele Geflüchtete, weiterhin ihrem Anspruch gerecht werden können, bleibt abzuwarten. Das neue Zervou Refugee Camp liegt in einer schattenlosen Ebene sieben Kilometer außerhalb von Vathy und hat inzwischen alle Bewohner*innen des alten Lagers und des Dschungels aufgenommen. Es ist bisher nur über eine Sandpiste erreichbar. Eine Fahrkarte für den Bus in die Stadt kostet 3,20 Euro. Bei einem Unterhalt von 70 Euro pro Monat werden in Zukunft nur die nötigsten Fahrten möglich sein.

Eine große weiße Tafel mit den Emblemen der EU und des griechischen Staates informiert, dass die Kosten für den Bau von 276 Millionen Euro die EU übernommen hat. Das Camp auf Samos galt als Pilotprojekt. Weitere geschlossene Lager auf Kos und Leros sind inzwischen ebenfalls eröffnet und auf Lesbos und Chios geplant. Für den Unterhalt muss die griechische Regierung aufkommen. Sicherheitstechnisch sind diese Lager auf dem modernsten Stand: Klingenstacheldraht, Scheinwerfer auf hohen Masten, Lautsprecher, Kameras, Röntgenscanner und Drohnen überwachen die Insassen. Die Unterkünfte können nur zwischen 8 und 20 Uhr mit einem Chip-Armband über Drehkreuze betreten oder verlassen werden. „Eine neue Ära beginnt“, sagte der griechische Migrationsminister Notis Mitarachi anlässlich der Eröffnung der Einrichtungen auf den Inseln Kos und Leros. „Wir befreien unsere Inseln von dem Migrationsproblem und seinen Konsequenzen.“ 

In den Unterkünften, weggesperrt und überwacht In den Unterkünften, weggesperrt und überwacht | Foto: © Wolfgang Sréter Unklar sind im Zervou Refugee Camp noch Einkaufmöglichkeiten, da sich die Gemeindeverwaltung von Vathy bisher weigert, Shops im Lager zu betreiben. Die Samos Volunteers wollen, in Zusammenarbeit mit Ärzte ohne Grenzen, ihre Arbeit so schnell wie möglich fortsetzen – in Zelten vor dem neuen Lager. Vorausgesetzt es gibt Strom- und Wasseranschlüsse. Zwei Autos stehen bisher zur Verfügung, um die Transporte von Mitarbeiter*innen, Material und Wäsche in die Wäschereien in Vathy zu bewältigen. Ein zusätzlicher Kostenfaktor, denn Benzin kostet in Griechenland bis zu 1,90 Euro pro Liter.

Patrick Wieland, Field Coordinator von Ärzte ohne Grenzen, sagt am Telefon, die Stimmung unter den Geflüchteten sei katastrophal, denn die Informationspolitik der offiziellen Stellen, die eigentlich in vielen Sprachen erfolgen müsste, sei mehr als zögerlich. Zu den gesundheitlichen würden immer mehr psychische Probleme kommen und die Selbstmordgefährdung schätzt er als ungemein hoch ein. In diesem Lager sitzen die Menschen in der Falle, so Wieland. Er hofft, dass zumindest in Notfällen Ärzte, Therapeuten, vor allem aber auch Hebammen das Lager betreten dürfen.

Auf die Frage, was mit dem alten Lager passieren wird, zuckt die Rechtsanwältin Katerina Kouliouotis, die seit Jahren die Probleme der Asylsuchenden kennt, die Schultern und antwortet: „They will clean the place.“ Zelte, Planen, Schlafsäcke, Decken und Müll im Dschungel werden sicher irgendwann entsorgt werden. Ob allerdings die fest installierten Container und der Metallzaun abgebaut werden, ist der Entscheidung der Kommunalverwaltung von Vathy überlassen.

Ein Schiff der deutschen Küstenwache ist nachts für Frontex unterwegs. Ein Schiff der deutschen Küstenwache ist nachts für Frontex unterwegs. | Foto: © Wolfgang Sréter Im August sind zwar nur 82 Geflüchtete angekommen, aber die Befürchtung ist groß, dass durch die angespannte Lage in Afghanistan eine neue Fluchtbewegung entsteht, die über 5.000 Kilometer nach Westen führt. Tausende warten außerdem schon jetzt darauf, von der türkischen Seite nach Samos oder eine andere Insel überzusetzen. Das Zervou Refugee Camp, das Patrick Wieland von Ärzte ohne Grenzen als Gefängnis bezeichnet, wird keine abschreckende Wirkung haben. Auf das Schiff der deutschen Küstenwache, das seit Jahren im Hafen von Vathy liegt und nachts für Frontex unterwegs ist, werden weiterhin zweifelhafte Aufgaben zukommen. Schon jetzt führt die Europäische Agentur illegale Pushbacks durch.

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