Krieg in der Ukraine  „Mein erster Flüchtling“

„Mein erster Flüchtling“ Foto: © Andrej Bán

Die persönlichen Erfahrungen der Europäer*innen mit Kriegsgeflüchteten enttarnen unsere Vorstellungen von Humanismus. Wir verlieren unsere Illusionen, entdecken aber gleichzeitig ungeahnte Stärken und Qualitäten in uns selbst. Diese schwierige Prüfung kann nur gut ausgehen, meint der Reporter und Fotograf Andrej Bán.

Alles im Leben (außer dem Tod) gibt es ein erstes Mal. Ein Fahrrad, eine Prügelei auf dem Spielplatz, ein Zeugnis, Liebe, Hochzeit und so weiter. Das sind vergängliche Dinge, doch sie prägen unsere Lebensgeschichte dauerhaft. Jetzt, während der russischen Militäraggression gegen die Ukraine, „verzeichnen“ die Bürgerinnen und Bürger der mittel- und osteuropäischen Länder einen weiteren Ersteintrag in das imaginäre Herbarium neuer und lebensbestimmender Erfahrungen. Viele sagen: „Mein erster Flüchtling.“

Diese Menschen entdeckten in ihrem Inneren ein ungeahntes Maß an Mitgefühl und Solidarität mit denjenigen, die aus Angst um ihr Leben plötzlich und oft nur mit dem Nötigsten geflohen sind. Dabei zwingt sie das ukrainische Inferno dazu, frühere Schemata aufzugeben. Medikamente, Hygieneartikel, Decken, Bettzeug, Lebensmittel gehören zwar noch immer zu den grundlegenden Hilfsgütern, aber es kam ein neues Charakteristikum hinzu.

Geflüchtete im Wohnzimmer

Der Krieg hat buchstäblich Einzug in die Häuser der Europäer*innen gehalten, nicht nur durch die immer und überall gegenwärtigen Nachrichten im Fernsehen oder auf den Smartphones, durch die unerträgliche Angst vor weiteren Bombardierungen und Angriffen der russischen Armee auf Städte und Dörfer. Der Krieg ist mitten im Wohnzimmer. Er hat auch den engen Kreis jeglicher Intimität überwunden, da die Europäer*innen in dem Bemühen, auf jede erdenkliche Art und Weise zu helfen, ukrainischen Flüchtlingen ihre eigenen Wohnungen anbieten. Einige haben freie Häuser oder Apartments, andere ein Zimmer in dem Haus oder der Wohnung, in der sie selbst wohnen.

Geflüchtete sind somit nicht mehr nur ein Objekt und eine „Maßeinheit“ der Medienberichterstattung. Die persönliche Erfahrung mit ihnen enttarnt sozusagen die Vorstellungen von Humanismus, die wir von uns und unserer Gesellschaft haben. Oft sind es Illusionen, manchmal, wie jetzt, entdecken wir ungeahnte Stärken und Qualitäten in uns. Dies umso mehr, da aufgrund der Generalmobilmachung von Männern im Alter zwischen 18 und 60 Jahren, die in ihrem Land bleiben müssen, vor allem Frauen, Kinder und Alte fliehen. Also die verwundbarsten Bevölkerungsgruppen.

Geflüchtete sind nicht mehr nur ein Objekt und eine ‚Maßeinheit‘ der Medienberichterstattung.

Es scheint mir, dass es sich hierbei um eine schwierige Prüfung handelt, die nur gut ausgehen kann. Denn nun werden die unpersönlichen Geschichten aus den Medien durch eigene Erfahrungen ersetzt. Sicherlich werden viele ihre Stärken und Fähigkeiten überschätzen, viele werden nach kurzer Zeit feststellen, dass ihre neuen Mitbewohner ihnen zur Last fallen, und nur ein Gefühl der Scham hält sie davon ab, über diese Erfahrung zu sprechen. Das ist ganz natürlich.

Es wird auch Menschen geben, und Berichten in Medien und sozialen Netzwerken zufolge sind dies nicht gerade wenige, die sich ehrlich fragen, warum „diese ukrainische Frau“, der sie das Zimmer ihrer inzwischen erwachsenen Kinder angeboten haben, irgendwie schwermütig, schweigsam und traurig ist. Das alles ist dem geschuldet, dass wir völlig unerfahren in derartigen Dingen sind. Wir sollten darauf hören, was Experten, Psychologen und Psychiater über posttraumatische Belastungen und Erinnerungen an durchlebte Gräuel zu sagen haben. So etwas führt zum Schweigen. Und das darf nicht als Undankbarkeit gedeutet werden.
 

Vorsichtige Hoffnung

Und genau das, also Geflüchtete in unserer vertrauten Umgebung, ist eine grundlegend neue Erfahrung im Vergleich zu den großen Fluchtbewegungen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Seit 2015 kommen Geflüchtete über den Balkan, hauptsächlich aus dem Nahen Osten, Syrien und dem Irak. Dabei handelte es sich vor allem um Muslime und Muslimas. Die perfiden Politiker der Visegrád-Staaten stellten dann das humanistische Narrativ auf den Kopf und machten aus Bedürftigen eine „aggressive Masse“, die uns „überwältigen“ und unsere „traditionellen christlichen Werte“ zerstören würde. Doch die absolute Mehrheit dieser Flüchtlinge litt nicht weniger als die Ukrainer heute.

Vor sieben Jahren lehnten die Mitteleuropäer*innen Quoten für die Umverteilung von Migrant*innen aus Südeuropa erbittert ab, werden sie jedoch, angesichts des größten Exodus auf dem Kontinent seit 1945, möglicherweise bald selbst von den Ländern des Westens fordern. Es lohnt sich, an dieses Paradoxon zu erinnern. Dies gilt unabhängig davon, ob wir den rechtlichen Begriff „Asylbewerber“ oder „Menschen, die vorübergehend Zuflucht suchen“, den Begriff „Flüchtlinge“ oder einfach „Migranten“ verwenden. Lassen wir die Wortspiele! Sie alle sind Menschen, die unsere Hilfe brauchen.

Ich habe die vorsichtige Hoffnung, dass wir uns als Land vielleicht inzwischen ein Stück weiter in Richtung zu mehr Empathie und Hilfsbereitschaft bewegt haben.

Ich würde gern am Schluss noch von einer Erfahrung berichten, die ich vor fast einem Vierteljahrhundert gemacht habe. Zu dieser Zeit „überrollte“ uns noch keine „Massenmigrationswelle“, wie man unsinnigerweise zu sagen pflegt. Als ob es in erster Linie um uns ginge, um uns, die wir in Frieden und Wohlstand leben. Als ob es darum ginge, dass wir von etwas Schrecklichem überrollt werden. In Wirklichkeit helfen wir Menschen in Not.

Einmal im Winter 1999, nachdem ich die humanitäre Organisation Človek v ohrození (Mensch in Gefahr) gegründet hatte, klingelten unerwartet Fremde an der Tür meiner Wohnung in Bratislava. „My zdes“, sagten sie auf Russisch. Übersetzt heißt das: „Wir sind da“. Es stellte sich bald heraus, dass es sich um eine Familie von Slowak*innen aus Kasachstan handelte. Obwohl dort kein Krieg herrschte, hatten sie zu Hause alles verkauft. Ihr Haus, ihr Auto, ihr Land, alles. Sie kamen mit dreitausend Dollar in der Tasche und hofften, dass meine Kolleg*innen und ich ihnen helfen würden, sich ein neues Leben aufzubauen.

Letzten Endes ist es ihnen (und uns) gelungen. Zwanzig Familienmitglieder leben, studieren, und heiraten in der Slowakei. Gemeinsam mussten wir jedoch enorme bürokratische Hindernisse, verschlossene Türen staatlicher Institutionen, aber auch viele unwillige Einzelpersonen überwinden. Sie betrachteten Ausländer*innen als als Eindringlinge, die unseren Lebensstandard bedrohen. Regisseur Jaro Vojtek machte einen preisgekrönten Dokumentarfilm über ihre Geschichte.

Wenn ich heute ukrainische Geflüchtete und auch helfende Mitbürger*innen sehe, denke ich oft an die slowakische Familie aus Kasachstan. Beides ist herzzerreißend. Aber ich habe die vorsichtige Hoffnung, dass wir uns als Land vielleicht inzwischen ein Stück weiter in Richtung zu mehr Empathie und Hilfsbereitschaft bewegt haben.

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