Dunkle Stunden der Seele  Boostern & Boxen

Boostern & Boxen Foto: Aimee Vogelsang via unsplash | CC0 1.0

Eva sitzt gebeugt am Schreibtisch. Vielleicht seit ein paar Stunden, vielleicht schon seit Monaten. Sie weiß es nicht. Die Protagonistin von Bernardeta Babákovás Kurzgeschichte hat keine Ahnung, wie es mit ihr weitergehen soll. Sie trauert ihrem Ex-Partner hinterher, der sie gerade verlassen hat, sie geht nicht mehr zur Arbeit, und überhaupt hat sie das Gefühl, dass das Leben sie enttäuscht hat und nichts mehr für sie bereithält. Das hört sich nicht gerade nach persönlichem Wachstum an. Manchmal aber muss man ganz tief fallen, um sich wieder aufrichten zu können.

„Und dann, dann habe ich sie einfach ins Gefrierfach gelegt“, sagt eine blasse unscheinbare Frau, das hellbraune Haar ordentlich hinter die Ohren geklemmt. Ihr Gesicht ist eingerahmt vom Browser-Fenster, Eva starrt sie fasziniert an. Das Schokoeis, das sie aus unterbewussten Beweggründen verspachteln wollte, schmilzt in ihrem Schoß zu einer klebrigen Masse, mit der sie nichts mehr wird anfangen können, sie wird sie nicht mit dem gleichen Genuss verzehren können wie im gefrorenen Zustand. „Ich habe mein Mädchen ganz normal gestillt, sie im Arm gehalten, bis sie eingeschlafen war und dann habe ich sie ins Gefrierfach gesteckt“, sagt die Frau auf dem Bildschirm und starrt irgendwohin in die Ferne.

In der unteren Leiste des Video-Players blinkt eine Werbung für Tampons auf.

„Ich wollte sie für immer behalten, wollte sie nicht altern sehen, nicht erleben, dass sie mich nicht mehr so innig liebt.“

Nach der Werbung für Tampons folgt eine für ein Marketinglehrbuch zum Selbstlernen.

„Außerdem hat sie dann endlich aufgehört zu weinen.“

Eva blinzelt erschrocken, beugt sich näher zum Bildschirm und vergisst dabei die Schale mit dem Eis, die kippt um und landet auf dem Fußboden. Scherben billigen glasierten Porzellans verteilen sich sich zusammen mit den Schokoeiskleksen über den Boden, Laminat in Holzoptik, das schon seit Wochen kein Besen oder Lappen berührt hat.

Das Video ist zu Ende. Es folgt wieder eine Tampon-Werbung, untermalt von einer aggressiv energischen Musik.

„Tampons, hmm“, denkt Eva, „ob die nächste Folge automatisch abgespielt wird? Oder kommt jetzt wieder Werbung?“ Selbst nach dutzenden Stunden vor dem Web-Player mit True-Crime-Dokus kann sie den Algorithmus des Players nicht knacken: „Es ist immer was los.“

***

Eva sitzt gebeugt am Schreibtisch. Vielleicht seit ein paar Stunden, vielleicht schon seit Monaten. Sie weiß es nicht. Anfangs hat sie die Zeit am Fettigkeitsgrad der Haare und am beißenden Odeur des Nachthemdes geschätzt. Doch seit einiger Zeit bleibt der Zustand unverändert. Wird nicht schlimmer. Der No-Poo-Effekt trat ein. Zwischen den Stuhl-, Bett- und Tischbeinen haben sich Staubballen angesammelt. Sie steigt drüber, sie wird weiter drüber steigen genauso, wie sie über die Scherben steigt. Manchmal hat sie Appetit auf etwas, aber Hunger verspürt sie so gut wie nie. Vor zwei Tagen hat sie sich einen Tee gekocht, das weiß sie ziemlich genau, die Tasse steht noch immer am Rand der Küchenzeile. Sie wollte den Müll herunterbringen, wollte noch einmal die Ereignisse des letzten halben Jahres im Kopf Revue passieren lassen, inklusive der Aufsichtsratssitzung, sie wollte die zwei Pflanzen auf dem Fensterbrett gießen, wollte ihr Handy aufladen, wollte in den Wald gehen und sich den Schmerz aus der Seele schreien, dass Elias sie so plötzlich und ohne weitere Erklärungen verlassen hat, wollte eine Entschuldigungsmail an eine Kollegin schreiben, die sie nach der Krisensitzung der Geschäftsführung angebrüllt hatte, wollte ihre Finanzlage im Online-Banking checken, endlich die Jogging-App herunterladen, die Kommentare ihrer Lieblingsjournalistin durchlesen, ihr Abo der New York Times verlängern, das Klo sauber machen, sich die Zähne putzen, ein langes, heißes Bad nehmen, wollte die Wäsche aufhängen, endlich den Schlafanzug ausziehen, die mittlerweile ziemlich fleckige Bettwäsche wechseln, sich eine starke Brühe kochen. Sie wollte. Aber sie konnte nicht entscheiden, wann und womit sie anfangen sollte, und so ließ sie alles sein und schaut jetzt auf ihrem schmuddeligen Laptop eine weitere Folge der True-Crime-Doku.

Wie ist es mit dem Mädchen im Gefrierfach und ihrer Mutter wohl weitergegangen? Ob sie noch geweint hat und wie lange wohl? Hat die Mutter ihr Wimmern dann im Kopf gehört? Auch Eva hat früher viel und laut geweint. Sie weinte lange, nachdem sie im Briefkasten ihren zurückgegebenen Wohnungsschlüssel gefunden hatte. Dann hatte sie keine Tränen mehr. Also parkte sie sich vor die halbdokumentarischen Serien über Mord und Totschlag. Etwas Besseres fiel ihr in der Beziehung zu ihrem Leben nicht ein. Laut der Kurzbeschreibung sollte es sich um eine unendliche Serie handeln. Das könnte für die Zukunft reichen. Einige Folgen schaute sie sich trotzdem zwei- oder dreimal an. Sicherheitshalber.

***

Im Schloss knirscht ein Schlüssel. Eva hebt ihre Augen nicht vom Bildschirm.

„Lebst du?“, hört sie es aus dem Miniflur ihrer Einzimmerwohnung fragen, jemand stolpert über ihre verstreuten Schuhe, steuert schnurstracks das Dachfenster an, zieht mit einem Wumms die Jalousien hoch und lüftet. Eisige Luft strömt hinein. Eva durchfährt ein Frösteln, Gänsehaut am ganzen Körper, sie blinzelt ins Tageslicht und auf die große weibliche Silhouette. Sie überlegt, ob sie enttäuscht sein sollte, weil es nicht Elias ist, der sie überfallen hat. Doch in ihrem Inneren findet sie nichts als dumpfe Leere und ihre nüchterne Analyse ergibt, dass Linda einen Ersatzschlüssel für alle Fälle besitzt.

„Elias hat angerufen, dass ihn Patrik angerufen hat und meinte, du hättest dich lange nicht blicken lassen und wärst nicht erreichbar“, Linda lässt ihren besorgten Blick über Eva, den Tisch, das Bett, die Küchenzeile und den Boden gleiten.

„Hast du was genommen?“, sie schaut Eva misstrauisch in die Augen.
Eva lächelt schwach: „Hast du was da?“

Linda bückt sich, angeekelt fängt sie an, die Scherben in die Hand zu sammeln.

„Isst du auch was anderes außer Eis?“
Eva schüttelt müde den Kopf.

„Bist du schwanger?“
Eva schließt müde die Augen.

„Wegen ihm oder was? Ich hab’s dir doch so oft gesagt von wegen Beziehungen mit Ausländern, such dir doch einen, der besser organisiert ist. Aber er hat auf jeden Fall ein schlechtes Gewissen, unser schwarzes Schäfchen. Er hat mich schon vor drei Tagen angerufen. Upps, ich hoffe, ich hab jetzt nichts Rassistisches gesagt.“

Eva schluckt langsam.

„Oh, es ist wohl ernst, wenn du dich nicht mal wegen meinen unangebrachten Kommentaren aufregst.“ Linda wirft die Scherben in den übelriechenden Müll. Dann nimmt sie eins von Evas T-Shirts, die am Stuhl hängen, und wischt den noch nicht eingetrockneten Eisfleck weg.

„Ich habe versucht zu akzeptieren, dass es einfach seine Entscheidung ist. Ihn als ein autonomes Wesen zu respektieren. Mir zu sagen, dass es sein Weg ist, und nicht meiner, und den muss er halt gehen“, Evas schwache Stimme ist kaum noch zu hören, sie legt den Kopf in die Hände, „doch stattdessen bin ich einfach nur wütend. Ich habe mit ihm, verdammt noch mal, gerechnet!“

Linda sagt nichts und legt ein Arm um Evas Schultern.

„Ich kann einfach nicht mehr. Will mich nicht mehr anstrengen“, Eva versteckt ihr Gesicht in Lindas Pullover, „Wer soll das denn aushalten? Jeden Tag auf Arbeit, ständig am Handy, Emails, die auch nachts bimmeln, immer erreichbar, immer mit einem Lächeln, heimlich hoffen, dass man auch mal gelobt wird, eine Titanfrau vorspielen, großherzig Verständnis zeigen, wenn sich auch der zehnte Typ alles anders überlegt, weil ich nicht schlank genug, blond genug, brünett genug oder was weiß ich nicht genug bin!“

„So schlimm? Dich erwartet was viel Besseres, du wirst sehen.“

„Ich habe einfach keinen Bock mehr zu warten, Angst zu haben, etwas aufzubauen, mich immer wieder zu irren, alles wegzuwerfen, tief durchzuatmen. Mir reichtʼs. Kennst du dieses Lied mit dem Klavier? Ich habe keine Tränen mehr für eine neue Liebe.“

„Und deswegen gehst du nicht zur Arbeit?“

„Es hat keinen Sinn. Es ergibt alles überhaupt keinen Sinn. Ich will nicht mehr meine geschwollenen Füße in die Highheels zwängen, eine Stunde früher aufstehen, für den perfekten Look, ich will keinen Sport machen, keine Smoothies trinken und nach der Besprechung nicht freundlich plaudern. Ich will nicht den ganzen Tag auf der Arbeit hocken, um das Geld dann in die Miete zu stecken, ich will nicht mit den Kollegen teuer Mittagessen gehen, nur um danach den ganzen Tag entweder einen schweren Magen zu haben oder nur noch Lust auf Süßes. Ich will nicht auf mich achten, mich immer wieder im Spiegel kontrollieren, meine Falten und meine Zellulitis untersuchen –“
„– komm, du siehst doch gut aus. Stinkst zwar jetzt ein bisschen, aber wenn wir heute zusammen in den Pool hüpfen oder uns eine Massage gönnen –“
„Ich will nicht gut aussehen. Meine Mutter hatte in meinem Alter zehn Kilo mehr als ich. Na und? Hatte sie etwa ein schlimmeres Leben?“
„Alles klar. Willst du jetzt deine Mutter anrufen?“

Eva zieht die Nase hoch.

„Oder Patrik, dich bei Leuten melden, die nach dir fragen?“
„Ich kann nicht. Ich kann nicht mal das Telefon in die Hand nehmen. Ich gehe nirgendwohin. Nie wieder. Nirgends“, sie stürmt zum Mülleimer und sucht wie im Wahn nach den Scherben der Porzellanschüssel, ein etwas größeres bekleckertes Stück fischt sie schließlich heraus.

„Eva!“ Linda geht auf sie zu, greift mit einem Arm nach ihr. Eva versucht in ihrer winzigen Einraumwohnung zurückzuweichen, als ihr die Wände keinen Raum mehr bieten, holt sie aus. Mit aller Kraft versucht sie, sich die Scherbe in den Oberschenkel zu rammeln. Linda schlägt sie ihr im letzten Moment aus der Hand. Eva taumelt, dann spuckt sie Linda aggressiv an. Linda haut ihr eine runter, ein wenig ungeschickt, denn sie streift dabei viel mehr Ohr und den Kiefer. Eva beißt ins Leere. Also nicht ganz. Sie beißt sich auf die Zunge.

***

Eva öffnet die Badezimmertür und die kleine Wohnung füllt sich mit Dampf. Im Bademantel und einem um den Kopf gewickelten Handtuch tritt sie hinaus. Es duftet nach Pfingstrosen-Badeschaum. Ihre Wangen und der Hals sind noch ganz rot vom heißen Wasser. Ein Ohr ebenfalls. Linda ist gerade dabei, den Esstisch mit einem Papiertuch abzuwischen. Auf der Küchenzeile zieht grüner Tee. Linda streckt Eva eine Hand mit Eiswürfeln entgegen. Eva nimmt eine, steckt sie sich in den Mund und fängt zögerlich an daran zu lutschen. Linda fährt sich mit einem anderen Würfel über die Wange.

„Die Vize-Miss World macht so was jeden Morgen, und sieht immer noch aus wie neunzehn“, Linda fährt sich mit dem Eiswürfel über Stirn und Schläfen. Eva nimmt noch zwei Stück. Eins steckt sie sich in den Mund, mit dem zweiten fährt sie sich auch über die Schläfen, „das und noch Pilatesübungen mit Gummiband“, Linda wirft das Eis in die Spüle.

„Ich brauche einen Booster, eine Spritze für die glatte Haut.“
„Du hast doch kaum Falten, nur wenn du lachst“, sagt Eva und fährt sich mit der wieder abgeschwollenen Zunge über die eiskalten Zähne.
„Zum Glück habe ich keinen Job, bei dem ich lächeln muss“, Linda rollt mit den Augen, öffnet den Mund, „Gesichtsyoga, mein Geheimtipp, lässt sich gut mit Beckenbodenübungen kombinieren.“
Eva macht einen Schmollmund, doch dann lockert sie resigniert ihre Gesichtsmuskeln. „Beckenboden ..., warum der ganze Mist?“
„Für sich selbst“, sagt Linda betont, „Tee?“ Sie gießt betont zeremoniell ein.

Eva kauert auf dem Stuhl.

„Nun komm schon.“
„In dieser schrecklichen Stadt ist man einfach so allein!“
„Vergiss den. Ihr habt doch nicht mal zusammengewohnt. Machst du keine Therapie?“
„Supervisionen sind das Langweiligste auf der Welt.“
„Ich meine nicht das gemeinsame Schmoren im Büro. Ich meine eine individuelle, pflegende Wachstumstherapie. Aber im Ernst, ich glaube, das würde dir guttun.“
„Machst du denn welche?“
„Ich habe jetzt eine Pause, aber es war richtig toll.“
„Wie, eine Pause?“
„Ich hatte erotische Träume mit meinen Therapeuten. Er wusste nicht, ob es Daddy Issues waren oder ob es besser wäre, die Therapie abzubrechen und uns privat zu treffen. Jetzt braucht er ein wenig Abstand. Was macht deine Zunge?“, Linda wechselt schnell das Thema. Eva streckt ihr die Zunge entgegen.

„So gefällst du mir schon viel besser“, Linda sucht eine Weile etwas im Handy, dann schreibt sie eine Nummer auf einen Zettel, „der hier nimmt dich, ich habe mich am Montag dort erkundigt, eine neue Praxis, ein sehr netter Mann, ich gehe selbst noch nicht hin, du kannst ihn aber ruhig anrufen, 1800 Kronen pro Sitzung.“
Eva rutscht auf dem Stuhl hinunter, „ich will kein weiteres Must-Have, das mich nur Geld kostet.“

Linda blinzelt verständnislos in ihre Richtung.

„Ich dachte, dass wir zusammenbleiben. Dass ich mich nicht mehr so hetzen muss. Ich dachte, wenn es schon auf der Arbeit nicht läuft, dann habe ich wenigstens eine schöne Beziehung, so einen Hafen. Einen Rückzugsort. Ich will jetzt endlich einen Mann, der mich nicht wieder verlässt, der mich mag und nett zu mir ist, ich will keinen Tinder, keine anderen Dating-Dienste, will mich nicht mit seinem ganzen Attachment beschäftigen, mit den Verflossenen, eifersüchtig sein, mir Sorgen machen, mich vergleichen, ich will mich nicht mehr auf Drinks einladen lassen und es als Einladung ins Bett akzeptieren. Ich will keinen Orgasmus mehr vorspielen, keine endlosen Abende, von denen nur leere Tüten und halbleeres Konto übrig bleiben, ich will niemanden mehr Honig ums Maul schmieren, oder niemanden davon überzeugen, wie sehr mich das, was ich mache, erfüllt.“

Linda blinzelt sie weiterhin, jetzt etwas zu betont fassungslos an.

„Genau! Deswegen hast du die ganzen Praktika gemacht, Sprachen gelernt und abends nach der Arbeit noch ein Fernstudium gerockt? Bist du deswegen hierher gezogen, hast auf französische Hosenanzüge, italienische Schuhe und einen besseren Friseur gespart? Vergiss nicht, dass ich dir damals mit dem Motivationsschreiben geholfen habe. Vielleicht solltest du es mal wieder lesen, hm?“

Evas Atem beschleunigt sich, sie blinzelt schneller, damit ihr keine Tränen in die Augen steigen.

„Und übrigens, weißt du, warum der Therapeut 1800 pro Sitzung nimmt? Weil das, was du mir hier herunterleierst, dein ganzes Selbstmitleid, das würde keiner sonst aushalten.“

Eva atmet schnell und flach, ihre Augen huschen verzweifelt durch die Wohnung.

„Spiel mir hier jetzt bitte kein Theater. Du bist, genauso wie ich, nur deswegen hierher gezogen, weil wir beide etwas erreichen wollen. Wenn du morgens nicht aufstehen und zur Arbeit gehen kannst, dann besorg dir halt Antidepressiva, wenn dir kein lustiges Lied mehr hilft.“ Linda gießt den Rest ihres Tee in den Abfluss. „So, und jetzt krieg endlich den Arsch hoch und mach da einen Termin“, sie zeigt mit dem Kopf in Richtung des Zettels auf dem Tisch, „damit das nächste Mal nicht Patrik höchstpersönlich kommen muss“, zischt sie mit eiskalter Stimme und knallt die Wohnungstür hinter sich zu.

***

Eva zieht den Kragen ihres Mantels enger um den Hals. Sie versucht langsam durch die Nase zu atmen, die eiskalte Luft brennt ihr im Hals. Sie marschiert durch die fade Stadt, die ganze Zeit schon ist es nur noch grau, die Sonne hat sie schon seit Wochen nicht gesehen. Sie kann sich kaum noch an sie erinnern, die Neonlichter und Autoscheinwerfer sind zur einzigen Lichtquelle ihres Lebens geworden. Das übliche Stadttreiben geht ihr auf die Nerven, sie ist zu aufgeregt, zu unruhig. Patrik hat schließlich tatsächlich angerufen, da hatte sie bereits einen Termin mit dem Therapeuten ausgemacht. Es war demütigend, schon wieder, nach so vielen Jahren und in ihrem Alter diese Art Betreuung zu erleben.

„Man zahlt lieber einen Seelenklemper, nur um in Ruhe gelassen zu werden“, denkt Eva und überlegt, ob sie den Therapeuten für die Verschwörung mit ihrem Arbeitgeber lieber ausschimpfen oder ihm eine verrückte Geschichte erzählen soll, schockieren, sich zu einem bemitleidenden Fall machen oder lieber gleich die Zwangsjacke verlangen? Ob 1800 reichen, damit er ihr Geplapper von der Sehnsucht nach einer reinen, ehrlichen, tiefen und belebenden Liebe erträgt?

„Meine Mutter hat mich als kleines Mädchen immer in den Gefrierschrank gesperrt, sie wollte nicht, dass ich wachse“, murmelte Eva zur Übung und schaut sich in der Straßenbahn nach einem freien Platz um. Dann fällt ihr Blick auf Elias Gesichtsprofil. Das ist doch die Strecke zu seiner Wohnung. Er ist attraktiv, seine frische Haut, die deutlich gezeichneten Augenbrauen, das dicke, dunkle Haar zeichnet sich unter der Mütze ab. Er ist in ein Gespräch mit zwei Männern vertieft, im geschmeidigen, leichten Französisch tauschen sie sich über die Einführung des Dresscodes in der Firma aus. Zwar liegt der ganze Wagen zwischen ihnen, doch Eva sucht sich lieber schnell einen Platz außerhalb seines Sichtfeldes. Die Männer plappern weiter, Eva versteht nur jedes dritte Wort, dann kommt schon ihre Haltestelle. Sie läuft mit einem stur nach vorne gerichteten Blick durch die Tür, doch dann hält sie es nicht aus und dreht sich nach der wegfahrenden Straßenbahn um. Elias schenkt ihr einen langen, zärtlich weichen Blick. Als hätte er die ganze Zeit von ihr gewusst.

Die Praxis liegt auf der anderen Straßenseite.

***

Evas Stimme zittert ein wenig, als sie mit aller Herzlichkeit Tee, Kaffee und sogar Wasser ablehnt, die ihr der Therapeut zu dem nicht geringen Stundenpreis gratis anbietet. Als dann alle Formalitäten erledigt sind und sie endlich sitzen, zwinkert ihr der gesund aussehende, leicht müde Dreißigjährige ermunternd zu: „Ich möchte noch einmal betonen, dass alles, worüber wir hier sprechen, unter uns bleibt. Ihr Arbeitgeber wird nichts von den Inhalten unserer Sitzungen erfahren. Sie zahlen ja ihre Sitzungen schließlich komplett selbst als unsere Klientin. Wir haben Sie für ein Projekt zur Prävention psychischer Erkrankungen am Arbeitsplatz ausgesucht. Ich freue mich, Sie kennenzulernen, auch wenn unter diesen nicht ganz glücklichen Umständen. Aber jetzt erzählen Sie, was führt Sie denn zu mir?“

Eva setzt sich ein Stück weg; Gefrierfach, verkackte Kindheit, häusliche Gewalt, nichteinvernehmlicher Sex, leichte Drogen, schwere Drogen, Schlafstörung, Müdigkeit, Promiskuität, zerrüttetes Zuhause, Enttäuschung, Enttäuschung, Enttäuschung, welche Geschichte wollte sie denn erzählen? Von wem? Elias Gesichtsprofil, sein weicher Blick, die gewölbten Brauen.

„Ich bin zusammengebrochen“, hört sie sich sagen, „komplett kollabiert, wollte mich verletzen“, Porzellanscherben, Backpfeife, Schokoeis, Elias Augen, seine ruhige Stimme, „ich habe meine Lektion bekommen, jetzt will ich mich wieder auf mich konzentrieren, Akzeptanz üben, Selbstliebe, Vergebung, Autonomie und den Willen. Und ich will mit Pilates beginnen.“ Eva schaut dem Therapeuten in die Augen, als wäre sie sich nicht sicher, wer den Satz gerade zu Ende gebracht hat.

„Das ist ja fantastisch“, entfährt dem Therapeuten, „dürfte ich Sie umarmen?“

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