Gesellschaftlicher Fortschritt  Nicht nur nörgeln!

Nicht nur nörgeln! Foto: Luz Fuertes via unsplash | CC0 1.0

Diejenigen, die eigentlich Ziel unserer Kritik sein sollten, verschonen wir oft, weil wir unser Pulver längst verschossen haben. Denn „Gleichgesinnte“ in unserem eigenen Umfeld kritisieren mitunter wir viel stärker für ihre Unzulänglichkeiten, hat die Dichterin, Theologin, Publizistin und Aktivistin Magdaléna Šipka bemerkt. So sabotieren wir aber unser persönliches und gesellschaftliches Wachstum selbst. Aber lassen sich die Zustände überhaupt anprangern, ohne in den Nörgel-Modus zu verfallen?

Die letzten zweieinhalb Jahre habe ich an einem Projekt zur kritischen Pädagogik gearbeitet. Falls ihr nicht genau wisst, was kritische Pädagogik ist: Es handelt sich um eine weitere pädagogische Richtung, die versucht, die Welt in einem breiteren Kontext zu sehen und auf Machtstrukturen aufmerksam zu machen. Ähnlich wie zum Beispiel das kritische Denken, die historisch-kritische Methode bei der Bibellektüre und andere Herangehensweisen, die sich als „kritisch“ bezeichnen.

Ich habe nichts dagegen, über Dinge intensiver nachzudenken oder gar gegen das Denken im Allgemeinen, doch für viele Menschen bedeutet „kritische Herangehensweise“ häufig einfach nur, ständig zu nörgeln.

Sabotage – ein außerordentlich wirksames Mittel

Irgendwann ist man einfach so kritisch und über alle Dinge erhaben, dass man es alle ständig spüren lassen muss. So kann sich mein Feminismus darin äußern, dass ich jeden Vater verächtlich anschaue, der gerade keine Windeln wechselt, jede Frau, die wenig Ambitionen hat oder auch alle, die guten Sex haben. Als Veganerin echauffiere ich mich über jede Hühnerbrühe oder Käseschnitte und alle, die so etwas konsumieren, bezeichne ich als Anthropozentrist*innen. Oder ich nehme Anstoß an der gängigen Grammatik und interpretiere jedes generische Maskulinum als ein Signal für Genozid an Frauen.

Das Problem ist nicht die Kritik als solche, sondern die Tatsache, dass wir uns im Kritik-Modus befinden, im Nörgel-Zustand ganz gleich, was der Kontext ist. Und damit sabotieren wir im Prinzip jedes Unterfangen, bei dem wir mitmachen. Jede Bemühung oder deutliche Äußerung in unserer Umgebung putzen wir runter. Dabei wird uns wohl nicht bewusst, dass der Boykott eine ziemlich starke Waffe ist. James C. Scott nennt in seinem Buch Applaus dem Anarchismus (Peter Hammer Verlag, 2014, Original: Two Cheers for Anarchism, 2012)  den Boykott, in seiner Terminologie Infrapolitik, eine außergewöhnlich erfolgreiche Kulturtechnik, die beispielsweise in Form von Desertation Armeen schwächt oder in Form von Wilderei und Kleindieberei der Dorfbevölkerung Zugang zu Naturalien auf vom Adel enteigneten Flächen verschafft.

In den meisten Kollektiven oder Gemeinschaften, in denen wir uns bewegen, äußert sich der Boykott jedoch nicht durch subversive Taten, sondern durch demotivierendes Gerede oder ständiges Angreifen der anderen. Möglicherweise noch mit dem Gefühl, dabei unser demokratisches Recht auszuüben oder ein nützliches Feedback zu geben, obwohl wir eigentlich nur nörgeln und das ganze Unternehmen von innen zersetzen. Dieses ständige Sticheln kann aus einer inneren Abgestumpftheit heraus entstehen, wieder zu dieser hinführen und sie verfestigen. Dann werden wir zu den großen Orks aus den Hobbit-Filmen, die mit Scheuklappen auf den Augen um sich herumschlagen, ohne zu merken, dass sie gerade ihre Freunde vernichten.

Rivalität in der Szene

In ihrem Buch So sieht Feminismus aus (Karl Blessing Verlag, 2022, Original: Feminisms. A Global History, 2020) stellt Lucy Delap Visionen verschiedener Frauen von einer gerechteren Welt nebeneinander, die sich gleichermaßen ähneln wie sie sich voneinander unterscheiden. Als ein deutliches Entwicklungshindernis im Kampf um Frauenrechte erkennt sie immer wieder eine Art Rivalität innerhalb der Bewegung selbst. Sie zeigt, dass obwohl Frauen auf der ganzen Welt oft ähnliche Ziele verfolgten, wie zum Beispiel das Frauenwahlrecht, ihre konkreten Vorstellungen und Träume von einer gerechteren Welt in Einzelheiten sehr weit auseinander gingen. Diese Spaltungen und Rivalitäten haben sie immer wieder daran gehindert sich zu vereinen. Das Problem der Nörgelei liegt darin, dass sie nur selten konstruktiv ist und sich oft gegen die richtet, die uns am nächsten stehen.

Sobald wir in unserem engeren Umfeld in einen Konflikt geraten, werden wir plötzlich für alles Mögliche verantwortlich gemacht: Die einen, weil sie tierische Produkte essen, die anderen, weil sie zu viel „künstliches“ Zeug ins sich stopfen. Frauen erfinden angeblich Geschichten, jemand habe sie belästigt, Männer wiederum sind zu empfindlich, wenn es um ihre Gesundheit geht. Anhänger der gleichen Meinung, die im Internet für ihre Sache „kämpfen“, sind zu emotional oder hysterisch. Die einen sind zu intellektuell und von den „normalen“ Menschen abgehoben, die anderen sind nicht genau genug und suchen zu breite Allianzen. Das Scheitern der tschechischen liberalen Linken wird zumeist dem aktiven Teil der liberalen Linken vom gesamten Rest der liberalen Linken angelastet. Denn klar: Wenn sich die Weltanschauung nicht durchsetzt, ist das mit Sicherheit die Schuld derjenigen, die sie gerade aktiv verteidigen. In Kollektiven, die nach der Aufhebung von Hierarchien streben, gibt es plötzlich jemanden, der die ganze Situation am besten versteht und sie deshalb allen erklären und das Kollektiv deshalb anführen muss, und das ist oft nicht der- oder diejenige, der oder die am fähigsten ist, sondern der- oder diejenige, den oder die es am wenigsten stört, das Ideal der Abschaffung von Hierarchie zu verletzen.

Auf ähnliche Weise wird von wichtigen Persönlichkeiten, auf die wir uns beziehen, eine beinahe päpstliche Unfehlbarkeit verlangt: In keinem wichtigen Thema sollten sie von dem „richtigen“ Standpunkt abweichen und dürfen auch in der Vergangenheit etwas Zweifelhaftes nicht einmal nur gedacht haben. Entsteht der Verdacht, dass sie in der Vergangenheit eventuell mal einen Fehler gemacht haben, erscheint es notwendig, alle darüber zu informieren, daraus eine große Affäre zu machen, ohne sich mit den lästigen Fakten zu beschäftigen.

Ein Gerücht hat plötzlich viel mehr Gewicht als der bisher makellose Ruf eines Menschen. Ein falscher Status, ein geteiltes Bild können einem in einer ständig nörgelnden Umgebung das Leben zerstören. Paradoxerweise werden von solchen Abstemplungen viel häufiger Menschen betroffen, die inhaltlich nahe stehen, Menschen einer „woken“ Bewegung, die sich vor Kurzem noch gemeinsam für das allgemeine Wohl einsetzten. Alles, was uns bis dahin verbunden hatte, spielt auf einmal keine Rolle, denn nun wurde in der Suppe ein Haar gefunden, ein Schönheitsfehler, eine Unvollkommenheit.

Gegenseitiges Paralysieren

Damit wir allerdings über jemanden nörgeln können, muss diese Person erst einmal überhaupt Lust haben, sich mit uns zu unterhalten und uns zuzuhören. Und die haben, ehrlich gesagt, nicht gerade viele. Die meisten, die es tun, sind entweder bereits zum Teil überzeugt oder haben einen leichten Hang zum Masochismus und übertriebenen Reflektieren.

Wenn wir in dieser Welt etwas wirklich zum Besseren verändern wollen, sollten wir einander in den Gruppen, die an der Veränderung arbeiten, vor allem freundlich und verständnisvoll begegnen. Denn auf dieser Welt gibt es schon genug Menschen, denen unser verantwortungsbewusster Konsum, begrenzter Verzehr von tierischen Produkten oder Kampf um soziale Rechte, herzlich egal sind.

Und diese Menschen bekommen Zuschüsse in Millionenhöhe für ihre Fleischkonsumkampagne, sitzen in Leitungspositionen in Unternehmen oder lehren an Universitäten, und vielen von ihnen gehört in wahrsten Sinne des Wortes die Welt, denn sie entscheiden über sie und über die Schicksale von uns allen. Und sie schlagen Profit daraus, dass wir uns gegenseitig fertig machen, viel zu hohe Ansprüche an uns selbst stellen und uns dadurch gegenseitig paralysieren.

Unsere Nörgelei erreicht sie nie, obwohl sie sie am nötigsten hätten. Was deswegen möglich ist, weil das Machtsystem immer noch auf Menschen eingestellt ist, die all das verdauen können. Zum Beispiel bedeutet es für Angehörige verschiedener Minderheiten oder im Falle von Frauen auch für jene aus der Mehrheit, sich abfällige Kommentare über das eigene Aussehen und andere Hänseleien gefallen zu lassen, wenn sie den öffentlichen medialen Raum betreten.

Menschen, die bereits mit einem diskutieren, auf Demos oder zu Vorträgen gehen und all die Drecksarbeit mitmachen, um eine gerechtere Welt zu schaffen oder im bröckelnden System einander Trost zu spenden, haben schon genug zu schultern. Sie noch wegen einer verdammten Rinderbrühe fertig zu machen, dafür, dass ihr Privatleben anders funktioniert oder sie einen neuen „woken“ Sprech noch nicht korrekt beherrschen, oder jemanden dafür runterzumachen, dass er letztlich nur ein Teil seines Körpers ist, sprich: des Lebens in dieser wahnsinnigen, chauvinistischen Kapitalismushölle, ist definitiv nicht fair. Alert – das Privatleben anderer kontrollieren zu wollen, ist kein guter Weg.

Als polyamore Frau erlebe ich es immer wieder, dass Menschen Meinungen über mein Privatleben haben (ich lebe mit zwei bisexuellen Männern zusammen und habe noch weitere Beziehungen). In der Psychotherapie wurde mir gesagt, dass ich meine Weiblichkeit unterdrücke, von Christen, dass meine Beziehungen schnell enden würden und meine Orientierung nicht existiert, und Linke kommen direkt damit, dass ich jemanden unterdrücke und dass ständig jemand in meinem Beziehungsgefüge leidet und missbraucht wird. Wer dieses „Opfer“ ist, wird in der Regel auf die- oder denjenigen zugeschnitten, mit dem sich die „Person mit der Meinung“ am besten identifizieren kann. Von meinen entfernteren linken Freunden hörte ich am häufigsten, dass ich es mir „Ausgedacht“ habe, missbraucht worden zu sein, dass ich dumm war, weil ich überhaupt mit dem Mann zusammen war, der versucht hat, mich zu vergewaltigen, und so weiter. Die ideologische Haltung schien jeder Intuition vorauszugehen und war oft noch auf den Kopf gestellt. Einfühlsame Antworten bekomme ich meistens von Personen, die einfach nur empathisch sind und sich meine ganze Geschichte anhören, gleichzeitig aber nicht unbedingt die „richtige“ Ideologie hat oder zu einer Aktivistengruppe gehört, die dazu passen würde. In dem Moment, wo wir selbstbewusst das moralische Podest betreten, um anderen zu predigen, wird es zu einem ziemlich morschen und fauligen Klotz.

Die Welt verändern Menschen mit großem Herzen

Natürlich ist es sinnvoll sich gegenseitig ein Feedback zu geben, unsere Beziehungen zu pflegen und zu versuchen, eine gemeinsame Sprache zu finden. Doch das ganze ideologische Gewäsch von Abstempeln und Anschuldigungen bringt in solche Gespräche nur Chaos. Es geht um eine andere Art der Kommunikation. Um die Sprache der Emotionen, konkreter Situationen, Beschreibungen und des Körpers. Es geht um Empathie und nicht darum, andere ständig zu bewerten.

Der Theologe Karel Skalický hat sich mit Revolutionen in der menschlichen Geschichte befasst und ist zu dem Schluss gekommen, dass jede zu einer größeren Freiheit führte. Die Welt wurde von Menschen mit einem großen Herzen und einer in dessen Mitte sitzenden tiefen Vision verändert. Und heute noch brauchen wir mehr Freiheit. Obwohl wir dieses Wort so oft verdrehen und uns dahinter nur eine weitere, noch größere Möglichkeit vorstellen, das Land zu plündern, Dinge zu erwerben, die wir nicht brauchen und die von Kinderhänden oder schlecht bezahlten Arbeiter*innen hergestellt wurden, zehnmal im Jahr auf die Kanaren zu fliegen oder unser eigenes Verständnis von Gerechtigkeit zu bezahlen.

Die Freiheit, die wir brauchen, ist die Freiheit vom ständigen Wachstumszwang und von der Abhängigkeit von Dingen, von ungesundem Essen oder dem eigenen Workaholismus. Mit den Jahrhunderten wird es immer schwieriger, sich nicht in diverse schlimme Dinge verwickeln zu lassen, beziehungsweise in strukturelle oder klimatische Sünden (was der Terminologie von Prof. Skalický mehr entspricht). Wir brauchen die Freiheit von unserer Herrschaft über die Natur, von der Ausbeutung, von dem ideologischen Gefängnis, in welches wir uns selbst schließen.

Das Herumnörgeln ähnelt dem guten alten Pharisäertum – verlogen und moralisierend. Es konzentriert sich zu sehr auf die Oberfläche, schaut nur auf das Buchcover, auf die Facebook-Pinnwand oder hört auf die in die Welt gestreuten Gerüchte, und sieht viel zu wenig die tiefe innere Leidenschaft eines Menschen. Die Nörgler*innen wissen eben schon im Voraus, was gut und richtig ist, wie was zu tun ist und welche Moralpraxis die beste ist. Doch am Ende ist diese Praxis trocken und leblos und in das eigene, erträumte Idealbild verliebt.

Eine Welt ohne Farben, Berührungen und Sarkasmus

Es stellt sich die Frage, worauf diese Strategie eigentlich abzielt und ob sich mit ihrer Hilfe beispielsweise das destruktive Prinzip der gegenwärtigen Weltordnung ersetzen lässt. Auch viele Kapitalismuskritiker*innen nutzen gern die Nörgelei als Mittel, doch das Prinzip der ständigen Bewertung, Kontrolle und Kritik ist bereits vom Kapitalismus selbst übernommen worden. Vor allem, wenn sich diese Kritik gegen nahestehende Menschen richtet und nicht gegen Machtmechanismen, Unterdrückungsformen oder ausbeuterische Verhaltensweisen. Sie paart sich hier mit dem Gefühl des Mangels, dem Grundgefühl, das die Räder des Konsums weiter antreibt.

Im Zuge der kapitalistischen Machtausdehnung wurde dieser Mangel oft künstlich hergestellt, um die Beherrschung und Beschäftigung der Menschen zu erleichtern. Ein fast ikonografisches Beispiel war die von der britischen Kolonialmacht eingeführte Salzsteuer in Indien, also auf ein Gut, das ansonsten frei verfügbar war. Wenn wir den Kapitalismus wirklich auch nur verlangsamen wollen, müssen wir im Gegenteil eine Kultur des Wohlstands, der Wertschätzung und der Care-Arbeit verbreiten. Die „Werkzeuge des Herrn“ (zu denen die ständige Kritik zweifellos gehört) werden sein Haus eben nicht zum Einsturz bringen.

Schließlich muss ich mir selbst zugestehen, dass auch dieser Text eine weitere Form der Nörgelei ist. Und auch noch gegen die eigenen Leute. Also tue ich im Prinzip genau das, worüber ich mich die ganze Zeit aufrege. Zu meiner Verteidigung kann ich noch anbringen, dass ich mich daran vor allem in der zwischenmenschlichen Kommunikation störe. Textseiten, egal ob im Web oder die aus Papier, können dies meines Erachtens ertragen. Im Rahmen eines Textes kann man zudem einigermaßen reflektieren, auf konkrete Aussagen reagieren und das wiederum ergibt meistens Sinn. Dadurch entsteht ein Dialog nicht nur zwischen zwei, sondern mehreren verletzten Egos und Seelen.

Ich kann nur hoffen, dass meinen Text niemand persönlich nimmt. Danke, dass ihr bis hierher gelesen habt. Ihr seid die Besten. Möge euch alles gelingen, was ihr euch für eine gerechtere Zukunft wünscht. Wenn das nicht eine Welt ohne Farben, Berührungen und Sarkasmus sein soll. Vielen Dank.

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