Schutz und Zucht gefährdeter Tierarten  Wie die Zucht im Zoo die Tiger retten soll

Anouk und Aris – Tigernachwuchs im Tierpark Ströhen
Anouk und Aris – Tigernachwuchs im Tierpark Ströhen Foto: © Susanne Ismer | Tierpark Ströhen

Einst bevölkerten Tiger ein Habitat, das vom Kaspischen Meer bis nach China und von Sumatra bis Nordrussland reichte. Tiger sind extrem anpassungsfähig und haben keine natürlichen Feinde. Doch der Mensch macht der größten Raubkatze der Erde schwer zu schaffen. Einige Unterarten sind bereits ausgestorben, die anderen stark gefährdet. Weltweite Schutz- und Zuchtprogramme sollen den Erhalt der Tiger gewährleisten. Der Leipziger Biologe Peter Müller führt seit 1973 das Internationale Zuchtbuch.

Peter Müller wusste schon als Kind, dass er später „etwas mit Tieren“ machen wollte. Er studierte Biologie, ging zum Zoo Leipzig und war dort lang in verschiedenen Positionen tätig, unter anderem als Direktor. Bis heute führt er der mittlerweile 83-Jährige eine Honorartätigkeit aus. Dazu gehört auch die Zuchtbuchführung.

Zuchtbücher

Um den Fortbestand seltener Tierarten zu sichern, arbeiten Zoos über Ländergrenzen hinweg eng zusammen. In internationalen und regionalen Zuchtbüchern werden weltweit für über 1.000 Tierarten die relevanten Stammdaten erfasst – von tropischen Schneckenarten bis zum asiatischen Elefanten. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit regeln die Zoos, welche ihrer Tiere miteinander verpaart und dafür getauscht werden. So wollen die Zoos vor allem die genetische Variabilität erhalten, da sonst die Lebensfähigkeit der Tiere und damit das Überleben der Art bedroht wäre. Das Führen des jeweiligen Zuchtbuchs obliegt einem der kooperierenden Tierparks. Der Zoo Leipzig verantwortet unter anderem die internationalen Zuchtbücher für Amur-Tiger und alle weiteren Tiger-Unterarten (seit 1973), Mähnenwolf (seit 2010) & Sumatra-Nashorn (seit 2012).

Quelle: Zoo Leipzig

Wie viele Tiger leben aktuell im Tokioter Zoo? Müller lacht: „Aus dem Kopf weiß ich das nicht, aber ich kann es nachlesen.“ So hat er weltweit den Überblick. Voraussetzung ist, dass der jeweilige Zoo am Zuchtprogramm beteiligt ist und die Daten regelmäßig aktualisiert.

Der Mensch ist das Problem – aber auch Teil der Lösung?

Die Zahlen für 2022 lauten wie folgt: 1.576 (gelistete) Tiger leben in Zoos. Etwa 4.300 bis 4.700 Exemplare leben noch in freier Wildbahn. Der Bengal-Tiger ist mit über 3000 Exemplaren vergleichsweise gut dran, vom Malaysia-Tiger gibt es nur noch knapp 150.

Der Tiger (panthera tigris)

Die Großkatze ist in Asien verbreitet. Ursprünglich bevölkerte die Spezies ein riesiges, geschlossenes Gebiet, das von der östlichen Türkei bis nach China (West-Ost-Achse) von Sumatra bis Sibirien (Süd-Nord-Achse) reichte. Daraus entwickelten sich insgesamt neun Unterarten, die sich an das jeweilige Habitat anpassten. Drei davon (Kaspischer Tiger, Java-Tiger, Bali-Tiger) sind bereits ausgestorben. Vom südchinesischen und hinterindindischen Tiger gab es lange keine bestätigten Sichtungen mehr, sie gelten zumindest als extrem dezimiert.

Das Problem ist der Mensch: Siedlungen dringen immer weiter in Tigerreviere vor, das Habitat wird für Monokulturen (zum Beispiel Soja und Palmöl) genutzt. Illegale Bejagung spielt auch eine Rolle: Tiger sind immer noch ein relevanter Bestandteil in der traditionellen chinesischen Medizin, man schreibt ihm heilende, wenn nicht gar magische Kräfte zu. „Das entbehrt jeder Grundlage“, so Müller, „aber dieser Glaube ist einfach nicht tot zu kriegen.“

Peter Müller (links) mit dem Direktor des Leipziger Zoos Prof. Jörg Junhold Peter Müller (links) mit dem Direktor des Leipziger Zoos Prof. Jörg Junhold | Foto: © Zoo Leipzig Es besteht die Gefahr, dass Tiger in absehbarer Zeit völlig von der Welt verschwinden könnten. Dies gilt zumindest für die freilebenden Exemplare. Wird ein Tier heutzutage als gefährdet eingestuft, wird es in Schutz- und Zuchtprogramme aufgenommen. Die internationalen Zooverbände WAZA und EAZA koordinieren weltweit Projekte, auch die Heimatländer der Tiere sind beteiligt und in der Regel aufgeschlossen. Der Rückgang einer Spezies kann also aufgehalten, im besten Fall sogar umgekehrt werden.

WAZA (World Assoziation of Zoos and Aquariums) ist eine weltweiter Zusammenschluss von Zoos und Aquarien, die sich der Pflege und Erhaltung von Tieren und ihren Lebensräumen auf der ganzen Welt verschrieben haben. In Europa gibt es zudem die EAZA (European Association of Zoos and Aquaria). Zu den Inhalten zählen Tierschutz, Tierernährung, Politik und Gesetzgebung, sowie Professionalisierung von Menschen, die im Zoobereich tätig sind.

Das Tigerzuchtbuch – Umzug von Prag nach Leipzig

Die Idee, Zuchtbücher für bedrohte Tierarten anzulegen, entstand in den 1920er und -30er Jahres in Polen (für den Wisent) und Tschechien (für das Przewalski-Pferd). Das Buch über Tiger wird seit 1966 geführt und erwuchs aus einer Zusammenarbeit der Zoos Leipzig und Prag. Erster Verantwortlicher war der Prager Zoologe Dr. Vratislav Mazák. Als Mazák sich beruflich veränderte, ging das Zuchtbuch 1973 nach Leipzig.
Dr. Vratislav Mazák (* 1937, † 1987) war ein tschechoslowakischer Wissenschaftler und Zoologe. Er arbeitete am Prager Zoo und dem Naturkundemuseum und führte als erster das internationale Tigerzuchtbuch. Er engagierte sich für internationale Tigerschutzprogramme und war zudem auch Spezialist für Löwen.
Die Buchführung besteht zunächst aus „ganz trockener Datensammlung“, so Müller. Zu jedem Tiger werden so viele Informationen wie möglich zusammengestellt: Elterntiere, Geburtsort und -datum, Aufzucht, Transporte, gegebenenfalls das Todesdatum, die Todesursache und Krankheiten. Nicht jedes Tier ist für die Zucht geeignet. Einige sind sogenannte Unterart-Hybriden, das heißt, eine Mischung aus zum Beispiel Amurtiger und Bengal-Tiger. Das Ziel ist aber, die jeweilige Unterart so ursprünglich wie möglich zu erhalten.

Aus Prag kam seinerzeit noch ein ganzer Schwung Karteikarten, inzwischen läuft alles digital. Seit 2019 gibt es ein Tierregistrierungsprogramm, das als umfassende Datensammlung fungiert. „Wenn zum Beispiel im Zoo Tokio ein Tigerjunges geboren und dort eingetragen wird, dann kann ich das einsehen und schauen, ob und in welcher Form es für die Zucht in Betracht kommt“, so Müller. Gelegentlich kommen auch wildgeborene Tiere dazu: „Wenn ein Tiger sich zu penetrant einer menschlichen Siedlung nähert, muss er eingefangen und in einem Zoo untergebracht werden.“ In China, Russland und Indien komme dies gelegentlich vor.

Jungtiere verbleiben etwa zwei bis drei Jahre bei ihrer Mutter, anschließend werden sie in andere Zoos überführt. Im Idealfall werden den Tieren lange Wege erspart, das ist jedoch nicht immer möglich. So kann es vorkommen, dass ein Tiger aus Deutschland in Japan oder Südkorea ein neues Zuhause findet. „Es braucht eine möglichst große biologische Diversität“, so Müller. Sprich: Die Zucht sollte nicht mit Tieren betrieben erfolgen, die zu eng miteinander verwandt sind. So sollen Erbkrankheiten vermieden werden.

In seinem neuen Zuhause wird der Tiger zunächst in einem Innenkäfig gehalten, sodass er sich an die neue Umgebung gewöhnen kann, anschließend erkundet das Tier allein die Außenanlage und kann seine neue Tigerfamilie schon einmal hören und riechen. „Man merkt schnell, ob die Tiere interessiert oder aggressiv aufeinander reagieren“, so Müller. Meist verlaufe die Vergesellschaftung erfolgreich. Dass es absolut nicht funktioniert, kommt vor, ist aber selten.
 

Eine vierköpfige Tigerfamilie in Niedersachsen

Im Tierpark Ströhen (Niedersachsen) werden seit 1989 die stark gefährdeten Amurtiger gehalten und gezüchtet, von denen es in freier Wildbahn nur rund 600 Exemplare gibt (Stand 2019). Im Juli 2022 wurden in Ströhen die Tigerkinder Anouk und Aris geboren. „Bei uns leben Kater und Katze die ganze Zeit zusammen, nicht nur während der Rolligkeit“, erklärt Pressesprecherin Yvonne Habermann. Der zuständige Tierpfleger beobachtet die Tiere sehr genau und kann den ungefähren Zeitpunkt der Geburt errechnen. Wenige Tage vorher werden die Tiere getrennt. Die Geburt erfolgt meist über Nacht und ohne Zutun des Pflegers. Danach werden Mutter und Nachwuchs so weit wie möglich in Ruhe gelassen, damit sie ungestört eine Bindung zueinander aufbauen können.

Der Tierpfleger des Vertrauens kontrolliert lediglich ab und zu, ob die Jungtiere aktiv sind und gesäugt werden. Nur wenn die Tigermutter ein Junges nicht annimmt, wird eingegriffen und versucht, das Jungtier per Hand aufzuziehen. Das sei immer eine Herausforderung, so Habermann, in Ströhen jedoch schon mehrfach geglückt. Wenn alles gut läuft, darf auch der Kater die Jungtiere kennenlernen. „Es ist immer die größte Freude“, findet Habermann, „wenn wir die Tigerkinder gemeinsam mit der Mutter und später auch mit dem Kater aufwachsen sehen.“

Wie erfolgreich solche Zuchtprogramme sind, hängt unter anderem von der Tierart ab. Idealerweise wird begonnen, wenn es noch ausreichend Exemplare gibt. Mehrlingsgeburten sind ebenfalls von Vorteil. Tigerkatzen bekommen alle zwei bis drei Jahre einen Wurf von bis zu vier Jungtieren. Bei Elefanten, Nashörnern und Tapiren zum Beispiel kommt hingegen nach langer Tragzeit meist nur ein Junges zur Welt.

Die Tigerzucht wird bereits seit den 1960er Jahren aufmerksam überwacht und seitdem wurde eine große genetische Bandbreite geschaffen. Zumindest in diesem Punkt sieht es für den Tiger verhältnismäßig gut aus. Es gibt jedoch auch ethisch fragwürdige Zuchtphänomene.

Weißes Fell, blaue Augen, bekannt aus Zaubershows in Las Vegas – der Weiße Tiger fasziniert. Müller sieht die Haltung jedoch kritisch. „Weiße Tiger sind das Ergebnis einer seltenen Mutation.“ In freier Natur überleben die Tiere kaum. „Das Gen ist rezessiv – das heißt, es braucht extreme Inzucht, um gezielt weiße Exemplare hervorzubringen.“ Außerdem entstehe so der falsche Eindruck, es handele sich um eine eigene Unterart: „Alle paar Jahre lese ich irgendwo, der Weiße Tiger sei vom Aussterben bedroht. Das ist schlicht Unsinn.“ In EAZA-Zoos herrscht strenges Zuchtverbot. Müller bringt es auf den Punkt: „Jeder Weiße Tiger nimmt einem anderen Tier den Platz weg.“

Amurtiger im Zoo Leipzig Amurtiger im Zoo Leipzig | Foto: © Zoo Leipzig

Amurtiger on tour – Auswilderungspläne am Kaspischen Meer

Lassen sich in Gefangenschaft geborene Tiere auswildern? „Prinzipiell ja“, so Müller, „aber es ist immer eine Herausforderung.“ Handaufzuchten sind oft zu menschenbezogen. Tigerkinder können jedoch das Jagen erlernen, die Instinkte sind noch vorhanden. So kann sich auch ein in Gefangenschaft geborenes Tier ans Leben in freier Wildbahn gewöhnen.

„Am schwierigsten ist es, Gebiete zu finden, in denen die Tiger ungestört leben können“, so Müller. Denn Begegnungen zwischen Mensch und Tiger können für beide Seiten gefährlich sein. Aktuell gibt es Bestrebungen, den eigentlich im Fernen Osten Russlands heimischen Amurtiger auf dem ehemaligen Verbreitungsgebiet des Kaspischen Tigers in Zentralasien anzusiedeln, beide Unterarten sind einander sehr ähnlich. Da der Kaspische Tiger zudem definitiv ausgestorben ist, besteht keine Gefahr, dass eine Art die andere verdrängt. „Das ist aus biologischer und auch ethischer Sicht vertretbar“, erklärt Müller.

Die Auswilderung soll ab 2025 realisiert werden. Anouk und Aris aus Ströhen werden dann bereits drei Jahre alt sein. Aber wer weiß, ob vielleicht ihre Kinder einst wieder in freier Wildbahn leben können?

Romeo-Irrtum

Als Romeo-Irrtum wird ein Phänomen bezeichnet, bei dem eine Tierart fälschlicherweise zu früh als ausgestorben erklärt und somit vom Naturschutz aufgegeben wird. Als ein Beispiel wird der Kaspische Tiger angeführt. Iranische Biologen fanden bereits in den frühen 70ern keine Hinweise mehr auf ein Überleben der Tiere. Dr. Vratislav Mazák hingegen vermutete noch 1979, dass einzelne Exemplare im Südosten der Türkei und an der Grenze zu Afghanistan überlebt haben könnten. Vermutlich starb die Art erst in den 1990er Jahren endgültig aus.

Tigerschutz: Kein Palmöl, keine Souvenirs

Was kann jede*r Einzelne tun, um den Tiger zu unterstützen? „Auf keinen Fall Handelsgüter, Souvenirs oder ‚Medizin‘ erwerben, die Tigerteile enthalten“, benennt Müller zunächst einmal, was selbstverständlich sein sollte. Weiterhin kann aber auch ein bewusster Verzicht auf Produkte, die Palmöl enthalten, hilfreich sein. Müller findet Patenschaften oder Geldspenden am effektivsten. Diese werden gezielt in Schutzprogramme investiert. „Davon werden zum Beispiel Rangerstellen geschaffen, die dafür sorgen, dass die Tiger nicht weiter illegal bejagt werden – und dass Tiger sich von menschlichen Siedlungen fernhalten.“

Gegen Ende des Jahres wird Müller die Führung des Zuchtbuches nach 50 Jahren einem Kollegen übertragen: „Ich freue mich darauf, einen jungen Menschen in diese Verantwortung einzuarbeiten.“

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