Zwischen Utopie und Greenwashing  Eine Welt ohne Wirtschaftswachstum?

Eine Welt ohne Witschaftswachstum? Foto: the blowup via unsplash | CC0 1.0

Unser Konsum ist oft problematisch, unser Planet und das Klima leiden – doch die Wirtschaft soll immer weiter wachsen. Muss das sein? Wem nützt das? Die Degrowth-Bewegung entwirft alternative Lösungen – aber wie belastbar sind diese?

Es ist irgendein verregneter Samstagabend, ich versuche im Internet ein paar Leggings zu kaufen – während ich das enorme Überangebot scanne, prasseln auf mich zahlreiche Fragen ein: Ist das Label XY wirklich nachhaltig? Was verdienen die Näher*innen? Habe ich eigentlich mal meinen Schrank gecheckt, ob ich nicht schon genug habe? Warum will ich überhaupt eine Leggins kaufen??

Die Antwort kenne ich aus früheren Recherchen: Konsum definiert uns und verspricht uns Identität – egal, ob stylishe Kleidung, gesunde Bio-Lebensmittel, aufregende Reisen oder mittlerweile sogar, ob wir unsere Wohnung heizen. Ich – wir – ahnen, dass unsere Entscheidungen nicht einfach auf einem abstrakten Markt existieren, sondern Menschen, Öko- wie Wirtschaftssysteme beeinflussen – und das nicht nur zum Guten. Es ist kompliziert: Wollen wir wirklich so weitermachen? Auf wessen Kosten geht unser Konsum, unser Lebensstil, der Drang nach dem „Mehr“? Können wir – der globale Norden – das überhaupt verantworten? Ich habe irgendwie ein schlechtes Gewissen – und immer noch keine Leggins.

Einfach mal nicht wachsen

Wer diese Fragen weiterdenkt, landet wahrscheinlich irgendwann bei den Ideen von Degrowth (etwa: rückläufiges Wachstum) und Postwachstum. Knapp umrissen meint Degrowth eine Kritik am bestehenden kapitalistischen Wirtschaftssystem. Dieses behauptet: Mehr Wirtschaftswachstum bedeutet mehr Wohlstand für alle – egal, ob wir davon neue Krankenhäuser oder Windkraftanlagen bauen oder uns mal eine schöne Leggins leisten. Am Ende gewinnen dann doch alle. Oder? Die Philosophie von Degrowth sagt: Nein, denn spätestens wenn wir den Planeten Erde für angeblich unbegrenztes Wachstum ausgebeutet haben, brauchen wir weder eine versorgende Infrastruktur noch coole Outfits. Denn unser Planet wird unbewohnbar für uns werden; soziale Ungleichheiten und Klimaschäden in unfassbare Dimensionen umschlagen – mit wenig Hoffnung, dass sich dies reparieren lässt. Die Degrowth-Bewegung schlägt deshalb vor, das exponentielle Wirtschaftswachstum einzudämmen, vielleicht sogar zu schrumpfen.

Die Idee des Postwachstums skizziert ein ähnliches Szenario. Doch die Lösung lautet hier, Wirtschaftsweisen so radikal umzubauen, damit weder der Planet noch das menschliche Zusammenleben zusammenbrechen. Unklar ist jedoch bei beiden Konzepten, wie das genau funktionieren soll.
 
Brauchen wir Wirtschaftswachstum? | 42 - Die Antwort auf fast alles | ARTE

Die Grenzen des Wachstums

Historisch beginnt die breite Diskussion über Degrowth und Postwachstum im Jahr 1972. Damals veröffentlichte der Club of Rome einen Bericht mit dem Titel Die Grenzen des Wachstums. Ein Expert*innen-Team hatte anhand von Computersimulationen errechnet, dass die Dynamiken eines exponentiellen Wirtschaftswachstum zu einer katastrophalen Situation für die Menschheit bis zum Jahr 2100 führen würden, wenn man nicht gegensteuert. Die Simulation wurde zuletzt 2020 erneut durchgeführt – und bestätigt.

Heute sind Klimafragen von keiner Agenda mehr wegzudenken, weltweit gibt es eine starke Klimabewegung. Doch große Veränderungen fehlen bisher – so hat Deutschland seine verfügbaren Ressourcen für 2023 schon am 4. Mai aufgebraucht.

Weltweit sieht es nicht besser aus. Der sogenannte „Erdüberlastungstag“ war 2022 am 28. Juli. An jenem Datum hat die Menschheit laut Berechnungen des Global Footprint Network alle biologischen Ressourcen verbraucht, die der Planet im Laufe eines Jahres regenerieren könnte. Den Rest des Jahres leben wir global auf Pump – beziehungsweise betreiben Raubbau an unseren künftigen Grundlagen.

Aktivist*innen und Klimaforscher*innen warnen seit Jahren davor, dass unser übermäßiger Verbrauch und der Imperativ des Wachstums einen hohen Preis haben, doch die Nachricht macht Menschen eher Angst und schafft sogar Widerstand: Statt zu handeln, wird diskutiert, ob nun „diese eine Flugreise“ oder eben „jene eine Leggins“ jetzt wirklich das Problem seien.

Degrowth und Postwachstum – kann das klappen?

Der Appell zum Schrumpfen oder sogar Verzicht haben aber ein Image-Problem. Was nachhaltig wäre, ist manchmal unsexy, fühlt sich weniger nach glitzernder Zukunft, sondern nach kargem Selbstversorger*innen-Leben an. Fünf Gründe, woran es aktuell hakt:
 

Arm und unsexy

Ein Lebensstil ohne große finanzielle Mittel ist de facto einer der nachhaltigsten. Man kauft wenig, spart an Energie, Fernreisen, dickem Auto, großer Wohnung, Klamotten oder sogar Fleisch. So ein Lebensstil erhält aber nur soziale Anerkennung, wenn man eigentlich genug Geld hat, um sich all diese Dinge zu leisten. Wer das nicht kann, gewinnt nichts hinzu – er oder sie ist einfach weiterhin arm. Auch „Zeitwohlstand“ durch weniger Wochenarbeitszeit – eine der Ideen, um Wachstum zu drosseln – ist für viele Menschen eher ein Verlustgeschäft. Dieser Aspekt verdeutlicht, dass das Degrowth-Konzept auch klassistische Fragen weiter im Blick haben sollte.

Degrowth als Lifestyle?

Keine Flugreisen mehr, keine Fast Fashion, vegan leben: Ist das eigentlich eine persönliche Entscheidung oder sollte auch der Staat diesen Lebensstil aktiv fördern? Über diese Frage ist man sich auch in der Bewegung nicht einig, sagt David Hofmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung in Berlin und Blog-Autor von postwachstum.de. Doch gerade wenn es um nachhaltige Mobilität oder Arbeitszeitverringerung geht, kämen zum Beispiel schnell Politik und Gewerkschaften ins Spiel, so der Forscher. Mit diesen Partnern ließen sich großflächige Veränderungen umsetzen. „Postwachstum“ läuft jedoch ohne diese Verbindungen Gefahr, lediglich ein Lifestyle zu sein, mit dem sich nur wenige identifizieren können.

Dagegen!

Degrowth ist als Bewegung vorrangig gegen etwas. Gerade in Krisen wollen Menschen aber auch wissen, was ihre Zukunft lebenswert macht, um nicht verängstigt, wütend oder gelähmt zu sein.

Degrowth berührt zudem manchmal auch antimoderne Narrative oder romantisiert – entgegen aller Trends von wachsender Urbanisierung – das „einfache, genügsame Leben auf dem Land“.

Zu viele Optionen

Ein anderes Wirtschaftssystem könnte möglich sein – aber auf welchen Schwerpunkt einigen wir uns? Soll es décroissance aus Frankreich oder Postwachstum in Deutschland sein? Sollte man die Idee des Umbaus einer globalisierten Wirtschaft überhaupt national herunterbrechen? Soll der Umbau eher sozial, ökologisch, antikolonial oder feministisch sein? Brauchen wir Übergangstechnologien, eine Alternative zum Bruttoinlandsprodukt oder wäre ein Leben als frugale Selbstversorger*innen das Beste für alle? Welche Konzepte von Degrowth sind belastbar – und welche nur Greenwashing? Die Ansätze sind sehr heterogen – und damit auch anschlussfähig an unterschiedliche Akteur*innen. Doch das macht es auch schwer, einen praktischen roten Faden zu finden.

The time is now

Aktivismus, Forschung und Politik arbeiten in Sachen Degrowth derzeit nur bedingt gut zusammen. Da variieren Umsetzungsideen genauso wie Zeitpläne – die einen sehen die Klimakrise näher rücken, die anderen denken im Turnus von Legislaturperioden. Aber: Darf man sich für ein höheres Ziel über demokratische Prinzipien hinwegsetzen?

Laut Hofmann mangele es aktuell auch an wissenschaftlicher Empirie – und diese braucht die Politik, um neue Vorhaben wasserdicht zu machen. „Wenn wir der Politik Vorschläge machen, dann heißt es: ‚Super, zeig’ doch mal deine empirischen Studien, wo das funktioniert hat‘“, so der Forscher. „Dann sage ich: ‚Ja, gibt es aber nicht, weil – wurde nie umgesetzt.‘ Sagt die Politik: ‚Ja, ist aber sehr schade. Komm’ doch wieder, wenn du Forschungsergebnisse hast.‘“ Die Wissenschaft wird in dieser Debatte zur Zulieferin reduziert, denn sie ist auf Politik und Wirtschaft, Geld sowie Fachpersonal angewiesen. „Diese neuen Lösungen, die wir denken müssen […], die kommen eben nicht einfach so aus dem bestehenden System heraus“, sagt der Postwachstums-Experte. „Wir alle, auch in der Wissenschaft teilweise, sind in diesen Systemlogiken und Pfadabhängigkeiten gefangen. […] Wir müssen einfach auch noch verdammt viele Lösungen entwickeln.“

Prekarität als Zustand und Lösung

Bleibt also nur noch der Stillstand im Status Quo? Statt jetzt zu handeln, deutet sich an, dass wir vielleicht eines Tages nur noch einen großen Scherbenhaufen verwalten werden – Degrowth by disaster, nennt die Bewegung das. Wir müssten uns, so Hofmann, endlich eingestehen, dass das Wohlstandmodell des globalen Nordens doch keine „so große Erfolgsgeschichte“ sei, „weil viele Schäden einfach im globalen Süden outgesourct wurden.“

Diesen Gedanken greift die Ethnologin und Autorin Anna Lowenhaupt Tsing in ihrem Buch Der Pilz am Ende der Welt (The Mushroom at the End of the World: On the Possibility of Life in Capitalist Ruins)auf. Der ethnologische Essay dreht sich um die wirtschaftlichen, globalisierten, aber auch ökologisch-sozialen Verflechtungen eines der wertvollsten Speisepilze der Welt, des Matsutake – der jedoch nur auf vom Menschen stark bewirtschafteten oder gar ruinierten Böden wächst. Anhand verschiedener Erzähl- und Gedankenstränge fragt Lowenhaupt Tsing, wie ein Kapitalismus ohne Fortschrittsannahme aussehen könnte. Sie skizziert eine Idee der Gleichzeitigkeit verschiedener Lebensweisen ohne den Drang nach Konkurrenz oder Effizienz.

Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus © 2023 Matthes & Seitz Berlin Dies zeigt vor allem: Das aktuelle Wirtschaftswachstum nützt eigentlich nur wenigen Menschen. Das allgemeine Fortschrittsversprechen, das Wachstum seit der Industrialisierung und spezieller nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für den globalen Norden versprach, ist kaum noch zu halten. Immer mehr Menschen arbeiten in instabilen oder prekären Verhältnissen – befristet, in Teilzeit, solo-selbstständige working poor, ohne Rücklagen für Krisen oder das Alter. Die Ideen von Degrowth und Postwachstum versprechen zwar eine bessere Zukunft – aber wer kann sich darauf verlassen?

Ist das Wachstums- vom Fortschritts- und Aufstiegsversprechen entkoppelt, tritt laut Lowenhaupt Tsung eines zutage, nämlich dass Prekarität – schlechte Jobs, fatale Umwelt- und Klimabedingungen, soziale Ungleichheit – unsere Realität durchdringt. Es sind Zustände, in denen wir lieber nicht leben wollen. „Meistens betrachten wir solche Prekaritäten als Ausnahmen im Getriebe der Welt“, schreibt Lowenhaupt Tsing. Prekarität sei etwas, was aus „dem System fällt“, etwas, was eine vermeintlich stabile Ordnung störe – und doch etwas, das wächst und das wir nicht richtig beheben können.

Wie passen Prekarität und Degrowth zusammen? Können wirklich alle mit derselben Energie und den gleichen Voraussetzungen an den Ideen von Degrowth teilhaben? Lowenhaupt Tsing quittiert das große Versprechen von der besseren Zukunft durch die vollständige Umsetzung von Degrowth mit einer Art innerem Schulterzucken. Was, wenn der Plan nur zum Teil oder gar nicht oder nicht für alle aufgeht?

Prekarität anzuerkennen und zu leben – als „Gleichzeitigkeit ohne den Drang nach Konkurrenz oder Effizienz“ – sei ein wichtiger Schritt, so die Ethnologin. Denn unser Alltag und unsere Lebensrealität stolpern über die Fragen der Zukunft, mit der wir nicht selten auch überfordert sind. Wir versuchen, vieles richtig zu machen – die richtige Mobilität, die richtigen Lebensmittel, die richtige Leggins – im falschen Leben.

Wahrscheinlicher ist: Wir werden auch künftig weiter Lebensmittel und Klamotten shoppen, in den Urlaub fahren oder uns um die beste Lösung für die Zukunft des Planeten streiten. Doch die Bedingungen unseres Lebens sowie die Verwendung und Verteilung von Ressourcen werden sich verschärfen – und damit auch die Unmittelbarkeit und Geschwindigkeit, in der wir Entscheidungen treffen müssen. Ob dazu im Hintergrund die Melodie einer größeren Idee wie Degrowth spielt, ist dann vielleicht beinahe zweitrangig.

Wie verletzbar wollen wir sein? Wer muss was aushalten? Welche Diskussions- und Abstimmungsformen passen zu dieser veränderten Lebensstil? Gibt es überhaupt noch ein übergeordnetes Ziel? Lowenhaupt Tsing meint – wo sich dieses vermeintliche Ziel auflöse, schärft es die Sinne für neue Fragen und Lösungen. Und diese könnten auch etwas anderes sein als Degrowth und Postwachstum oder diese Ideen in eine andere Richtung lenken.

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