Eine Stadt, die nicht mehr menschenfreundlich und bezahlbar für die Einheimischen ist und alltägliches Leben, das aus dem öffentlichen Raum verschwindet. Das sind nur zwei der Phänomene, mit denen sich das interdisziplinäre Projekt Gedächtnis der Stadt (Paměť města) beschäftigt. Es erkundet, wie Prag sich allmählich verändert und von seinen Einwohnern entfernt. Gleichzeitig versucht es, mögliche Auswege aufzuzeigen. „Wichtig ist es, die Einheimischen in die Diskussion mit einzubinden, stärker für eine partizipative Debatte zu sorgen und sich dafür zu interessieren, was die Leute wollen“, sagt eine der Begründerinnen des Projekts, die Dokumentarfilmerin und Journalistin Apolena Rychlíková.
Wie manifestiert sich Ihrer Meinung nach das städtische Gedächtnis?
Für mich tut es das in den Beziehungen zwischen den Menschen, die sich an einem Ort zuhause fühlen, dort arbeiten oder etwas erschaffen, das sich nicht in einfache Marktmechanismen einordnen lässt. Als wir über den Projekttitel nachgedacht haben, haben wir nach etwas gesucht, das auf das Gedächtnis als Mechanismus des persönlichen Erlebens anspielt. Gleichzeitig wollten wir aber zeigen, dass diejenigen, die das Gedächtnis der Stadt eigentlich ausmachen, nämlich ihre Bewohner, nach und nach aus der Stadt verdrängt werden.Ist Ihr Projekt also eine Reaktion auf den aktuellen Wandel Prags?
Mich hat lange massiv gestört, dass in der Debatte um die Wohnungskrise nur Experten oder Leute, die sich als solche ausgeben, wie beispielsweise Developer, Immobilienmakler oder Politiker, zu Wort kommen. Es fehlt die Stimme der wahren Experten für das Leben in der Stadt, nämlich die der Menschen, die in ihr leben. Für uns ist es wichtig, diesen Menschen Raum zu geben. Außerdem wollten wir die Problematik in einem gesellschaftspolitischen Rahmen anpacken. Zuerst habe ich vorgeschlagen, Podcasts für den Tschechischen Rundfunk zu machen, in denen wir die Prozesse der Gentrifizierung in fünf Prager Stadtvierteln beschreiben wollten. In der zweiten Phase haben wir dann eine Webseite gelauncht, auf der wir Fachtexte und Interviews mit Menschen, die sich im jeweiligen Viertel engagieren, veröffentlichen.Aus welchen Blickwinkeln verfolgen Sie den Wandel der tschechischen Hauptstadt?
Zu unserem Team gehört der Architekt Jakub Nakládal, der sogenannte Gentrifizierungsspaziergänge organisiert. Dabei konzentriert er sich vor allem darauf, wie sich die Stadt verändert, wer von den Veränderungen profitiert und auf wen sie wiederum negative Auswirkungen haben. Gentrifizierung wurde noch vor nicht allzu langer Zeit als ein rein positives Phänomen angesehen. Aber darüber, dass sie zu Umzügen und Entwurzelung der Menschen, zu einer Verteuerung des Wohnens, einer Entfremdung von Beziehungen und Vereinheitlichung von Dienstleistungen führt, wurde ziemlich viel geschwiegen. Außerdem sind Mitglieder unseres Teams zum Beispiel der Sozialgeograph und Urbanist Michal Lehečka und die Soziologin Bára Matysová, die sich den Roma-Communities und den Gründen für ihr schrittweises Verschwinden aus Prag widmet. Unser Team hat keinerlei Hierarchie und wir zählen auch all jene hinzu, die mit uns irgendwann einmal in den Dialog getreten sind. Das funktioniert wie eine Krake, in deren Fängen immer wieder jemand landet. Es kommen neue Geschichten hinzu, Leute vor Ort melden sich und wollen ihre Erfahrungen teilen.Sie haben erwähnt, dass Sie mit den Podcasts fünf Prager Viertel in den Fokus genommen haben. Wie ist denn die Auswahl auf gerade diese fünf Stadtteile gefallen?
Wir wollten auf verschiedene Veränderung in der Stadt aufmerksam machen und die ausgewählten fünf Stadtteile schienen uns dabei ein guter Ausgangspunkt zu sein. Jedes Viertel trägt nämlich eine Geschichte in sich. Die Prager Viertel Altstadt und Neustadt sind ein touristisches Disneyland. In Žižkov können wir beobachten, wie sich ein früheres Viertel der Bohème, in dem Studenten und Senioren lebten, in etwas verwandelt, was nur noch dem Konsum dient. Holešovice war ein ziemlich armes Viertel, aber allmählich wurde es teilweise zu einem Künstlerviertel mit einer sich schnell ausbreitenden Bebauung, die überteuert ist und die ansässigen Einwohner verdrängt. In Karlín hat uns die Geschichte der Roma interessiert, die von hier weggezogen sind. Und auch die Hochwasser, die in diesen Prozess noch das Element der Naturgewalt hineingetragen haben. Das letzte Viertel war Smíchov, wo wir aufzeigen wollten, wie aus diesem Stadtteil nach und nach ein Viertel für Autos wird, in dem immer weniger Menschen wohnen wollen.Die Dokumentarfilmerin und Journalistin Apolena Rychlíková | Foto: © Tomáš Vodňanský
Sie sind Autorin der Episode „Fremde im eigenen Viertel“ („Fremde ve vlastní čtvrti“), der sich mit dem Leben in der Prager Altstadt und der Neustadt befasst. Welche psychischen Folgen hat es für die ansässigen Einwohner, dass sie sich am Ort, an dem sie leben, wie Fremde fühlen?
Als das Coronavirus auftauchte, habe ich Interviews mit Menschen geführt, die in Häusern leben, in denen es schon lange auch Airbnb-Apartments gibt. Überraschend war, dass sie von sich aus begannen, Begriffe wie „Nachbarschaft“ oder „Beziehungen“ zu nennen, also etwas, das man üblicherweise in Diskussionen über die Stadt nicht hört, das aber für die Lebensqualität von hoher Relevanz ist. Mit einem Male waren die Menschen in der Lage, gemeinsam den Innenhof zu verschönern, sich gegenseitig im Haus zu helfen. Sie hatten keine Angst mehr, nicht gut schlafen zu können und in ihre Leben kehrte ein gewisses Gefühl von einem Zuhause zurück. Für mich ist Zuhause insgesamt eine sehr wichtige psychologische Kategorie. Heute spricht man darüber vor allem in der Investorensprache – also, dass Wohnraum dafür da wäre, Geld einzubringen, oder Geld in ihn zu investieren. Aber langsam geht das Narrativ verloren, dass Wohnen vor allem Zuhause sein soll und dass es wichtig für unsere emotionale Stabilität ist.Welche Folgen kann solch eine Verschiebung mit sich bringen?
Wenn man sich nicht in seiner Wohnung zuhause fühlt, wächst die Unzufriedenheit. So lässt sich beispielweise Hass gegenüber Ausländern beobachten oder Verärgerung über den Wandel von Dienstleistungen. Zwar hat man im Viertel 150 Läden mit Cannabislutschern, aber keinen Laden, in dem man einen Topf, Schulbedarf oder Kinderschuhe kaufen kann. Die Menschen bekommen das Gefühl, dass sie in ihrem Viertel nur noch als Kulisse für den Tourismus fungieren und ziehen in der Folge massiv weg.Zwar hat man im Viertel 150 Läden mit Cannabislutschern, aber keinen Laden, in dem man einen Topf, Schulbedarf oder Kinderschuhe kaufen kann.“
Bei den geschmacklosen Souvenirgeschäften oder den bis noch vor Kurzem angebotenen Beer Bikes, geht es aber um ein Angebot, dass letztlich Prag selbst für die Touristen bereithält. Kann man es den Touristen denn verübeln, dass sie diese Angebote nutzen? Und wie ließe sich das ändern?
Die Touristen kann man dafür auf keinen Fall verantwortlich machen. Allerdings muss über „Overtourism“ als eine negative Erscheinung nachgedacht werden, die nicht nur mit dem Thema Wohnen zusammenhängt, sondern auch mit der Umweltkrise. Allein im vergangenen Jahr hatte Prag mehr Touristen als Berlin, letzteres ist allerdings dreimal größer. Deshalb muss unsere Stadt, zumindest in Bereichen, die sie beeinflussen kann, versuchen, auch andere Angebote als nur Handel zu akzeptieren. Eine Lösung könnte sein, dass die der Stadt gehörenden Flächen in Erdgeschossen zum Beispiel nur an Vereine oder Kleinhändler vermietet werden würden, denn diese sind in einer Stadt unentbehrlich. Gibt es beispielsweise in einer Straße einen Metzger, entsteht dort ein gemeinschaftliches Leben. Der eine geht dort nach der Schule mit den Kindern einkaufen, der andere kommt zum Mittagessen für eine Suppe vorbei.Zum einen wollen wir eine attraktive, aufgeräumte Stadt mit Kreativzonen und modernen Restaurants, auf der anderen Seite sehnen wir uns danach, die Ursprünglichkeit der Stadt und ihren Geist zu erhalten. Wie kann man denn da einen guten Mittelweg finden?
Wichtig ist es, die Einheimischen in die Diskussion mit einzubinden, mehr für eine partizipative Debatte zu sorgen und sich dafür zu interessieren, was die Leute wollen. Ich denke, die Mehrheit wünscht sich keine Geisterstadt, in der zwar neue Gebäude stehen, in denen aber niemand lebt. In Berlin beispielweise werden über solche Fragen Referenden abgehalten und die Leute habe eine viel größere Möglichkeit sich an den Entscheidungen zu beteiligen.Zum wiederholten Male betonen Sie, dass Ihnen die Diskussion mit den Einwohnern der Stadt fehlt. Wer sollte denn diese Diskussion anstoßen?
Ich sehe die Verantwortung vor allem beim Institut für Planung und Entwicklung der Hauptstadt Prag (Institut plánování a rozvoje hlavního města Prahy). Dieses veranstaltet unter anderem öffentliche Events und Vorlesungen, aber bisher habe ich nicht das Gefühl, dass dabei die Stimme der gewöhnlichen Leute mehr zum Tragen kommen würde. Wichtig ist meiner Meinung nach aber auch der Zugang der Medien, denn Journalisten vergessen oft, die Menschen zu fragen, wie sie sich in der sich wandelnden Stadt fühlen. Angebracht wäre auch ein größeres Interesse von Seiten der Politiker. Sie sollten die genannten Probleme empathischer aufnehmen.Im Zusammenhang mit der Arbeit der Medien haben Sie einen offenen Brief geschrieben, in dem Sie die Wohnungskrise angesprochen haben. Worauf wollten Sie aufmerksam machen?
Wir haben uns an einem Artikel der Tschechischen Presseagentur ČTK gestoßen. In dessen irreführendem Titel war die Rede davon, dass Experten vor der Verabschiedung eines bestimmten Gesetzes warnen würden, da in der Folge das Wohnen teurer werden würde. Die genannten Experten waren jedoch ausschließlich Finanziers, Bankvertreter oder Developer und die Perspektive der anderen Seite fehlte in dem Artikel gänzlich. Sowohl von Menschen, die aufgrund ihrer Bildung eine kritisches Expertise auf dem entsprechenden Gebiet haben, aber auch die Meinungen von Personen, auf die all dies einen realen Einfluss haben könnte. Developer und Vertreter des Privatsektors sind wichtige Partner in der Diskussion. Sie sind aber auch Lobbyisten ihrer eigenen Interessen. Man darf sie also keinesfalls als jemand Unabhängiges sehen, was uns unter anderem die Medien manchmal einzureden versuchen.Unser größtes Ziel ist es, eine sichere Umgebung zu schaffen, in der Menschen die Möglichkeit bekommen, offen ihre Meinung zu sagen oder ihre Geschichte zu erzählen.“
Die Zeit der Coronavirus-Epidemie hat den Charakter Prags grundlegend verändert. Hatten Sie Möglichkeit dazu, durch die halbleere Stadt zu spazieren? Wie hat das auf Sie gewirkt?
Ich wohne auf dem Wenzelsplatz in einem Mietshaus, das eins von zwei oder drei Wohnhäusern auf dem ganzen Wenzelsplatz ist. Als die Pandemie ausbrach, wurde aus uns so etwas wie ein Zombieland. Der Wenzelsplatz ist nämlich unter anderem auch ein Ort, an dem sich viele Drogenabhängige treffen, Prostituierte und Obdachlose. Und ebendiese Menschen waren fast die einzigen, die in der Zeit noch draußen auf der Straße unterwegs waren. Auf einmal, ohne all die Touristen, wurde die Misere ihrer Lebensgeschichten offenbar. Für mich persönlich war es sehr schwer, damit klarzukommen. Ich bin ein paarmal durch die Stadt gelaufen und es war schön, zugleich aber auch deprimierend und betrübend, denn mir wurde klar, dass im Stadtbezirk Prag 1 wirklich fast niemand mehr wohnt. Statt Geschrei aus Innenhöfen oder Streits aus offenen Fenstern zu hören, was zum Organismus einer Stadt dazugehört, war da nur noch Totenstille.Kann eine so unerwartete Krise ein Impuls dazu sein, dass wir nicht wieder wie zuvor weitermachen und etwas verändern?
Zuerst habe ich das noch gehofft, ja. Aber mittlerweile denke ich, dass das nicht geschehen wird. Sehr schnell sind wir in diese hastige Welt zurückgekehrt, in der wir uns über andere Themen unterhalten. Das ist sehr schade. Die Gelegenheit war da, aber leider wurde sie vertan.Was erwartet Sie im Rahmen des Projekts Gedächtnis der Stadt in der näheren Zukunft?
Gemeinsam mit 40 lokalen Vereinen und Initiativen aus verschiedenen Prager Stadtteilen haben wir einen Aufruf verfasst, der acht Punkte enthält, die uns an unserer Stadt stören und die die Pandemie aufgedeckt hat. Wir planen auch eine zweite Podcast-Reihe, die sich diesmal auf vier ausgewählte Plattenbausiedlungen konzentrieren soll. Wir wollen so auf kritische Stimmen reagieren, die meinen, die erste Serie sei nur für die Eliten gewesen, die im Stadtzentrum leben. Dabei gilt aber schon lange nicht mehr, dass man in einer Siedlung am Stadtrand wie beispielsweise Černý most automatisch billig lebt. Es kommt dort verschiedentlich zu Reprivatisierung, teilweise wird eine enorme Anzahl von Wohnungen von einem einzigen Besitzer aufgekauft und das alles sind die Phänomene, die uns interessieren. Außerdem bereiten wir eine Reihe von Diskussionen vor, die jeden Monat im Zentrum für Architektur und Stadtplanung CAMP stattfinden werden und sich den Themen, die wir untersuchen, widmen werden: Wohnungskrise, Klimawandel, Tourismus, Wandel von Dienstleistungen oder auch die Verkehrsinfrastruktur. Unser größtes Ziel ist es, eine sichere Umgebung zu schaffen, in der Menschen die Möglichkeit bekommen, offen ihre Meinung zu sagen oder ihre Geschichte zu erzählen.Apolena Rychlíková (31) ist eine tschechische Dokumentarfilmerin und Journalistin. Ihre Themenschwerpunkte sind Gendergleichberechtigung, Zugänglichkeit von Wohnraum und soziale Gerechtigkeit. Unter ihrer Regie entstanden beispielsweise die Filme Intolerance: The Chill (2015) oder Hranice práce (Grenzen der Arbeit, 2017). Für letzteren Film erhielt sie auf dem Internationalen Dokumentarfilmfestival Ji.hlava den Preis für den besten tschechischen Dokumentarfilm sowie den Publikumspreis.
Oktober 2020