Das Vermächtnis von Sebastião Salgado (*1944) ist überwältigend: atemberaubend schöne Bilder, eine beachtliche Anzahl von Ausstellungen und Publikationen und eine bunte Mischung von Stempeln in seinem Pass. Für seine Fotografien bereiste er mehr als 120 Länder der Welt – zu Fuß, per Flugzeug, mit Zug oder Auto und im Ballon. In seinen Bildern hält er die unbändige Schönheit der Welt fest und weckt den Wunsch, sie zu verstehen und zu schützen.
Meine erste Bekanntschaft mit Sebastião Salgado machte ich in Berlin in der Buchhandlung im Museum für Fotografie. Auf dem massiven Eichentisch lag ein großformatiges Buch mit dem Titel Genesis. „Ach, wieder so ein Wälzer mit Landschaften und Tieren“, sagte ich mir, als ich begann, das Buch durchzublättern.Zwei Stunden später war ich nicht nur in Salgados Werk verliebt, sondern wurde auch von den Verkäuferinnen äußerst misstrauisch beäugt und beobachtet, ob ich nicht doch vorhatte, das 522 Seiten dicke Büchlein unter meinen Mantel zu stecken und zu türmen. Von Salgados Fotografien kann man sich nur schwer losreißen, egal ob man sie in einem Buch betrachtet oder noch besser in einer Ausstellung.
Vor allem die Bilder aus der Serie Genesis riefen in mir ein tief verwurzeltes Gefühl der Verbundenheit und der Hoffnung hervor, dass es der Menschheit doch noch nicht gelungen war, sich gänzlich von der Natur zu trennen, sondern dass sie selbst noch immer ein Teil dieser Natur war. Bald merkte ich, dass die Lebensgeschichte dieses sozial sensiblen Fotografen mit brasilianischen Wurzeln nicht weniger fesselnd war als dessen Bilder.
Die ganze Welt bereisen
Sebastião Salgado wurde 1944 im Bundesstaat Minas Gerais in Brasilien geboren, wo er auf der Farm seiner Familie aufwuchs. Später studierte er Wirtschaftswissenschaft an der Universität in São Paulo, promovierte nach seiner Emigration nach Paris, wo er heute wieder lebt. Zunächst verdiente er seinen Lebensunterhalt als Verwaltungsangestellter für die Internationale Kaffeeorganisation und für die Weltbank. Dank dieser Tätigkeit reiste er oft in afrikanische Länder und sein Herz begann für die Fotografie zu schlagen, der er sich ab 1973 auch professionell widmete. Schon einige Jahre später wurde Salgado in die renommierte internationale Fotoagentur Magnum Photos aufgenommen, für die unter anderem auch der tschechische Fotograf Josef Koudelka tätig war.Bereits in den Anfängen seiner Arbeit fokussierte sich Salgado auf soziale Dokumentarfotografie. Für die Serie Workers (Arbeiter, 1986) dokumentierte er über einen Zeitraum von sechs Jahren in sechsundzwanzig Ländern hart arbeitende Menschen in den ärmsten Winkeln der Erde. Fischer, Weber, Tee-, Kakao- und Tabakpflücker, Bauarbeiter, Schweißer, Bergarbeiter, Feuerwehrleute in Kuwait, die dort Ölbrände löschten, oder Goldgräber in der Goldmine Serra Pelada in Brasilien.
Auf dem Foto sieht man 50.000 über und über mit Schlamm bedeckte Männer, die jeden Tag tausende Säcke mit Erde und Steinen aus einer Grube von der Größe eines Fußballfeldes an die Oberfläche holen. Die Männer arbeiten freiwillig dort und in der Hoffnung, dass gerade sie es sein werden, denen das Glück einen Klumpen Gold beschert. Das Bild birgt eine unglaubliche Vielzahl von Details, fast wie auf einem der Höllen-Gemälde von Bosch. Die Arbeiter folgten den Verheißungen des Goldes.
Mit einem Gefühl für soziale Gerechtigkeit versuchte Salgado die schwindende Welt der manuellen Arbeit und mit ihr auch das Ende der industriellen Revolution festzuhalten, ohne den Arbeitenden ihre Würde zu nehmen. Salgado interessiert sich jedoch nicht nur für Fotografie, sondern auch für Geschichte, Anthropologie, Soziologie, Wirtschaft und Geopolitik. Er will die Gesellschaften und Themen verstehen, mit denen er sich beschäftigt.
Im darauffolgenden Projekt Migrations (Migrationen) weitete er sein Schaffensgebiet auf dreiundvierzig Länder auf allen sechs Kontinenten aus. Dieses Mal konzentrierte er sich auf das Thema Massenmigration von Menschen auf der ganzen Welt. Auch sein nächstes Großprojekt dauerte ganze sechs Jahre, obwohl er dafür ausschließlich in Afrika unterwegs war. An der Seite von Mitarbeitenden der Organisation Ärzte ohne Grenzen fotografierte er in den 1980er Jahren das durch eine Dürre ausgelöste Hungern und Sterben von Menschen. Diese Fotografien stellte er in seinem Buch Sahel vor, für das es nicht leicht war, einen Verlag zu finden.
Man kann sich nur schwer vorstellen, wie diese Erlebnisse auf den empathischen Fotografen gewirkt haben müssen. Der Genozid in Ruanda traumatisierte Salgado so sehr, dass er seinen Glauben an die Menschheit verlor und ernsthaft krank wurde. Ein Arzt sagte Salgado, er hätte so viel Tod gesehen, dass auch sein Körper abstürbe. Auf den Rat des Arztes hin hängte er die Fotografie an den Nagel.
Der Mann, der Bäume pflanzte
Doch wie geht die Geschichte des brasilianischen Fotografen dann weiter? Ich will euch nicht auf die Folter spannen. Sebastião Salgado kehrte 1994 auf die Farm seiner Familie ins Tal am Rio Doce zurück. Die einst bewaldeten und vor Leben strotzenden Berghänge, die er aus seiner Kindheit kannte, waren nach den jahrelangen Abholzungen und der rücksichtslosen Ausbeutung der natürlichen Reichtümer trist und kahl. Erosion und Austrocknung bedrohten die nackten Hänge. Eine weitere Wunde, die ihm das Leben zufügte. „Die Erde war genauso krank wie ich – alles war zerstört“, erinnert sich Salgado bei einem Vortrag auf einer TED-Konferenz im Jahr 2013.Glücklicherweise hat er die richtige Frau geheiratet. Lélia Wanick Salgado unterstützte sein jahrelanges Reisen um die Welt. Zusammen zogen sie die gemeinsamen Söhne groß, außerdem kuratierte seine Frau die Ausstellungen, half ihm die Fotografien in einem sinnvollen Narrativ zusammenzustellen und eine unabhängige Organisation zu gründen, die sein Werk in die Welt tragen sollte. Doch in den schwierigsten Jahren seines Lebens war sie ihm auch deshalb das Wichtigste, weil sie eine brillante Idee zur Rettung der umliegenden Landschaft und damit ihres Mannes hatte. Sie schlug vor, den Regenwald mit eigenen Kräften wieder herzustellen. Ein gewisser Ehrgeiz lag offensichtlich in der Familie.
Und so gründeten sie 1998 die gemeinnützige Organisation Instituto Terra (Institut der Erde) und, um es abzukürzen, es gelang ihnen tatsächlich im Verlauf einiger Jahre gemeinsam mit anderen Menschen 170 Hektar trockenen Steppenlandes wieder in einen lebendigen Wald zu verwandeln. Gemeinsam pflanzten sie zweieinhalb Millionen Bäume, mehr als dreihundert verschiedene lokale Arten, die laut Salgado einhunderttausend Tonnen Kohlendioxid jährlich binden können, und renaturierten um die zweitausend Wasserquellen. „Ich hoffe, dass wir den Menschen vermitteln, dass wir den Planeten wiederherstellen können. Das ist es, was wir tun: Wir versuchen, den Planeten wieder herzustellen“, erklärt der Fotograf. Er kam zu dem Schluss, dass die Welt nur gerettet werden könne, indem man Bäume pflanzt, auch wenn so mancher dies nur als Bekämpfung der Auswirkungen und nicht der Ursachen des eigentlichen Problems sehen mag. Salgado saugte das aufkeimende Leben in sich auf, sah die Bäume wachsen und beobachtete die damit einhergehende Rückkehr von Vögeln, Insekten, Säugetieren und anderer Tiere. Es war an der Zeit, auch zur Fotografie zurückzufinden.
Auf der Suche nach dem Paradies
Salgado suchte nach einer Möglichkeit, wie er die Welt annehmen und auf sie reagieren könnte, und fand eine Lösung: zum Anfang zurückkehren und den Menschen das noch nicht gänzlich verlorene Paradies zeigen. „Diesmal war es mein Wunsch, nicht nur das einzige Tier zu fotografieren, das ich schon mein ganzes Leben lang fotografiert hatte: uns. Ich wollte die anderen Tiere fotografieren, die Landschaft fotografieren, auch uns fotografieren, aber das Uns in seiner Ursprünglichkeit, als wir noch im Gleichgewicht mit der Natur lebten“, so Salgado.Salgado war 59 Jahre alt, als er im Jahr 2004 eine achtjährige Reise antrat, eine Reise zu Orten, die von der Zivilisation bisher unberührt geblieben waren. Er fokussierte sich darauf, was die Welt schön und einzigartig macht, reiste kreuz und quer durch Alaska, den Regenwald des Amazonas, Indonesien, den Kongo, von Madagaskar bis Colorado, von Sibirien über Chile bis nach Neu Guinea. Ohne entsprechende finanzielle Mittel war das alles natürlich nicht möglich. Das Projekt kostete ihn jährlich 1,5 Millionen US Dollar, deshalb war eine große Anzahl von Magazinen, Stiftungen und Organisationen in das Projekt eingebunden.
„So oft schon habe ich Geschichten fotografiert, die die Zerstörung unseres Planeten zeigen“, sagt Salgado. „Ich hatte diesen Einfall, die Fabriken zu fotografieren, die unsere Umwelt verschmutzen, und all die Orte, an denen unser Müll herumliegt, zu sehen. Letztendlich kam ich zu der Überzeugung, dass der einzige Weg, uns einen ermutigenden Anstoß zu geben, Hoffnung zu bringen, darin besteht, die Bilder des unberührten Planeten zu zeigen – diese Unschuld zu sehen.“
Das Ergebnis ist die oben bereits erwähnte Serie Genesis. Fotografien von indigenen Stämmen mit uralten Lebensweisen stehen neben Nahaufnahmen von Tieren und Abbildungen weiter Flussdeltas oder Gebirgskämme aus der Vogelperspektive. Salgado zeigt die Schönheit der Natur und ein naturnahes Leben. In seinen Händen manifestiert sich die Fotografie als eine Sprache ohne Grenzen, ein Mittel der Kommunikation zwischen den Völkern. Im Vergleich zu seinen früheren Serien weist er nicht explizit auf das Problem hin; seine Fotografien sind rein ästhetisch und fordern nur im Hintergrund dazu auf, diese Schönheit zu schützen und zu erhalten.
Alles hängt vom Wasser ab
Es wäre aber nicht Salgado, wenn er den Sucher seiner Kamera nicht auch auf die durch den Klimawandel verursachten Veränderungen richten würde, die sowohl für die Umwelt als auch für die Bewohnerinnen und Bewohner der Erde große Auswirkungen haben. Salgados neueste Ausstellung, Aqua Mater, war bis zum 14. Juli in Genua zu sehen. Ich bin in fast heiliger Stille durch diese Ausstellung gegangen. Kurz vor der Schließzeit war ich bis auf das Aufsichtspersonal in den Räumlichkeiten fast ganz allein.Salgados Frau Lélia übernahm auch dieses Mal die Verantwortung für den erzählerischen Rahmen und die Konzeption der Ausstellung. „Die Idee zu dieser Ausstellung entstand aus einer umfassenden Reflexion über den Zustand unseres Planeten“, sagen sie und ihr Mann auf einer der Einführungstafeln zur Ausstellung. „Die globale Erwärmung ist inzwischen zu einer Bedrohung für Mensch und Natur geworden. Der durch steigende Temperaturen verursachte Anstieg des Meeresspiegels, das Schmelzen von Gletschern und die Erwärmung der Ozeane haben verheerende Auswirkungen auf die Küstenbewohner und deren Lebensräume. Unsere Fähigkeit mit dem Wasser zusammenzuleben, es zu nutzen und zu schützen, ist heute mehr als jemals zuvor existenziell für unser Überleben und den Erhalt der biologischen Vielfalt.“
Die großformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien hingen von der Decke der unterirdischen Halle so zwischen den Säulen, dass ich an ihnen vorbeigehen und gleichzeitig die Bilder um mich herum und hinter mir betrachten konnte. Das Wasser zeigte sich auf den Fotos in all seinen Formen, in Reinheit und Intensität, in Überfluss und Knappheit, in Isolation und in vielfältiger Interaktion mit Mensch, Fauna und Flora. „Durch die Verdunstung von Feuchtigkeit speisen die Wälder sogenannte ‚fliegende Flüsse‘, die Wasser in ferne Breitengrade transportieren, was die Bedeutung des Schutzes der tropischen Vegetation unterstreicht. Ozeane, Gletscher, Flüsse, Bäche, Seen und Wasserfälle bedecken einen großen Teil unseres Planeten. Wasser ist nicht nur für den menschlichen Körper lebenswichtig, sondern auch für die Pflanzen, die uns ernähren, und für die Biome und Tierarten“, so die Salgados weiter.
Einige der Bilder kannte ich bereits aus Salgados Serien Workers, Amazônia oder Genesis, andere waren für mich neu. Die Beleuchtung war direkt auf die Bilder gerichtet und ließ den umliegenden Raum in den Hintergrund treten. Das Einzige, was außer den Fotos selbst und deren Bildunterschriften meine Aufmerksamkeit auf sich zog, waren die Geräusche im Raum. Geräusche von Regen und Wasserfällen, Donnergrollen, ein Plätschern und Platschen, Rauschen, Tropfen und Glucksen und andere mit dem Element Wasser und dem Menschen verbundene Klänge, die der französische Komponist François-Bernard Mâche als Ergänzung zur Ausstellung zusammengestellt hatte. Auch wenn die Ausstellung als Reaktion auf die klimatischen Veränderungen entstanden war, ging es eher darum, das Wasser zu feiern und dessen Bedeutung für das Leben von Mensch, Tier und Ökosystem zu verdeutlichen, als die Probleme von Wasserknappheit oder -verschmutzung aufzuzeigen. Ich verließ die Ausstellung mit einem Gefühl von Herrlichkeit und Ehrfurcht, doch nicht mit dem Wunsch zu handeln.
Der Einfluss der Fotografie
Mich treibt die grundsätzliche Frage um, ob das fotografische Schaffen Sebastião Salgados einen Einfluss auf den Zustand der Umwelt, den Schutz der Natur und die Lösung sozialer Probleme hatte und hat, auf die es die Aufmerksamkeit lenkt?! Oder verfolgen wir seit Jahrzehnten die Entwicklung der persönlichen Philosophie eines einzigartigen Fotografen? Meiner Meinung nach trifft beides zu. Nicht nur in der Kunst lassen sich direkte Auswirkungen nur schwer messen.In einem Interview mit Emily Bierman aus dem Jahr 2022, in dem es um seine Amazônia-Serie geht, erläutert Salgado seine persönliche Sicht auf den Beitrag seiner Arbeit: „Die Fotografie ist das Gedächtnis unserer Gesellschaft. Ihr wichtigster Beitrag ist der zur Geschichte. (...) Die Porträts, die ich von indigenen Gemeinschaften in Amazônia gemacht habe, repräsentieren genau den Moment, in dem ich arbeite. Ich mache sie nicht, weil ich ein Aktivist bin oder um Geld für den Amazonas zu sammeln. Ich bin ein Dokumentarfotograf, der sich mit der Geschichte beschäftigt. Ich habe die Fotos gemacht, weil ich diesen einen Moment zum Ausdruck bringen möchte. Danach werden sie natürlich zu einem Motor für Umweltorganisationen. Bei den Veranstaltungen, die wir in São Paulo organisiert haben, gab es zehn Tage lang Gesprächsrunden mit indigenen Führungskräften. Wir haben eine riesige Bewegung geschaffen. Im November dieses Jahres organisieren wir in Rio de Janeiro ein großes Treffen indigener Führungspersönlichkeiten im Rahmen der derzeitigen Ausstellung.“
Die Verbindung zwischen Kunst und konkreten sozialen Veränderungen ist oft indirekt und langfristig. Salgado erweitert nicht nur unser Verständnis für soziale und ökologische Probleme und verschiedene Lebensformen auf der ganzen Welt, indem er auf sie aufmerksam macht, sondern arbeitet auch häufig mit gemeinnützigen Organisationen zusammen. So kann seine Arbeiten dazu beitragen, finanzielle Mittel für humanitäre und ökologische Projekte zu sammeln.
Anmerkung: Ihr würdet gerne mehr über Sebastião Salgado erfahren? Einen tieferen Einblick in seine Philosophie, sein Denken und Erleben bietet das autobiografische Buch Sebastião Salgado: From My Land to the Planet (2013). Vor zehn Jahren entstand auch der eindrucksvolle Dokumentarfilm Das Salz der Erde (O Sal da Terra).