Die Kunst schweift durch latente Räume
Im Refik Anadol Studio (RAS) in Los Angeles kooperieren Künstler, Architekten und Datenwissenschaftler mit Maschinenintelligenz, um die verschiedenen Ebenen der Bedeutung von Bewusstsein und Raum zu ergründen. Pelin Kivrak, die bei RAS für die Konzeptentwicklung zuständig ist, gewährt Einblicke in die neusten Arbeiten des Studios.

RAS setzt Maschinenlernen und künstlerische Synesthäsie ein, um visuelle Erfahrungen zu erzeugen. In den Arbeiten des Studios kommen verschiedene Methoden des computergestützten Designs zum Einsatz, darunter architektonisches Projektionsmapping, maßgeschneiderte Algorithmen und Generative Adversarial Networks (GAN), die Maschinenintelligenz für die Verarbeitung gewaltiger Datensätze von visuellem und inhaltlichem Wissen trainieren. Seit seiner Gründung im Jahr 2014 versucht RAS, neue dialogische Beziehungen zwischen Imagination und Dinglichem, Selbst und Umwelt, Technologie und Geschichte zutage zu fördern, indem es die Aufmerksamkeit auf die wachsenden virtuellen Archive von individuellen kollektiven, institutionellen oder künstlichen Erinnerungen lenkt.
Gefühlter Raum
Die meisten Experimente mit der Erinnerung führt das Studio auf materieller Ebene durch, sei es, indem es Verbindungen zwischen Archivmaterial aufdeckt oder die Vorgänge im menschlichen Gehirn untersucht. Beispielsweise schuf RAS im Jahr 2017 in Zusammenarbeit mit dem Artists and Machine Intelligence-Programm von Google in Istanbul eine einzigartige Installation mit der Bezeichnung Archive Dreaming. Anhand von Maschinenlernalgorithmen wandelte das Studio mehr als 1,5 Millionen Dokumente über das städtische Leben und die türkische Kunstgeschichte aus dem Archiv des Istanbuler SALT Research Center in eine interaktive Multimediainstallation um.

Auf einer konzeptuellen Ebene vermutet RAS nach Anadols Aussage die Existenz eines latenten Raums ähnlich den Prozessen von Traum und Halluzination, die nach der Kondensierung und Kategorisierung der Erinnerungen beginnen. Im Maschinenlernen werden im latenten Raum nicht beobachtbare Verknüpfungen zwischen Datenpunkten durch die Kompression enger. Mit anderen Worten, die Arbeiten von RAS spielen nicht einfach nur auf Träume an, indem sie eine Reihe hypnotischer und abstrakter visueller Metaphern präsentieren, die für die Interpretation offen sind, sondern sie zeigen uns tatsächlich, was geschehen würde, wenn eine Maschine die Fähigkeit erlangte, die unterbewussten Prozesse im menschlichen Gehirn zu reproduzieren. Beispielsweise regt die Installation Archive Dreaming den Betrachter zu neuen Modi von Sinneserfahrungen an, indem es ihm Bilder zeigt, welche die Maschine ausgehend von tatsächlichem, physischem Archivmaterial, das sie vorher „gesehen“ hat, in einem halluzinatorischen Prozess erzeugt hat. Womit der handlungsmächtige Betrachter diesen latenten Raum füllt, wird unter Einsatz anderer – subjektiverer – Codes erdacht, das heißt anhand von narrativen, mythischen, linguistischen, historischen und kulturellen Interpretationswerkzeugen, mit denen er die zufälligen, aber provokanten Bilder codiert, die ihm ein künstlicher Verstand präsentiert.

Latenz als ästhetische Kategorie
Die Frage, was wir in einem gegebenen Raum rekonstruieren können, ist interessanter als die einfache physische oder metaphorische Rekonstruktion eines Raums. Ob in Archiven von Erinnerungen, Bildern, Texten oder nicht klassifiziertem virtuellem Wissen: die Möglichkeit zufälliger Verknüpfungen deutet auf die Existenz eines verborgenen Raums hin, der nicht immer allein durch die vorhandenen Strukturen und die kognitiven Funktionen des menschlichen Verstands oder der KI zugänglich ist. In vielen Interviews und Vorträgen und in seinem TED-Talk in diesem Jahr hat sich Anadol mit der Idee beschäftigt, den im Wesentlichen verborgenen latenten Raum im menschlichen Verstand sichtbar zu machen, indem man ihn im „Verstand einer Maschine“ simuliert.
Anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Philharmonie von Los Angeles entwickelte RAS eine einzigartigen Zugang, um unter Einsatz von Maschinenintelligenz die digitalen Archive des Orchesters zu nutzen und die Erinnerungen des Gebäudes in eine öffentliche Kunstinstallation zu verwandeln, die auf die Fassade von Frank Gehrys Walt Disney Concert Hall projiziert wurde. Das dynamische öffentliche Kunstwerk WDCH Dreams beinhaltete datengestützte, nichtlineare Muster, die auf dem im Lauf ihrer hundertjährigen Geschichte von der Philharmonie von Los Angeles erzeugten Datenuniversum beruhten und auf diese Art den überlappenden Räumen der Imagination, die das ikonische Gebäude zusammenhält, ein metaphorisches Bewusstsein verleihen. Wie Archive Dreams war auch dieses Projekt ein wichtiger Meilenstein in einer andauernden Untersuchung des schwer greifbaren Prozesses, in dem Erinnerungen zutage gefördert werden; zu diesem Zweck wurde der Maßstab der Untersuchung von der individuellen auf die institutionelle Ebene ausgeweitet, und die Ergebnisse wurden buchstäblich auf der Fassade des Gebäudes der Institution dargestellt. Abgesehen davon, dass WDCH Dreams das Publikum unter Einsatz von 42 Großprojektoren in ein fesselndes Lichtspektakel einband, eröffnete es einen Raum für die Spekulation über das ästhetische Potenzial solcher Repräsentationen der Latenz.
In ihrer Einleitung zu Casey Reas‘ Buch Making Pictures with Generative Adversarial Networks schreibt Nora N. Khan, dass künstlerische Experimente mit Programmcodes einen »subjektiven Interpretationsraum“ für den Betrachter erzeugen, in dem die Methode und das System weniger wichtig sind als die Möglichkeiten in diesem bedeutsamen Raum. Khan zufolge erzeugt der Künstler/Architekt dieser einzigartigen Praxis einen „Raum“ für verschiedene ästhetische Möglichkeiten. Bei RAS bringen diese Möglichkeiten KI-gestützte „latente Kinoerfahrungen“ hervor – den Begriff hat Anadol geprägt –, in denen sich Gebäude, Skulpturen, Naturbilder oder auch Musiknoten auf unvorhersehbare Art neu erzeugen, so als sehnten sie sich nach einer nicht algorithmischen Eigenständigkeit. So wie „die Zukunft der KI auf die menschliche Intelligenz angewiesen ist“ – das Zitat stammt von Dr. Thomas Ramge –, brauchen zeitgenössische Künstler wie Refik Anadol die KI, um in einen latenten Raum zahlloser Möglichkeiten vorzudringen, die neue Erwartungen der Medienkünste sowohl wecken als auch erfüllen können.
Weitere Stichworte von Pelin Kivrak über die Zukunft kreativer KI gibt es hier.