Debatte

„Pass dich an, dann überlebst du.“Das ist der Ratschlag, den der 11-jährige Arthur Goldau erhält, als seine Mutter ihn im Herbst 1963 in ein Klosterinternat in den Schweizer Bergen bringt, um zum Mann gemacht zu werden, wie es der Vater des Jungen, ein Oberst, wünscht. An einem abgelegenen Ort, an dem im September Schnee fällt und an dem die letzte österreichische Kaiserin, Zita von Habsburg, einmal im Jahr zu Besuch kommt, wird Arthur zum Zögling Nummer 230. Doch die mächtigen Mauern des Klosters, in dem sich die Zeit im Kreis zu drehen scheint, bergen ein ungeheures Geheimnis. Seit dem Zusammenbruch der Donaumonarchie im Jahr 1918 soll hier ein äußerst wertvoller Diamant aus dem habsburgischen Kronschatz aufbewahrt werden. Während Arthur und seine Freunde der Spur des Diamanten folgen, die sie in die Katakomben und tief in die Vergangenheit führt, weht hinter den Klostermauern der freie Geist der 1960er Jahre. Das Dorfmädchen Rézi weiht Arthur in die Geheimnisse der Liebe ein, und auch Dylans The Times They Are a-Changin' dringt durch die Klostergänge. 

Das für den Schweizer Buchpreis nominierte Buch, das mit Umberto Ecos Der Name der Rose verglichen werden kann, wird vom Übersetzer Michael Půček zusammen mit dem Autor historischer Romane Martin Chadima und dem Schauspieler Jan Potměšil vorgestellt. Sie sprechen nicht nur über das Schicksal der habsburgischen Schätze und darüber, wie man einen historischen Roman schreibt.

Thomas Hürlimann ist einer der bekanntesten Schriftsteller der Schweiz, dessen Bücher in 21 Sprachen übersetzt wurden. Zuerst arbeitete er als Regieassistent und Produktionsdramaturg am Schillertheater in Berlin. Seit 1980 hat er zahlreiche Theaterstücke, Kurzgeschichten und Romane geschrieben und ist vor allem durch seine umstrittene Novelle Fräulein Stark (2001, Ammann Verlag) bekannt geworden. Seine Novelle Der große Kater (1998) wurde mit dem Schauspieler Bruno Ganz in der Hauptrolle verfilmt.

Das Buch Der rote Diamant wird vor der Prager Buchmesse in Prag in tschechischer Übersetzung beim Verlag Argo erscheinen.

Leseprobe:

„Im Dorf, wo das Volk beidseitig die Hauptstraße säumte, schwoll eine Begeisterungswelle an, und schon zeigte sich im Bogen des Torwegs der Kühler mit der Kaiserstandarte und dem silbernen Doppeladler. Kerzengerade am Steuer saß Graf Erdödy, der letzte Oberchauffeur der Donaumonarchie, und trotz seines hohen Alters gelang es ihm nach einigen Brems-, Vor- und Rückwärtsmanövern, die die Köpfe der Insassen gemeinsam nach hinten, gemeinsam nach vorn kippen ließen, an der Treppe zum Abteiportal anzulegen. Die Hupe tönte wie Ferkelquieken und wurde von Ihrer Majestät höchstselbst bedient – vom Rücksitz aus, mittels Druckknopf und geringelter Elektroschnur. Das Quieken verklang. Stille trat ein. Der Pater Zeremoniar klappte in eine Verbeugung, um die hintere Wagentür aufzureißen, worauf dreihundert Kehlen, die ältesten dunkel wie Kosaken, die jüngsten hell wie Engel, der Kaiserin den Willkommensruf entboten: ‚Hurra! Hurra! Hurra!‘

Und wieder: Stille. Selbst die Raben, die hoch über dem Abteihof ihre Kreise zogen, verstummten. Nur die Fackeln setzten ein leises Brodeln in die Luft, und dann – der Stock! Aus dem Fond des kaiserlichen Automobils stocherte ein Stock hervor, dem folgte ein zierlicher Schuh und ertastete sich, von schwarzen Seidensäumen umrieselt, das letzte Stück Boden, das den Habsburgern von ihrer tausendjährigen Herrschaft geblieben war. Von den Dächern erschollen Posaunen, ein Trommelwirbel vertrieb die Raben, die Fahnen wurden zum Gruß gesenkt, und Bruder Frieder, Vizepräfekt Maria Servilius sowie Subpräfekt Walafried robbten bäuchlings auf die Kaiserin zu – Benediktiner küssten einer Apostolischen Majestät die Füße.“

Auszeichnungen und Medienecho:

- Nominierung für den Schweizer Buchpreis 2022