Mensch und Virus
Homo Erraticus

Mensch und Virus Foto (Detail): Gangis Khan © Colourbox.de

Die Natur macht keine Fehler, sie „macht“ gar nichts, sie geschieht. Den Mensch dagegen, der in seinem intentionalen Handeln Fehler macht, kann man durch diese Begabung quasi definieren – „Homo Erraticus“.

Berthold Franke

Natürlich, die Globalisierung ist schuld! Oder besser noch: der dahinter steckende Kapitalismus, oder, noch besser, die menschliche Gier nach Profit, der wir die globalen Lieferketten zu verdanken haben. Oder vielleicht doch eher der Fleischkonsum beziehungsweise die Tierhaltung, die dazu führte, dass das Virus von der Fledermaus auf das Schuppentier, den Marderhund und dann auf den Menschen übersprang. Oder ein Laborfehler: Na klar, die Chinesen sind schuld, oder Bill Gates oder wahlweise die Juden. Eine Verschwörung jedenfalls. Jede Menge schöne Fehlerquellen, such dir eine aus.

Wahrscheinlich war es jedoch ganz banal – die Natur. Eine Mutation zum Beispiel, die „fehlerhafte“ Kopie eines Genoms, was ja gewissermaßen die Mutter aller Fehler ist. Und der wir nichts Geringeres zu verdanken haben als die Evolution. Mithin alles „Neue“, was die Biosphäre je gesehen hat. Allerdings, im engeren Sinn macht die Natur keine Fehler, sie „macht“ gar nichts, sie geschieht. Den Mensch dagegen, der in seinem intentionalen Handeln Fehler macht, kann man durch diese Begabung quasi definieren – „Homo Erraticus“.

Wobei zwischen zwei klassischen Fehlersorten zu unterscheiden wäre: Fehler entstehen aus bewusstem Handeln, oder sie entstehen aus Unterlassung. In unserem Fall, wenn man die Globalisierung als für die Pandemie grundlegende Fehlerkonstellation annimmt, handelt es sich wohl um einen Unterlassungsfehler, denn „die Globalisierung“ ist ja niemals als Gesamtverhältnis operativ installiert worden. Sie hat sich vielmehr aus einer Vielzahl von interessengetriebenen Einzelentscheidungen und Operationen eingestellt, woraus sich auch erklärt, dass sie, obwohl von Menschen gemacht – und also auch wieder revidierbar –, den neoliberalen Ideologen immer als ein quasi natürliches Phänomen erschienen ist.

Wir haben also, Fehler Nummer eins, die Globalisierung geschehen lassen und müssen nun die nicht intendierten „Risiken und Nebenwirkungen“ in Gestalt der Pandemie gewärtigen. Dabei erweist sich das Ganze als Fehlerkette: Dachte man bisher, Fehler Nummer zwei, auf Seiten der Globalisierungsprofiteure, man könne die längst schon zutage getretenen unangenehmen Folgen der Globalisierung wie die neuen Formen sozialer Ungleichheit oder ökologische Katastrophen dauerhaft externalisieren, belehrt uns das Virus in seiner egalisierenden Allgegenwärtigkeit über die besondere Qualität der globalen Nachbarschaft, nämlich die Interdependenz der ökonomischen und sozialen Systeme.

Dass die Pandemie als Kollateralschaden der Globalisierung einige von deren fehlerhaften Seiten brutal offenlegt, zeigt sich an vielen Phänomenen mangelnder Resilienz der hoch arbeitsteiligen Zivilisationen. Am deutlichsten wohl daran, dass, wenn wir nur für begrenzte Zeit alles Überflüssige nicht tun und kaufen dürfen, unsere gesamte Wirtschaft zusammenbricht. Womit wir wieder bei der Fehlerquelle Gier wären. Diese führen manche der erwähnten neoliberalen Ideologen auf ein „ewig-menschliches“, egoistisches Hauptmotiv des als Einzelkämpfer konzipierten „Homo Oeconomicus“ zurück. Noch gefährlicher wird diesem in Zeiten des Virus allerdings eine andere Eigenschaft.   

„Homo Erraticus“ ist nämlich nicht nur ein gieriges, sondern ein grundsätzlich soziales, kooperierendes Wesen, das die Nähe zu seinesgleichen sucht, womöglich sogar eine Nähe unter 1,50 Metern. Menschen begegnen sich, sind einander nahe, sie wären sonst nicht überlebensfähig. Und ab einem gewissen Entwicklungsstand der Zivilisation begegnen sie sich auch in großen Gruppen, tauschen Waren und Viren, Worte und Ideen, inhalieren und exhalieren in geteilten, aerosolgesättigten Räumen. Kein Zufall, dass die Geschichte der Globalisierung auch eine Geschichte der Seuchen ist. So wurde die Syphilis von den Seeleuten des Kolumbus aus Amerika nach Europa eingeschleppt, die Cholera kam im 19. Jahrhundert aus dem Ganges-Tal in Indien, wohin schon lange zuvor die Pocken eingewandert waren. Wahrscheinlich mitgebracht von Händlern aus dem alten Ägypten. Die menschlichen Fehler, die diesen Infektionen zugrunde lagen, waren den Überträgern nicht bekannt. Sie nahmen die dadurch ausgelösten Plagen hin als göttliche Strafen, nicht als Kollateralschaden des eigenen Tuns.

Ein weiteres kollaterales Ereignis der globalen Handelsströme sind seit der Antike die Begegnung und Konfrontation von Kulturen. Auch Kulturen können „viral“ sein, sie können „anstecken“, im positiven – Faszination des Fremden! Lernen von den Anderen! – wie im negativen Sinne – koloniale Auslöschung durch importierte Kultur! Und genau so kommt das Neue in die Welt, denn dieses Neue ist im elementaren Sinne – Kultur. Die ist aber niemals unschuldig und keineswegs immer Teil der Lösung, sondern nicht selten das Problem, wie die aktuellen Wellen einer globalen „Infodemie“ zeigen, in denen sich die alte menschliche Sehnsucht nach Dummheit in Form von Corona-Verschwörungsmythen Bahn bricht.

Was an positivem Neuen hat die Corona-Krise bisher gebracht? Manche sagen, die neue Konferenz-Software „Zoom“ oder das Home-Office; ich persönlich hingegen würde eher die Zeit für einige gute Bücher und die Bekanntschaft mit der wunderbaren TV-Serie The Marvelous Mrs. Maisel nennen. Aber es könnte am Ende auf mehr hinauslaufen: eine neue Wertschätzung des vorsorgenden Staats oder die Neubewertung der globalen Lieferketten und der Risiken des kostensparenden „Lean Managements“? Bestenfalls ein neues, kritisches Bewusstsein der auch im Zeitalter von Wissenschaft und Technik immer gegebenen Fallibilität der menschlichen Existenz, kurz: mehr Demut.

Wenn man hier genauer hinschaut, zeigt sich, dass die innovative Kraft des Virus wohl kaum darin besteht, wirklich Neues zu schaffen, sondern darin, vieles vom „alten Neuen“, dessen zweifelhafte Vorzüge uns eigentlich schon länger klar waren, in Frage zu stellen und wieder aus der Welt herauszubringen: Billigflüge, Kreuzfahrten, die Ölindustrie zwischen Aramco und Alaska und den durch Milliarden-Einkünfte korrupt gewordenen Profi-Fußball als erstes bitte.

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