Musik
„Fehler sind Partner – keine Gegner“
Ein falscher Akkord oder ein übersteuerter Verstärker: Die Musiker*innen Charlotte Greve und Markus Mehr ergründen mit Musikjournalist Andi Hörmann, inwieweit vermeintliche Fehler ein Musikstück erst spannend machen. Unsere Chatdebatte beschäftigt sich mit harmlosen Fettnäpfchen und unverzeihlichen Fauxpas in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen.
Andi Hörmann (15:00):
Nun dann! Ich bin Andi Hörmann, Musikjournalist. Hallo Charlotte, hallo Markus. Wollt ihr euch bitte kurz vorstellen?
Hallo, mein Name ist Markus Mehr, ich lebe in Augsburg und mache experimentelle Musik.
Charlotte Greve (15:02):
Gerne – ich bin Charlotte Greve, Saxophonistin und Komponistin. Ich komme ursprünglich aus der Nähe von Hamburg, habe sechs Jahre in Berlin gelebt und lebe und arbeite seit acht Jahren in New York. Ich spiele hauptsächlich Jazz und jazzverwandte Musik.
Andi Hörmann (15:03):
Unser Thema heute ist „Fehler in der Musik“. Gibt es in eurer Musik so etwas wie „Fehler“ (Ich setze das mal in Anführungszeichen)?
Es gibt auf jeden Fall viele Fehler – vor allem die in Anführungszeichen – ich hatte sowohl live auf der Bühne als auch beim Komponieren viele Begegnungen mit der Art von Fehlern, die am Ende zu einem besseren Ergebnis geführt haben.
Markus Mehr (15:04):
Jede Menge! In meiner Musik ist der Fehler ein fest einkalkuliertes Plug-in, wie eine Software, auf die ich nicht verzichten kann. Da ich nicht mehr mit Instrumenten arbeite, sondern weitestgehend mit Field Recordings, geht die Fehlerkette schon bei der Soundbeschaffung und-erzeugung los.
Andi Hörmann (15:07):
Fehler klingt ja erst mal negativ. Das ist ein Problem. Charlotte, du schreibst es schon. In meiner journalistischen Auseinandersetzung mit dem Thema ist mir der „Fehler“ sehr oft als etwas Positives begegnet. Also, der akustische Fehler als etwas, der etwas Besseres, anderes, Neues hervorlockt?
Auf jeden Fall! Beispielsweise komponiere ich oft am Computer, tippe eine im Voraus komponierte Skizze ein und dabei passieren im Zufall Fehler, die häufig die entscheidende Variante in die Komposition bringen, die im „Original“ eigentlich noch gefehlt hatte. Meist ist das nur eine Abweichung von einer einzelnen Note – daraus kann dann aber wieder etwas ganz Neues entstehen.
Vielleicht sollten wir unterscheiden zwischen live und im Studio: Beim Komponieren lässt sich der Fehler ja ausmerzen oder als Inspiration verwenden. Aber live, Charlotte, wie ist es da als Jazzerin?
Andi Hörmann (15:12):
In deiner Musik, Markus, scheint mir der Fehler Programm zu sein: Soundscapes. Vielleicht auch das „fehlerhafte Bedienen“ von Instrumenten. Undenkbar, ohne die akustische Unschärfen! Oder?
Ich empfinde Komponieren, ob mit Instrumenten oder mit Field Recordings, oft wie das in die Luft Heben eines Keschers. Und man checkt nach einer Weile, ob einem ein hübscher Schmetterling ins Netz ging. Wirklich kalkulierbare Fähigkeiten habe ich da noch nicht entwickelt …Makel, Unzulänglichkeiten oder – wie du es nennst – Unschärfen machen Musik erst interessant. Perfekt ist ja langweilig.
Andi Hörmann (15:14):
Okay, damit hast du die Antwort auf meine Frage eigentlich schon vorweggenommen. Danke. In Interviews habe ich von Musiker*innen genau das gehört, dass es viel zu oft das langweilig Richtige gibt, sodass man als Hörer*in große Lust auf einen Fehler bekommt.
Genau, es gibt auch kein wirkliches Gegenüber für das Wort „Fehler“ im deutschen Sprachgebrauch. Richtig oder korrekt vielleicht – aber wer will in der Kunst aus ästhetischer Sicht schon etwas „Richtiges“ oder gar „Korrektes“ machen?
Charlotte Greve (15:15):
Da stimme ich zu und tatsächlich kann ich bestätigen, dass viele Fehler oft zum festen Bestandteil einer Komposition wurden und sie, wie gesagt, meist verbessert haben. Live-Fehler zum Beispiel führen auch oft erst zum Entpuppen von dem, was die Komposition eigentlich sein will oder kann. Was man beim Komponieren noch nicht wusste, kann durch diese, manchmal „kollektiven Fehler“ in der Band erst zum Vorschein kommen.
Andi Hörmann (15:16):
Die Möglichkeit des Fehlers ist also auch im Live‑Zusammenspiel ein Kitt, ein Zusammenschweißen mit den Mitmusiker*innen. Interessant. Der Musiker, Autor und Journalist Thomas Meinecke hat in einem Interview mal den schönen, fast schon philosophischen Satz gesagt: „Musik hat immer recht, nur ich kann versagen.“ Wie seht ihr das?
Das ist ein super Satz und er appelliert an die universale „Macht“, die Musik hat. Ich denke oft, dass wir Musiker*innen eben die Ausübenden sind, die Musik, die dann entsteht, aber etwas Größeres, Mächtigeres ist – gerade im Zusammenspiel mit anderen.
Markus Mehr (15:19):
Hm, Versagen ist aber auch negativ belegt … Das ist auf der Bühne, vor Publikum, das im besten Fall auch noch bezahlt hat, nichts Wünschenswertes. Beim Entstehenlassen von Musik gibt es aber aus meiner Sicht kein Versagen. Umwege und Sackgassen ja – aber Versagen?
Charlotte Greve (15:25):
Versagen ist auf jeden Fall ein großes Wort und so oder so Ansichtssache. Oft ist es so: Ein Konzert, bei dem ich das Gefühl hatte – extrem ausgedrückt – der Musik gegenüber versagt zu haben, kam beim Publikum extra gut an – und umgekehrt. Fehler zulassen zu können und vor allem in dem Moment weiter „nach vorne“ zu denken, ist eine große Kunst.
Andi Hörmann (15:32):
Aber auch ihr beiden habt doch mal angefangen, ein Instrument zu lernen, oder? Nun etabliert ihr euch mit eurer Musik, habt Erfolg damit, aber was sagen wir denjenigen, die von klein auf ein Instrument lernen? Üben, üben, üben. Die Lehrer*innen schütteln den Kopf, wenn es Verspieler gibt. Ich kann mich sehr gut an meinen Musikunterricht erinnern. Mit der Anti‑Fehler‑Autorität konnte ich nicht gut umgehen.
Kenne ich …
Charlotte Greve (15:33):
Ich denke in dem Stadium der Anfänger*innen sind es andere Fehler, von denen wir sprechen – solche, die einem später im Weg stehen können und die will man als Lehrer*in natürlich nicht festigen. Ich denke da vor allem an Fehler im Sinne von schlechten Angewohnheiten …
Markus Mehr (15:35):
Auf der einen Seite kann es sehr hilfreich sein, ein Instrument und auch Musiktheorie bis zu einem gewissen Grad zu beherrschen und zu verstehen. Es kommt immer darauf an, in welchem Feld man sich bewegt. Notwendig ist das alles nicht. Man denke da nur an Hip‑Hop. Aber auch in meiner Herangehensweise an Komposition heute spielt Theorie keine Rolle mehr. Ich folge eher einer Intuition.
Charlotte Greve (15:35):
Guter Punkt.
Markus Mehr (15:35):
Ich habe übrigens von Beginn an zu wenig geübt … Gitarre. Das bereue ich heute immer noch manchmal.
Andi Hörmann (15:35):
Oder die Anfänge von Tocotronic: Was war das für ein Gitarren-Geschrammel. Aber reizvoll. Die Band hat eigentlich erst mit zunehmendem Erfolg ihre Instrumente spielen gelernt.
Stimmt, herrliches „Unvermögen“ … das war aber egal, die Band hatte andere Vorzüge und Prioritäten. Zurück zum Fehler: Wenn jeder Fehler genommen wird, wird’s ja beliebig – das kann dann auch wieder jede*r. Ich würde es vielleicht „Kuratieren von Fehlern“ nennen.
Charlotte Greve (15:36):
Ich wurde viel mit dem Konzept unterrichtet, Regeln zu lernen, immer mit der parallelen Information, diese Regeln in dem Moment, in dem man auf der Bühne steht, wieder über den Haufen zu werfen. Ein Konzept, das in jedem Fall in Jazz und improvisierter Musik Sinn ergibt. Ja, Kuratieren von Fehlern macht Sinn! Bevor es etwas Richtungsweisendes gibt, weiß man ja auch gar nicht, was ein Fehler ist und was nicht.
Markus Mehr (15:37):
Ja, oder man denke an Bootlegs, miese Kassettenaufnahmen, auf denen kaum noch etwas zu erkennen war. Aber der emotionale Impact war zu hören, oder Kraft und Dynamik. Seele …
Andi Hörmann (15:38):
Vielleicht liegt die Schönheit im Fehler darin, dass er als akustischer Akzent seine Berechtigung in der Musik hat und haben sollte. Ich glaube, dass es auch unserer hochtechnologisierten Zeit geschuldet ist, dass wir akustische Unschärfen wieder schätzen lernen. Digital Glattgebügeltes wollen wir doch nur noch bedingt hören.
Stimme euch beiden zu. Ich denke auch an Free Jazz: Für viele Ohren klingt das nach komplettem Chaos und nach einem Meer aus Fehlern. Aber unter der Schicht, die für viele nach Fehlern klingt, liegt eine tiefe Bildung über das Instrument, die Technik und weitere Dinge. Und dann hat alles Richtung, Klarheit und Schönheit.
Markus Mehr (15:39):
Chaos, auch ein sehr gutes Wort!
Andi Hörmann (15:40):
Ja, Charlotte, weil du gerade Free Jazz erwähnst: Es ist doch ein Irrglaube, dass man im Jazz einfach drauflosspielen kann und am Ende ist es Jazz? Diese Musiker*innen müssen doch unglaublich alert und gut geschult sein – auch in der Auflösung des Fehlers.
Auf jeden Fall! Wenn man Musiker*innen, die sich viel mit freier Improvisation auseinandergesetzt haben, zuhört, wird schnell klar, wo der musikalische Unterschied zu einem Wirrwarr liegt, das komplett beliebig ist. Nichts ist beliebig. Der Großteil ist extrem wachsames Zuhören und der Musik in dem Moment beizusteuern, was sie braucht – sei es Stille oder extrem viel Sound. Dieser Prozess ist super komplex und darin liegen die Schönheit und die Spannung.
Markus Mehr (15:41):
Seit mehr als 20 Jahren gibt es nun Autotune – im Volksmund „der Cher-Effekt“ genannt – ein Werkzeug, das die schiefen Töne in Vokalperformances geradebiegt. Im eigentlichen Sinne angewandt: total langweilig, macht alles Emotionale kaputt. Aber so übertrieben wie es bei Chers „Believe“ dann eingesetzt wurde, hat es eine ganz neue Soundästhetik hervorgebracht. Madonna, Kanye West, Daft Punks „One More Time“ … Wenn man also etwas „Perfektes“ übertreibt oder „missbraucht“, kann auch das eventuell zu etwas Kreativem führen.
Andi Hörmann (15:42):
Ja, Markus, das sehe ich auch so. Genau wie das „fehlerhafte“ Bedienen von Instrumenten: Ist nicht die Gitarrenverzerrung so entstanden, dass man die Verstärker einfach bis auf Anschlag aufgedreht hat?
Stimmt, übertreibt man bestimmte Effekte, die zur Perfektion führen sollten, kann etwas ganz Neues, stilistisch klar Gewähltes entstehen.
Andi Hörmann (15:48):
Nur in der Klassik suchen wir den Fehler vergeblich – zumindest bei Aufnahmen.
Ja … aber auch hier gab es Komponisten, die sich auf die Suche machten, ich denke an Arnold Schönberg oder Stockhausen.
Charlotte Greve (15:50):
Schnitte, Schnitte, Schnitte bei den Aufnahmen. Wobei ich sagen muss, dass ich für ein Stück Musik, das komplett durchkomponiert ist, das Verlangen nach vermeintlicher Perfektion auch nachvollziehen kann. Da sind die Fehler dann vielleicht auf anderer Ebene – zum Beispiel in der Komposition selbst – versteckt.
Markus Mehr (15:52):
Ein klassisches Orchester ist in seiner Gesamtheit etwas Wunderbares. Das muss es natürlich auch geben dürfen. Ich habe aber den Eindruck, dass im Studium zur klassischen Musik schon sehr viel Drill in Richtung Perfektion steckt.
Charlotte Greve (15:54):
Ich wollte eigentlich klassische Flötistin werden, aber die Perfektion und das viele Richtig und Falsch in der Klangvorstellung und „Interpretation“ der Stücke haben mich dermaßen eingezwängt, dass ich mich auf der Bühne extrem unfrei gefühlt habe. Bei Jazz war dieser Effekt nicht da.
Markus Mehr (15:55):
… alles richtig gemacht!
Charlotte Greve (15:56):
Haha! Ein Musikschulkonzert mit zehn Eltern hat mich nervöser gemacht als ein volles Haus für eine Band, in der ich Songs gespielt habe und improvisieren konnte. Mit klassischer Musik dieselbe Freiheit zu finden finde ich aber extrem bewundernswert und faszinierend.
Andi Hörmann (15:58):
Das Thema ist unerschöpflich. Vielleicht ein schöner Schlussgedanke: besser fehlerhaft als fehlerfrei, Fortschritt durch Fehler. Oder wie würdet ihr es abschließend nennen?
Neue Wege, neue Ideen durch Fehler – Inspiration, von der man vorher nichts wusste, kommt durch den Fehler, wie ein Geschenk.
Markus Mehr (16:00):
Genau. Fehler sind Partner, keine Gegner. Ein toller Fehler am richtigen Ort … es gibt nichts Erfrischenderes und Inspirierenderes.
Andi Hörmann (16:00):
Das Unbewusste hervorspielen lassen? Denke gerade: Zum Fehler in der Musik gehört wohl auch viel Mut.
Ihn zu akzeptieren erfordert auf jeden Fall Offenheit und Flexibilität. Auch kein schlechtes Mantra für eine allgemeine Lebenseinstellung …
Markus Mehr (16:03):
Was hat man schon groß zu verlieren …
Andi Hörmann (16:04):
Vielen Dank! Es hat mir große Freude gemacht, dem Fehler in der Musik mit euch beiden noch etwas mehr auf die Spur zu kommen.