Jeden Tag steht meine Mutter vor allen anderen auf und bereitet Kaffee zu. Manchmal bäckt sie große Mengen Kesra (algerisches Fladenbrot). Ich wache spät auf. Oh, diese Freude, mit dem Duft frischen Kesras aufzuwachen, das meine Mutter so herrlich zubereitet! Abwesend setze ich mich an den Tisch, nippe ganz langsam an meinem Kaffee, so als wollte ich die Zeit anhalten.
Gierig greife ich nach dem noch heißen Kesra und beobachte gedankenversunken meine Mutter, die in aller Seelenruhe das Mittagessen vorbereitet. Ich schaue auf ihre schönen Hände und ihre Falten. Wie kann sie diese Ruhe nur genießen?Ich denke viel über Enden nach, sie ist in Gedanken immer bei den Anfängen.
Sie möchte, dass ich möglichst schnell heirate, dass ich eine Familie gründe, ein oder zwei Kinder bekomme, aber nicht mehr. Doch ich bin nicht schwanger. Immer wieder höre ich ihre stummen Fragen: „Wie kann es sein, dass du noch immer keinen Mann gefunden hast? Wie kann ein Mädchen wie du sich das ganze Jahr über zurücklehnen, statt Gelegenheiten zu suchen und zu nutzen?“ Ihr Schweigen sagt mir: „Wär‘ ich an deiner Stelle, ich würde einen Minister heiraten.“
Doch genau das war es, was mir fehlte!
Mir fällt ein, dass ich heute ziemlich viel zu tun habe. Ich werde gar nicht alles schaffen, dafür hätte ich früh aufstehen müssen. „Morgenstund hat Gold im Mund“, sagt meine Mutter immer. Doch mir ist das nicht so wichtig. Ich werde geduldig sein und tun, was ich kann. Man muss nicht alles genauestens planen angesichts der Absurditäten, die uns überall umgeben.
Ich ziehe mich um. Vor dem Spiegel trage ich etwas Kajal auf. Ich mag es, meine Augen zu betonen, in ihnen den Glanz zu sehen, der mir etwas mehr Vertrauen verleiht. Meine Mutter läuft an mir vorbei und kommentiert wie jedes Mal: „Lass die Schminke sein, mein Kind. Du bist viel hübscher ohne diese Malerei!“
Und wie jedes Mal lächele ich. Ich sammle mein Zeug zusammen: meinen Computer, meine Handtasche und anderes. Auf dem Weg zum Auto mahnt mich meine Mutter unterwegs vorsichtig zu sein und nicht wie immer so spät nach Hause zu kommen. Dann lässt sie ihre Ratschläge und murrt, ich würde zu viel arbeiten, nie zur Ruhe kommen und es wäre doch am besten, ich würde mir einen neuen Job suchen oder gleich einen Mann, der mich von all den Qualen befreit. Ich nicke. Ich habe es bereits vor langer Zeit aufgegeben meine Meinung und meine Einwände zu dem kundzutun, was meine Mutter unter Erfolg versteht. Ich finde den Gedanken sehr verstörend, dass die Ehe das Komfortabelste für mich sein soll.
Ich fahre langsam. Ich sitze in meinem kleinen, roten Auto und denke über all die Dinge nach, die ich heute erledigen muss. Mir geht durch den Kopf, dass ich zum Sonnenuntergang wieder zu Hause sein muss. Auf der Schnellstraße beschleunige ich. Ich werde den heutigen Tag damit verbringen zwischen Projekten zu pendeln, von denen keines abgeschlossen ist. Ich weiß, dass ich meine Gedanken sortieren und mich auf ein Projekt konzentrieren muss. Der Verkehr reißt mich aus meinen Gedanken. Durch das Rückfenster des Wagens vor mir lächelt mich ein Kind an. Ich lächele zurück. Ich denke daran, dass ich eine Tochter haben möchte, und dass ich sie Luisa nennen werde, nach meiner großen Schwester.
Ich möchte, dass sie so intelligent ist wie ihre Tante. Aber sie soll studieren – im Gegensatz zu ihrer Tante, die im Leben kein Glück hatte, außer mit ihrer Gesellschaft Großvater und Großmutter trösten zu können – Gott vergib ihnen – und die nie die Stadt zu sehen bekam wie meine Brüder und Schwestern zu jener Zeit.
Ich möchte, dass Luisa lernt. Und dass sie in einer Umgebung aufwächst, die sie nicht jedes Mal daran erinnert, dass sie ein Mädchen ist, wenn sie darüber nachdenkt draußen zu spielen, sich mit jemandem streitet oder sich verteidigt. Ich möchte, dass sie aus ihren Fehlern lernt und sich nicht schuldig fühlt, mit oder ohne Grund. Ich möchte, dass sie ihre Ideen verteidigt und sich selbst und anderen gegenüber ehrlich ist. Dass sie ihre Entscheidungen selber trifft und ein Leben für sich wählt, das sie glücklich macht. Ich möchte, dass sie furchtlos ist. Werde ich ihr helfen können?
Warte erst bis du ihren Vater triffst! Ich lache und versuche aus der Masse an Autos vor mir herauszukommen. Ich finde eine Lücke und denke, dass ich mit meiner Mutter doch Glück gehabt habe. Bis auf ihre Beharrlichkeit in Sachen Hochzeit. Immer hat sie mir zugehört und mir das Gefühl vermittelt, etwas Besonderes zu sein – und tut dies auch weiterhin. Nicht einen Tag hat sie mich kontrolliert. Ich konnte ihr beinahe alles erzählen, ohne ihre Reaktion fürchten zu müssen, und ihr Vertrauen in mich ist grenzenlos. Manchmal wiegt dieses Vertrauen schwer, das Gewicht nicht enden wollender Traditionen und Verbote.
Meine Mutter heiratete meinen Vater nach der Scheidung von ihrem ersten Mann. Sich scheiden zu lassen war eine mutige Entscheidung, auch wenn das Wort „geschieden“ damals noch nicht so sehr mit Ablehnung und Missbilligung beladen war wie heute. Sie heiratete meinen Vater, der sechs Söhne hatte. Ich weiß nicht, woher sie die Kraft nahm all seine Söhne großzuziehen und sich rund um die Uhr um sie zu kümmern. Und diese Fürsorge hielt an, auch als sie schließlich ihre eigenen Kinder zur Welt brachte. Natürlich zerbrach sie sich nicht über all die kleinen und größeren Dinge den Kopf, so wie ich. Sie gehört einer Generation an, die so viel arbeitet, wie sie nur kann, und zugleich großzügig ist ohne eine Gegenleistung zu erwarten.
Ich besitze nicht ein Viertel ihrer Geduld, Ausdauer und Beständigkeit. Die Wahrheit ist, ich möchte gar nicht geduldig sein, ich möchte nicht ertragen, was sie jahrelang ertrug, denn es war nicht gerecht.
Vielleicht möchte ich egoistisch sein und mir ein einfacheres Leben wünschen, vielleicht möchte ich nicht diesem Bild einer Mutter entsprechen, die sich selbst vergisst und für alles aufopfert, vielleicht möchte ich nicht, dass die Mutter sich aufopfert, bis sie sich nicht mehr um die Frau in ihr selbst kümmern kann, vielleicht gehöre ich einer gehetzten Generation an, die alles einmal will und die den Mythen und der Technologie mehr Glauben schenkt als der eigenen Mutter.
Endlich erreiche ich mein Ziel. Ich arbeite für ein paar Stunden und entscheide mich, nach Hause zurückzukehren, um von dort aus weiterzuarbeiten. Es ist bequem, sich seine Zeit frei einteilen zu können. Meine Mutter ruft an und möchte, dass ich ihr einige Dinge mitbringe. Ich schreibe alles auf. Sie sagt, ich solle mich nicht verspäten. Das ärgert mich, aber ich lasse es mir nicht anmerken und frage, ob das alles sei.
Voll bepackt kehre ich nach Hause zurück und begrüße meine Mutter mit der Hand voller Tüten. Sie kritisiert, ich würde mein Geld gedankenlos ausgeben. Dass ich damit glücklich sei, erwidere ich, und dass sich meine finanzielle Situation bald verbessern werde. Sie glaubt mir nicht, wie gewöhnlich, und ich witzele: „Bald werde ich alleine wohnen, dann werden sich meine Ausgaben verringern.“ Sie antwortet nicht darauf, womöglich gefällt ihr diese Idee nicht.
„Ich bin erschöpft. Ich möchte, dass ihr erreicht, was ich nicht erreicht habe“, sagt meine Mutter, während sie die Einkäufe aus den Plastiktüten holt, die den Küchentisch bedecken. Ich versuche, ihr zu helfen und wechsele das Thema. Ich frage, ob meine Schwester Sohaila angerufen hat, sie verneint.
Ich frage weiter: „Gibt es noch Kesra?“
Sie antwortet: „Es ist alle. Aber wenn du möchtest, kannst du dir selber eines backen.“
Ich antworte müde: „Es wird nicht so gut schmecken wie deines, aber morgen backe ich.“
Sie antwortet spöttisch: „Inshallah, wenn Gott uns so lange am Leben erhält.“
März 2018