Jordanien

Feb. 2024

Berlinale BloggerInnen 2024  3 min Dina Naser: "Für den Film Sukoun habe ich Gebärdensprache gelernt"

Malak Nasser im Film Sukoun. © Baha’ Slieman, Madd Moshawas

Hind ist ein gehörloses Mädchen. Sie trainiert Karate und hat gute Aussichten, als Teammitglied bei einer wichtigen Meisterschaft dabei zu sein. Als es jedoch zu einem Übergriff durch ihren Trainer kommt, bricht für Hind eine Welt zusammen.

Der Film Sukoun (engl. Titel: Amplified, dt. Titel: In die Stille) von Dina Naser befasst sich mit dem brisanten Thema Kindesmissbrauch, genau genommen mit dem Thema Missbrauch behinderter Kinder. Ich habe mich mit der Regisseurin und mit Batoul Ibrahim, der den Film zusammen mit Dina Naser produziert hat, über die Entstehung des Films, die technische Umsetzung und die Teilnahme an der diesjährigen Berlinale in der Sektion Generation unterhalten.
 
 
Warum dieses Thema?

Aus verschiedenen Gründen. Vor allem weil es ein wichtiges und nicht ganz unproblematisches Thema ist, insbesondere bei uns in der arabischen Gesellschaft. Es gibt Werke über sexuelle Übergriffe, aber da geht es, so weit ich weiß, nicht um Übergriffe auf Kinder. Das zeigt schon, wie heikel das Thema ist. Und gehörlose Menschen kommen in arabischen Filmen so gut wie gar nicht vor. Für mich waren also alle Faktoren wichtig: Das Thema, die Figur, die Darstellung. All das waren Beweggründe, diese unausgesprochenen Dinge endlich einmal zur Sprache zu bringen.

Das Thema erfordert sehr viel Fingerspitzengefühl, in jeder Hinsicht. Wie habt ihr das hingekriegt?

Ich habe mir Zeit gelassen, habe versucht, die Welt zu verstehen, in die ich da eintauche. Ich habe Gebärdensprache gelernt und die wichtigsten Grundregeln im Umgang mit gehörlosen Menschen. Ich lernte meine zwölfjährige Hauptdarstellerin Malak Nassar kennen. Noch nie in meinem ganzen Leben ist mir ein derart begabter und feinfühliger Mensch begegnet. Das ging teilweise so weit, dass ich wegen ihrer enormen Intelligenz und Konzentrationsfähigkeit manchmal schlichtweg vergessen habe, dass sie nichts hört. Ich habe auch Sayfadin Saleh kennengelernt, einen Gebärdensprachdolmetscher. Er half mir, Gefühle und Gedanken zum Ausdruck zu bringen, die sich mit meinen bis dahin erworbenen Sprachkenntnissen nicht kommunizieren ließen. So viel zu Malaks Gehörlosigkeit.
Malak Nasser als Hind im Kurzfilm Sukoun.
Malak Nasser als Hind im Kurzfilm Sukoun. | ©Baha’ Slieman/ Madd Moshawas
Die Tatsache, dass sie außerdem ein Kind ist, bedeutete, dass es oberstes Ziel sein musste, zwischen ihr und uns eine Atmosphäre der Geborgenheit zu schaffen, in der alles offen ausgesprochen werden konnte. Malak sollte jederzeit das Gefühl haben, dass sie sagen kann, ob ihr etwas gefällt oder nicht, was auch immer es sein mochte. Wenn auch nur die kleinste Kleinigkeit für sie nicht stimmig war, haben wir das sofort geändert. Malak war sehr an dem Thema interessiert und auch sehr betroffen, denn sie hatte zwar persönlich noch nie einen solchen Übergriff erlebt, aber schon davon gehört. Weil sie so intelligent ist, verstand sie sehr schnell, dass Behinderte leichter zu Opfern werden, weil sie nicht erzählen können, was ihnen widerfahren ist. Sie hat verstanden, weshalb der Film so wichtig ist, und alles gegeben, damit er ein Erfolg wird, von dem auch die Gehörlosengemeinschaft profitiert.

Batoul Ibrahim: Wir sind das Drehbuch erst einmal nur mit ihr allein und dem Gebärdensprachdolmetscher durchgegangen, ohne dass andere Gehörlose aus Malaks Umfeld oder Angehörige von ihr dabei waren. Malak stellte Fragen zur Übergriff-Szene, auf die wir eingingen. Wir wollten erst einmal nachspüren, wie sie das selbst empfindet, völlig unbedarft, ohne dass sie dabei von ihrem gewohnten Umfeld oder ihrer Familie beeinflusst wird. Dann organisierten wir ein Treffen zwischen den Angehörigen und Nadeem Al-Rimawi, der den übergriffigen Trainer spielt, damit er sich besser an diese schwierige Rolle gewöhnen konnte.

Wie war das Verhältnis zu den Gehörlosen? Beschränkte sich das nur auf die Dreharbeiten?

Sie ließen uns an ihrer Welt teilhaben und wir ließen sie an unserer teilhaben. Vier der Gehörlosen wirkten als Trainingspartner an der Produktion mit und sie erfuhren dabei, wie ein Film gedreht wird. Und das gesamte Filmteam begab sich auch gezielt in die Gehörloseneinrichtung, um allen zu erklären, wie eine Filmproduktion vonstatten geht und welche Funktion jeder einzelne und jede einzelne von uns dabei hat. Ich hoffe, wir konnten den Gehörlosen etwas Zuversicht schenken, dass sie vielleicht mal selbst in der Filmbranche arbeiten werden, entgegen der landläufigen Praxis, Behinderte zum Nichtstun zu verdonnern.

Wir haben versucht, ihnen zu helfen, ihre Geschichten zu erzählen. Wir haben die digitale Plattform Masmūc eingerichtet, von und für Gehörlose, damit sie sich per Gebärdensprache untereinander austauschen können. Dann haben wir ein etwa einmonatiges Trainingscamp organisiert, wo Malak, Nadeem und die Schauspielerin Suhad Khatib, die im Film Malaks Mutter spielt, einander kennenlernen und miteinander proben konnten. Die Darsteller haben dort auch einen Karatekurs zusammen gemacht. Jeder und jede hat von diesem Trainingscamp profitiert, am meisten wir als Regie- und Produktionsteam.
Suhad Al-Khatib spielt die Rolle des Karate-Trainers, der Hind, gespielt von Malak Nasser, belästigt.
Suhad Al-Khatib spielt die Rolle des Karate-Trainers, der Hind, gespielt von Malak Nasser, belästigt. | © Baha’ Slieman, Madd Moshawas
Das Sounddesign ist ein elementarer Faktor im Film. Wie war das mit der Tongestaltung bei Sukoun?

Uns war von Anfang an klar, dass Bild und Ton hundertprozentig zueinander passen müssen. Es ging uns in erster Linie darum, sich der Welt von Hind anzunähern und ihrer Art, die Welt optisch und akustisch wahrzunehmen. Wir wollten verstehen, wann sie mit der Außenwelt in Kontakt steht und wann sie sich in ihre innere Welt zurückzieht. Durch medizinische Tests haben wir geprüft, welche Frequenzen Malak hören kann und welche nicht. Das war wichtig, um verstehen zu können, wie sie die Dinge wahrnimmt, damit wir dieses Wissen so einsetzen, dass die Story funktioniert. Dann kam die Sounddesignerin Ensieh Maleki ins Spiel, die sofort verstanden hat, was wir wollen. Wir haben manchmal zwei, drei Stunden lang miteinander telefoniert. Sie war die einzige Sounddesignerin, die nachvollziehen konnte, worauf ich hinaus wollte. Im Gegensatz zu anderen Sounddesignerinnen und Sounddesignern schlug sie keine technischen und digitalen Lösungen vor, die mir irgendwie unecht vorkamen. Ensieh ist es gelungen, uns über den Sound mitzunehmen in Hinds Welt, so wie sie wirklich ist.
Berlinale blogger Ahmed Shawky with Batoul Ibrahim (producer, in the middle) and Dina Nasser (director & producer) in Berlin.
Berlinale blogger Ahmed Shawky with Batoul Ibrahim (producer, in the middle) and Dina Nasser (director & producer) in Berlin. | ©Mohamed Tarek
In all den Jahren, die ich nun schon auf der Berlinale bin, hat es arabische Filme in allen mögliche Sektionen gegeben, aber nicht in der Sektion Generation. So weit ich mich erinnere ist das ein Novum. Wie fühlt sich das an, wenn euer Film jetzt auf der Berlinale gezeigt wird?

Die Sektion Generation ist eine echte Offenbarung gewesen. Zum einen waren da die Kinder im Publikum, die völlig ungefiltert und vorurteilsfrei ihre Gefühle kundtun. Und zum anderen waren da die ernsten und gewagten Themen, mit denen man Kinder in dieser Sektion konfrontiert. Ich dachte, Sukoun ist vielleicht ein schwerer Stoff, das werden die Kinder bestimmt nicht mögen. Ich war überrascht von ihren Reaktionen und ihren Fragen, an denen man erkennen konnte, dass sie den Film durch und durch verstanden haben. Die Kinder haben Malak sofort ins Herz geschlossen. Als sie aufs Podium kam und ihnen klarmachte, dass sie den Applaus nicht hören kann und dass die Kinder per Handzeichen signalisieren sollen, ob sie Malak gut gefunden haben, kamen lange Zeit ganz viele Handzeichen. Heute würde ich sagen, dass diese Sektion vielleicht die wichtigste von allen ist. Mir ist klar geworden, wie wichtig es ist, mit unseren Kindern über wichtige Themen im Leben zu sprechen, über Liebe, über Sex, über Mobbing und sogar über den Tod. Und mir ist auch klar geworden, dass die Kinder, wenn sie merken, dass man sie im Gespräch ernst nimmt, überraschend viel Bewusstheit, Verständnis und Empfänglichkeit zeigen.

Batoul Ibrahim: Man muss auch den Veranstaltern große Anerkennung aussprechen, für die exzellente Auswahl und dafür, dass sie uns und unseren Entscheidungen so viel Respekt entgegengebracht haben. Selbst als wir vor der Filmvorführung mit einer kleinen Aktion darauf aufmerksam gemacht haben, dass wir für einen Waffenstillstand in Palästina eintreten, haben sie uns unterstützt. Nichts ist passiert, worüber wir betrübt sein müssten. Die Berlinale war eine tolle Erfahrung für uns.