Noch die Einzige im Dorf

Eine junge Frau mit Surfbrett kommt aus dem Meer © Med Lebsat 

Khadija kommt aus Taghazout, dem Surfparadies im Süden Marokkos. Und doch ist sie die einzige junge Frau aus dem Dorf, die surft. Aber: Die Dinge ändern sich gerade. 

Viel los an diesem Morgen auf der Klippe hoch oben über dem Atlantik im Süden Marokkos. Camper, Transporter, Autos mit Dachträgern und jede Menge Surferinnen und Surfer , die hierher gekommen sind, um gleich hinuntersteigen zum Strand.  

Vorher heißt es jedoch, Ausschau zu halten und zu sehen, wo die besten Wellen sind. So stehen nun auch das Mädchen Khadija und der junge Mann Redouane am Rand der Klippe, schauen hinunter auf die dunkelblaue Weite bis zum Horizont und beobachten, wie sich die Wellen bewegen. 
Eine junge Frau am Strand mit Surfbrett, Gesicht zum Meer

Von hier oben aus, sagt Redouane, 29 Jahre alt, nicht sehr groß, athletischer Körper und Kurzhaarschnitt, könne man die Wellen besser lesen. Das sei immer das Erste, was man bei der Ankunft an einem Spot machen müsse.  | © Med Lebsat

Während es zum Baden hier zu kalt ist, sind wohl mehr als 200 Surfer an diesem Samstag Ende November am Plage Tamri, denn hier gibt es heute die besten Wellen - Touristen aus dem Ausland und Einheimische, zu ähnlichen Teilen. 
Ein Strand von oben

Der Plage Tamri zur Mittagszeit. Inzwischen essen die meisten ihr Sandwich.  | © Med Lebsat

Ein paradiesischer Strand mit feinstem Sand, rund eineinhalb Kilometer lang und fast hundert Meter breit, rund 50 Kilometer nördlich von Agadir und 30 Kilometer nördlich der Fischerdörfer Taghazout und dem benachbarten Tamraght. Aus diesen Dörfern sind heute die meisten der Surfer hierher gekommen, denn auch die Touristen finden dort Unterkunft. Khadija und Redouane sind von hier, sie stammt aus Taghazout, er aus Tamraght. 

Noch trägt Khadija weiße Hosen, Hoodie und einen Baumwoll-Hijab. Dann aber geht sie zurück zum Auto und holt einen Surfponcho aus ihrem Rucksack. Ein weit geschnittener, geschlossener Bademantel mit kurzen Ärmeln und Kapuze. Sie lässt die Autotür offen, steht etwas gekrümmt zwischen Tür und Karosserie, und zieht sich mit aufgesetzter Kapuze um.  

Ein paar Augenblicke später trägt sie einen Neoprenanzug, darüber ein schlichtes, graues T-Shirt und einen Schwimm-Hijab aus Polyester. Wie eine Badekappe, die aber nicht nur den Kopf, sondern auch den Hals bedeckt. Den brauche sie, denn ihr normales Kopftuch sauge sich sonst voll mit Wasser. Wie es aussieht, surfen hier heute sonst keine Frauen und Mädchen mit Schwimm-Hijab. 
Profil: Khadija

Khadija ist 19 Jahre alt und gerade in ihrem letzten Schuljahr. Fremden sieht sie nur kurz in die Augen, manchmal lächelt sie zurückhaltend, fast schüchtern. Sie spricht Tamazight, die Sprache der Amazigh, oder auch: der Berber, wie die einheimischen Ethnien im Maghreb bezeichnet werden. Wenn sie bald ihr Baccalauréat abgeschlossen haben wird, sagt sie, möchte sie sich in Agadir zur Rezeptionistin ausbilden lassen. Das wünsche sie sich als ihren Hauptberuf. Und als Nebenberuf: Surflehrerin. | © Med Lebsat


Sie ist eine von wenigen in ganz Marokko, wo nicht viele Frauen und Mädchen surfen, schon gar nicht hier im Süden. Mehr weibliche Surferinnen lassen sich im Norden des Landes beobachten, besonders an den Ständen von Casablanca oder der Hauptstadt Rabat. In der Fédération Royale Marocaine de Surf, also im nationalen Surfverband, sind derzeit 177 weibliche und 1516 männliche Surfer für Wettkämpfe registriert.  In Taghazout ist Khadija derzeit das einzige Mädchen, das surft. 

Das kleine Fischerdorf mit rund 5000 Einwohnern ist, trotz der vielen Surftouristen aus aller Welt, ein Ort, in dem Traditionen noch wichtig sind. Fünfmal täglich ertönt aus den Lautsprechern Moscheen der Muezzin-Ruf, der die Menschen zum Gebet einlädt. Die Männer spazieren dann im Gandoura, ihrem traditionellen Gewand, in die Moschee, die Frauen beten zu Hause. 

Das Fischerdorf Taghazout © Adobe Stock

An fast jeder Straßenecke verstecken sich kleine Lebensmittelläden, Supermärkte gibt es keine. Quer durch das Dorf führt die Hauptstraße. Auf der Seite, die sich zum Meer hin ausbreitet, reihen sich kleine Cafés, Restaurants und Surf-Shops aneinander. Auf der anderen Seite des Dorfes führen Wege und Gassen einen steilen Hügel hinauf. Dorthin, wo sich die Wohnhäuser der Einheimischen und die Hostels für die Surf-Touristen befinden. Auch Khadija wohnt dort. Ihr Vater ist, wie die meisten Männer hier, Fischer, die Mutter Hausfrau. 

Und dennoch erlaubten die Eltern ihrer Tochter, als diese 11 Jahre alt war, zum ersten Mal mit einem Surfbrett ins Wasser zu gehen. Obwohl die Familie eigentlich sehr traditionell ist. Und obwohl Surfen ziemlich teuer ist. Umgerechnet knapp 15 Euro pro Tag kostet es, sich ein Brett samt Equipment auszuleihen, für hiesige Verhältnisse enorm viel Geld. Noch sehr viel teurer wäre es, selbst eine Ausrüstung zu kaufen. 

Ungerechnet rund 15 Euro am Tag für Board und Equipment 

Aber Khadija hat Glück. Von Anfang an durfte sie sich ihr Equipment kostenlos ausleihen, bei der Tadenga Surf Academy, zehn Gehminuten von ihrem Elternhaus entfernt. Dort erhielt sie auch kostenlosen Unterricht - so wie einige wenige Kinder und Jugendliche aus dem Dorf. „Das ist unsere Art, der Community zu helfen“, sagt ein Mitarbeiter der Academy in akkuratem Marketingsprech.  Die Academy, ein mit Tropenholz verkleideter Bau mit Meerblick-Terrasse, befindet sich auf dem Gelände einer international bekannten Hotelkette. Der Zaun, die Schranken, die kostenpflichtigen Parkplätze, die Securityleute, die einen kritisch von oben bis unten mustern, lassen nicht unbedingt auf große Bemühungen schließen, Einheimischen und ihrer „Community“ zu helfen. Die Academy ist in erster Linie eine kommerzielle Surfschule inklusive Verleih und eigenem Fitnessstudio, wo Khadija noch heute mehrmals in der Woche trainiert. 

Khadija: vor 8 Jahren das erste Mal auf dem Surfboard 

Ihren ersten Unterricht hatte Khadija mit 11 Jahren gleich hier am Strand. Damals war sie eines von zwei Mädchen in einer Gruppe von zwölf Kindern. Ihr Lehrer: Redouane Regragui. Er selbst stand bereits mit acht Jahren erstmals auf dem Board. Inzwischen ist er Profisurfer und zweifacher marokkanischer Meister im Short- und Longboard.  
Khadija mit ihrem Schwimm- und Surflehrer Redouane

„Anfangs hatte Khadija Angst vor dem Meer", sagt er. Wie fast alle Kinder hier, konnte sie nicht schwimmen. Redouane brachte es ihr bei. | © Med Lebsat

„Anfangs hatte Khadija Angst vor dem Meer", sagt er. Wie fast alle Kinder hier, konnte sie nicht schwimmen. Redouane brachte es ihr bei. 

Im Fitnessraum der Academy hat Khadija vor ein paar Jahren auch Maryam el Gardoum kennengelernt. Ab und zu surfen die beiden gemeinsam. El Gardoum, 26 Jahre alt, ist fünffache marokkanische Meisterin und betreibt im Nachbarort Tamraght die wohl einzige Surfschule Marokkos, die von einer Frau geleitet wird. El Gardoum war eine der ersten bekannteren Profisurferinnen Marokkos: eine Pionierin des Surfens. 

Inzwischen, sagt sie, seien die Familien in Marokko liberaler geworden im Vergleich zu vor zehn Jahren. Jetzt könnten einige Mädchen ihre Träume verwirklichen. Die Dinge veränderten sich gerade. In den Dörfern in den Bergen hingegen müssten noch immer viele Mädchen vorzeitig die Schule verlassen und so schnell wie möglich heiraten. 
Profil: Maryam el Gardoum

Maryam el Gardoum in einem Café, rund 500 Meter entfernt von einem beliebten Surfspots, einem sogenannten Pointbreak: Devil’s Rock.  | © Med Lebsat

Maryam el Gardoum, lange, offene und von der Sonne gebleichte Haare, trägt keinen Hijab. Obwohl sie gläubig ist. Obwohl sie aus einer religiösen Familie kommt. „Ich mache die Dinge, die ich machen muss: Beten und Fasten.“  

Wenn sie Hijab tragen würde, sagt sie, dann müsste sie auch die anderen Regeln einhalten: Sie dürfte etwa ihre männlichen Freunde nicht mehr berühren, sie nicht einmal freundschaftlich umarmen. Aber wer weiß, vielleicht werde sie eines Tages doch den Hijab tragen, sagt sie. „In meinem Inneren habe ich das Gefühl, dass ich es eines Tages tun werde.“ 

Khadija hingegen fühlt sich sehr wohl mit Hijab. Und den könne sie ja auch beim Surfen tragen. Ein paar Familien ihrer Freundinnen erlaubten ihren Töchtern das Surfen nicht, weil sie denken, diese müssten sich dann auch in ihrer Kleidung den Ausländerinnen anpassen. „Aber das stimmt doch gar nicht.“ 

Prophet Mohammed wollte, dass Kinder Schwimmen lernen 

Im Übrigen, so sagt wiederum Maryam el Gardoum, habe bereits der Prophet Mohammed den Eltern geraten, ihren Kindern das Schwimmen beizubringen, genau wie das Reiten. Und er habe nicht von Söhnen gesprochen, sondern von Kindern. Weitergedacht: Wenn Kinder schwimmen dürfen, dann dürfen sie auch surfen. Trotzdem, sagt el Gadoum, gebe es ein paar verrückte Eltern, die nur die Jungen surfen lassen. Sie wirkt grantig, wenn sie darüber spricht; so, als wäre sie solche Diskussionen leid. „Es sind Kinder, also Jungen und Mädchen!“. 

An diesem Morgen steigen Redouane und Khadija nun mit ihren Longboards unter dem Arm den steilen, unebenen Weg die Klippen hinunter zum Strand.  
Redouane deutet Richtung Meer und erklärt das Verhalten der Wellen, Khadija hört aufmerksam zu.

Redouane deutet Richtung Meer und erklärt das Verhalten der Wellen, Khadija hört aufmerksam zu. Er surft heute auf einem Shortboard, Khadija auf einem Longboard.   | © Med Lebsat

Unten angelangt, fixieren sie sie ihre Leash, das Kabel, das Board und Körper verbindet, mit dem Klettverschluss am Knöchel, während Redouane Khadija noch einmal erklärt, worauf sie achten muss. 

Dann gehen sie ins Wasser. Sie legen sich auf ihre Boards, paddeln hinaus bis zu der Stelle, die sie zuvor von oben ausgemacht haben. Endlich sitzen Redouane und Khadija auf dem Tail, dem hinteren Teil ihrer Boards, und warten auf die Wellen. 

Khadija surft im Meer © Med Lebsat

Die erste Welle: Khadija dreht schnell ihr Board und paddelt los, Redouane hinterher. Er gibt ihr von hinten einen Push, um schneller zu werden. So schnell wie die Welle selbst. Der Pop-up, das Aufstehen, funktioniert nicht, Khadija fällt in die Welle. 

Die zweite Welle: dieses Mal ohne Push. Khadija drückt sich mit den Armen hoch wie beim Liegestütz, setzt beide Füße aufs Board und kommt erst problemlos in die Hocke, dann richtet sie sich langsam auf. Ein paar Sekunden gleitet sie auf der Welle, dann plumpst sie ins Meer.  Als Redouane die erste Welle nimmt, ist sofort klar: ein Profi. Immer wieder holt er neuen Schwung, springt über einen halben Meter in die Luft und reitet die Welle trotzdem weiter. Macht 180-Grad-Drehungen. Ändert ständig die Richtungen. Reitet die Wellen meistens bis zum Strand. Akrobatik auf dem Board. 

Ungefähr auf Höhe von Khadija und Redouane reißt eine Welle jemanden mit. Ein paar Meter vor dem Ufer taucht die Person auf. Ihr Kopf ist von rotem Stoff umhüllt. Die nächste Welle kommt, die Person taucht ab. Dann taucht sie wieder auf, nimmt das Board und geht wenige Schritte Richtung Strand. 

„Ich habe auch gedacht, dass das eine Frau in Hijab ist“, wird Khadija später sagen, als sie aus dem Wasser stapft. „Das war aber nur ein weißer Mann, der keinen Sonnenbrand haben wollte.“ 

Am frühen Nachmittag klettern Khadija und Redouane dann wieder hinauf auf die Klippe zum Parkplatz. Während Redouane vor einem Camper auf einem Teppich neben zwei anderen Männern betet, versteckt sich Khadija erneut hinter der Autotür, wirft sich ihren Surfponcho über den Kopf und zieht sich wieder um.