Er ist in Damaskus geboren, aber in der Welt zu Hause. Statt sehnsuchtsvoll den Jugendtagen in der Heimat nachzuhängen, hat er immer nach vorn geblickt, hat der persönlichen Freiheit und allen damit verbundenen Härten, eigenen Angaben zufolge, stets den Vorzug vor der Nestwärme des familiären Umfelds gegeben.
Das Schaffen von Sadiq Jalal Al-Azm lässt sich in drei Phasen unterteilen. Die erste Phase, während der 1960er und 1970er Jahre, hat er hauptsächlich in Beirut verbracht. Während der zweiten Phase, in den 1980er und 1990er Jahren, hielt er sich vor allem in Damaskus auf. Und im Laufe der dritten Phase, ab der Jahrtausendwende, lebte er teils in Damaskus und teils an verschiedenen Aufenthaltsorten im Ausland. Analog dazu könnte man sagen, dass der aus Damaskus stammende Intellektuelle drei verschiedene Seiten hat. Eine Seite an ihm ist der Geisteswissenschaftler, eine andere Seite ist der politisch engagierte Intellektuelle und die dritte Seite ist natürlich der Mensch Sadiq Al-Azm.Der Wissenschaftler Sadiq Al-Azm hat an zahlreichen Hochschulen doziert, unter anderem an der American University (AUB) in Beirut, an der Universität Damaskus und Ende der 1960er Jahre vorübergehend auch an der University of Jordan in Amman, sowie an diversen anderen Universitäten in aller Welt. Berühmt wurde Sadiq Al-Azm aber vor allem durch seine Bücher, die nie im stillen Kämmerlein des akademischen Elfenbeinturms, sondern stets auf Tuchfühlung mit dem öffentlichen Leben und dem politischen Alltag in seinem Land entstanden sind. Seinen philosophischen Hintergrund spürt man wohl am deutlichsten im 1990 erschienen Titel difā ͨ an ͨ an al-mādīya wa-t-tārīḫ (sinngemäß: „Plädoyer für den Historischen Materialismus“), gleichzeitig wird darin aber auch ein klares politisches Anliegen formuliert, zu einer Zeit, in der sich nahezu das komplette kommunistische Lager in Auflösung befand. Nicht zuletzt daran zeigt sich Sadiq Al-Azms Affinität zum Kritizismus, zum Historischen Materialismus sowie zur Moderne und zu progressiven und demokratischen Ansätzen, und zwar in Zeiten, in denen diese Themen einfach angesprochen werden mussten.
Bereits seit seinen frühen Anfängen, unmittelbar nach dem Sechstagekrieg im Jahre 1967, galt Sadiq Al-Azms Interesse öffentlichen Belangen, wobei dieses Interesse über die Jahrzehnte hinweg immer wieder eine andere Prägung annahm: In den 1960er und 1970er Jahren standen für ihn zunächst vor allem linke Thesen, die Palästina-Frage und der Panarabismus im Vordergrund, in den 1980er und 1990er Jahren dann eher Rationalismus und Säkularismus, und gegen Ende des 20. Jahrhunderts schließlich Liberalismus und Demokratie. Die Seite des politisch involvierten Sadiq Al-Azm kam vor allem in der ersten und der dritten der anfangs beschriebenen Phasen zum Tragen. In der ersten Phase war er allerdings hauptsächlich von Aufstieg und Fall des Panarabismus beeinflusst, wohingegen er sich in jüngster Zeit wieder verstärkt als Syrer versteht. Letzteres zeigt sich zum Beispiel in seiner Rolle während des so genannten „Damaszener Frühlings“ oder als Mitglied des „Komitees zur Belebung der Zivilgesellschaft“ oder als Unterzeichner von Resolutionen und Kommuniqués syrischer Intellektueller, in denen demokratische Reformen gefordert werden. In den 1980er und 1990er Jahren trat Sadiq Al-Azm in erster Linie als Intellektueller auf. Damals richteten sich in der gesamten Arabischen Welt die Diktatoren häuslich ein, während sich der Marxismus, von dem Sadiq Al-Azm wesentlich beeinflusst war, bereits auf dem absteigenden Ast befand, nachdem den Kommunisten fast weltweit die Felle davongeschwommen waren. Bei vielen Intellektuellen geriet in dieser Zeit der politische Aspekt ihrer Arbeit eher in den Hintergrund.
Berühmt wurde Sadiq Al-Azm durch sein Buch naqdu l-fikri d-dīnī („Kritik des religiösen Denkens“), das auch heute noch eifrig gelesen wird. Unmittelbar nach dessen Erscheinen im Jahre 1969 wurde in Beirut, wo er damals an der AUB unterrichtete, wegen angeblicher Verunglimpfung des Islam Anklage gegen ihn erhoben.
Unterm Strich lässt sich feststellen, dass Sadiq Al-Azm 50 Jahre lang vor allen Dingen als Intellektueller in Erscheinung getreten ist, der sich im politischen Alltag nachdrücklich zu Wort gemeldet hat.
Aufgefallen ist er während all dieser Zeit insbesondere wegen seines brillanten Stils und seiner unmissverständlichen Formulierungen, wodurch er sich von den meisten seiner Altersgenossen positiv abhebt. Eine weitere Besonderheit an ihm ist auch, dass er immer die Debatte über brisante Themen angeheizt hat, was bereits 1968 in an-naqdu d-dātīyu ba ͨ da l-hazīma („Selbstkritik nach der Niederlage“) und 1969 in naqdu l-fikri d-dīnī („Kritik des religiösen Denkens“) zum Tragen kam, sich in den 1990er Jahren in diversen Titeln über Religion und Tabuisierung religiöser Themen fortsetzte, und bis zum heutigen Tag ausschlaggebend ist, wenn er sich in die Syrien-Debatte einmischt und dabei einen Streit von ungeahnten Dimensionen auslöst, bei dem er sich nach wie vor Anfeindungen und Verdächtigungen aussetzen muss.
In einigen seiner Werke behauptet Sadiq Al-Azm, Denken müsse stets kritisch und kontrovers sein. Obwohl ihm darin nicht jedermann zustimmen wird, muss man doch sagen, dass Sadiq Al-Azm diesem Credo durchweg treu geblieben ist, indem er stets kritische und kontroverse Standpunkte vertreten und diese Standpunkte auch klar und deutlich artikuliert hat.
Sadiq Al-Azm stammt aus einer aristokratischen Familie aus Damaskus, was sicher seine säkularen Standpunkte erklärt, die, zumindest ab den 1930er Jahren, in einigen muslimischen Familien in den ehemals osmanisch beherrschten Städten Damaskus und Aleppo durchaus verbreitet waren. Später kam zu dieser säkularistischen Prägung der Eliten noch linkes Gedankengut hinzu, und Sadiq Al-Azm verstand sich im Endeffekt nicht nur als Syrer, sonder auch als Weltbürger, der sich, nach eigenen Worten, jederzeit zu einem Land, einer Stadt oder einer Kultur zugehörig fühlen konnte. Sadiq Al-Azm hat sich – mehr als die meisten anderen syrischen Intellektuellen, die lange Zeit im Westen verbracht haben – ein hohes Maß an Weltoffenheit bewahrt, ohne dass dabei seine aktive Anteilnahme am Geschehen in Syrien und an der Syrien-Debatte nachließ, wie sich vor allem im letzten Drittel seines Schaffens herausstellte.
Vermutlich liegt es an Sadiq Al-Azms Sozialisation, an der geistigen Schule, die er durchlaufen hat und an seinem Charakter, dass nach wie vor eine gewisse Distanz zwischen ihm und den Menschen in seinem Umfeld besteht. Es war tatsächlich nie leicht, ihm nahe zu sein. Er sagt auch selbst, dass er keine Gefolgschaft will, die einen Personenkult um ihn betreibt und ihm in blindem Gehorsam nach dem Mund redet. Da seien ihm aufrichtige Kollegen und Freunde viel lieber, die auch mal unverblümt ihre Meinung sagen und kritische Widerworte an ihn richten. Es lässt sich nur schwer feststellen, ob es tatsächlich so etwas wie „Sadiqisten“ oder eine „sadiqistische Schule“ gibt.
Möglicherweise war der Verzicht auf die Schaffung einer solchen Strömung ja die demokratischere Variante. Entsprechend vergleichbare Negativfälle scheinen dies zu belegen. Endgültigen Aufschluss wird aber wohl erst die Zukunft bringen.
Abschließend noch ein Wort zum Zusammenhang zwischen der Verleihung der Goethe-Medaille an Sadiq Al-Azm und der inzwischen höchst tragisch verlaufenden Syrischen Revolution. Keine Frage: Sadiq Al-Azm hat diese Auszeichnung verdient. Doch die Ehre wird vor allen Dingen auch dem Land Syrien zuteil. Die Nähe zum politischen Alltag scheint sich also auch in diesem Fall wie ein roter Faden durch das Leben und Schaffen eines Intellektuellen zu ziehen, der sich zwar von der breiten Masse abhebt, sich aber dennoch stets unermüdlich für das Gemeinwohl, für Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft und Weltoffenheit eingesetzt hat.