„Grenzübergang“   Graphic Novels über das Leben von Flüchtlingen

 „Grenzübergang“ –Graphic Novels über das Leben von Flüchtlingen ©Dar Sefsafa

„Grenzen“ ist der Plural von „Grenze“. Eine „Grenze“ bezeichnet die Trennung zweier Dinge, eine Maßnahme, damit die Dinge sich nicht vermischen, dafür sind Grenzen da. Und so, wie sie Gegenstände voneinander trennen, so trennen sie auch Menschen und Gesellschaften und teilen die Welt auf in ein verheißenes Paradies – die Länder Westeuropas, und eine furchteinflößende Hölle – die Länder der Dritten Welt.

Das Buch „Grenzübergang“, erschienen auf Arabisch und Englisch im Sefsefa-Verlag, vermittelt eindrücklich, welche Auswirkungen Grenzen auf das Leben von Menschen haben.  Die vier Graphic Novels sind an verschiedenen Orten angesiedelt mit Hauptcharakteren verschiedener Nationalitäten, doch ihr Leid und Elend vereint die Helden, sowie ihre Suche nach einem leichteren und sichereren Leben.
 

Das Flüchtlingscamp Kawergosk

 
In der ersten Geschichte des Sammelbands „Kawergosk…5 Sterne“, erzählt der deutsche Comic-künstler Reinhard Kleist von seinem Besuch in dem syrischen Flüchtlingscamp im Nordirak, im Jahr 2013. Kleist [AB2] beschreibt das Leben der Menschen in Kawergosk bis ins kleinste Detail, das Ausmaß ihres Leidens, die sie dem sicheren Tod entkommen sind, im Tausch für einen wahrscheinlichen Tod. In einem Flüchtlingscamp zu leben bedeutet, Du wohnst in einem Zelt, umgeben von hunderten weiterer Zelte, die alle jederzeit Feuer fangen könnten. Die Gemeinschaftstoiletten sind weit von Deinem Zelt entfernt, Du musst hunderte Meter zurücklegen auch wenn Du nachts gehen musst, und bei Regen verwandelt sich die Straße in Schlamm.
 
„Kawergosk…5 Sterne“ erzählt zwei Geschichten: Einerseits von der Flucht einer syrischen Familie aus ihrer Heimat in den Nordirak. Farhad, der älteste Sohn, dokumentiert ihre Reise mit seiner Handykamera, stets im Ungewissen darüber, ob sie je nach Hause zurückkehren werden. Andererseits erfährt der Leser, wie in einer Reportage, von den Erfahrungen Kleists: Während seines Aufenthalts im Flüchtlingscamp leitete er einen Zeichenworkshop für Kinder, viele Zeichnungen zeigten das Camp und den Zaun, der es umgibt, doch einige Kinder zeichneten Morde, die sie miterlebt hatten. Auch die Geschichten der Erwachsenen hörte Kleist, Geschichten über ihre Flucht, ihre Ängste, ihre früheren Leben und die aktuelle Situation.

 
  • „Leben wie ein Flüchtling“ ©Dar Sefsefa

    Im folgenden Jahr kehrten wir zurück um zu sehen wie es den Leuten ergangen war, die wir getroffen hatten. Doch fanden wir keinen von ihnen wieder, nur traurige Geschichten erwarteten uns: Eine Gemeinschaft von 300 Personen aus Subsahara Afrika in einem alten, verlassenen Gewächshaus, das eines nachts niedergebrannt und dem Erdboden gleichgemacht wurde. Die Familien sind entweder an einen anderen Ort gezogen oder leben in den ausgetrockneten Abwasserkanälen oder ähnlichem. Nonnen, die den Migranten hier helfen, erzählen, dass dieser Vandalismus unmittelbar vor dem großen Sportereignis geschah, kurz bevor in der Gegend eine Vielzahl von Journalisten eintreffen würde. Seit der Erfindung, die dazu führte, dass Pflanzen an Stelle von Erde nur noch Plastiktaschen benötigen, gehörte die Stadt Almería zu den ärmsten Regionen Europas. Auf der Suche nach einem besseren Leben zogen Millionen ihrer Einwohner in andere Regionen des Kontinents. Heute ist Almería vermutlich die größte Umwelt- und Menschenrechtskatastrophe Europas während sie sich gleichzeitig sehr starker Unterstützung seitens der Europäischen Union erfreut. Die Konstrukteure der Gewächshäuser hatten ein Gebiet mit Grundwasser ausgewählt, giftige Rückstände vom Plastik und Pestiziden sowie Chemikalien hatten den Boden rund um Almería verseucht. Und dies ist der Ort, von dem in den Wintermonaten der Großteil des Obstes und Gemüses auf unseren Tellern stammt.

  • „Leben wie ein Flüchtling“ ©Dar Sefsefa

    Leider erwiesen sich die Ereignisse, deren Zeuge wir wurden, als zeitlos. Rashids Geschichte ereignete sich um das Jahr 2000 herum, doch die Zahl der Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrunken sind und derjenigen, denen in Europa sämtliche Menschenrechte verweigert werden, haben sich verdoppelt, und dies trotz der enormen Beträge, die Europa dafür ausgegeben hat die Flüchtlinge von seinen Grenzen fern zu halten. Doch vielleicht ist gerade dies der Grund. Bevor Europa seine Tore verschloss kamen die Leute als Saisonarbeiter ins Land und kehrten sicher und legal wieder zu ihren Familien zurück. Doch als beispielsweise Spanien 1991 Visarestriktionen für Marokkaner einführte, begann der Menschenhandel rund um Gibraltar. Diese Geschichte macht auf viele Weisen deutlich, wie die Europäische Union durch ihre Handelspolitik den Druck auf die Flüchtlinge erhöht und sie dazu zwingt, ihre Heimatländer zu verlassen. Rashids Vater hatte ein Zuckerrohrfeld gepachtet, doch die lokalen Farmer konnten mit dem europäischen Wettbewerb nicht mithalten und so wurde der überschüssige Zucker aus Afrika beseitigt. Lokale Kleidungsfabriken imitierten westliche Logos, um gefälschte T-Shirts herzustellen und ganze Dörfer leben vom Einschmelzen und Recyceln europäischen Elektronikschrotts. Die letzte Zuflucht war die Fischerei, doch als europäische und asiatische Fischereiunternehmen die Fischfangrechte an der gesamten marokkanischen Küste kauften, zwang dies die Fischer dazu ihre Einkommensquelle zu wechseln.

  • Die Grenze des Bootes ©Dar Sefsefa

    Die Grenze des Bootes, Unten rechts: Zeichnungen: Mohamed Wahba, Unten links: Autor: Ahmed Shawqi Ali

  • Die Grenze des Bootes ©Dar Sefsefa

    Ich staunte, „all diese Leute reisen auf diesem kleinen Boot“, mein Vater lachte, „Sicher nicht, Du Dummkopf. Es gibt mehrere kleine Boote, die uns zu dem großen Boot bringen, mit dem wir nach Italien fahren werden.“

  • Das Flüchtlingscamp Kawergosk ©Dar Sefsefa

    Oben rechts: Die Grenze wurde erst vor ein paar Tagen geöffnet und nun strömten alle dorthin, die Anzahl der Menschen geht wohl in die Tausende, Mitte:Über den Tigris wurde eine Pontonbrücke gebaut. Es war unglaublich heiß und es gab kaum Möglichkeiten der Sonne zu entkommen. Mitarbeiter der Unicef verteilten Wasser. Sprechblase unten rechts: Farhad, jetzt lass das Filmen und hilf Deiner Mutter!

  • Das Flüchtlingscamp Kawergosk ©Dar Sefsefa

    Kasten oben rechts:Am folgenden Tag beginnt mein Workshop mit den Kindern. Hassan wird übersetzen und ich verteile die Buntstifte, die ich aus Berlin mitgebracht, und die Anne noch in Erbil gekauft hatte. Sprechblase oben links: Zeichnet ein Bild vom Camp. Malt die Dinge, die ihr mögt, oder die ihr nicht mögt. Kasten unten links:Auf den Bildern erkennt man, dass die Kinder alles was im Camp passiert sehr genau beobachten. Sprechblase unten rechts: Schau Hassan. Hier siehst Du, wie die Stromversorgung funktioniert.

 

„Leben wie ein Flüchtling“
 

„Im Finnischen gibt es ein gemeines Wort, das sinngemäß „leben wie ein Flüchtling“ bedeutet. Es wird von Leuten benutzt, die meinen, dass Krieg oder Verfolgung die einzig gültigen Ursachen für Migration sind, als ob Armut, Hunger und Verzweiflung nur herbeigezogene Ausreden seien.“ Mit diesen Worten beginnt der finnische Künstler Ville Tietäväinen seine Geschichte „Unsichtbare Hände…Europa aus der Perspektive eines illegalen Einwanderers“, in dem er die Verfolgung, Ausgrenzung und Ausbeutung zeigt, die Flüchtlinge in Westeuropa erleben. Gemeinsam mit dem Anthropologen Marko Juntunen reiste Tietäväinen nach Marokko und Spanien, wo sie Rashid, einen der Hauptcharaktere der Graphic Novel persönlich kennenlernten: Um seine Familie zu versorgen, begibt sich der Marokkaner Rashid auf die "Harraga", die illegale Einreise in die Europäische Union. Er ist nur einer von vielen, die am Ende ihrer Reise erkennen müssen, wie der psychologische und physische Druck, der auf illegalen Einwanderern lastet, sie zu einfachen Opfern organisierter Kriminalität macht.
 
Tietäväinen beschreibt, wie viele Flüchtlinge in Folge der Schrecken, die sie auf ihrer Reise durchlebt haben, und der konstanten Angst vor Abschiebung, unter posttraumatischen Belastungsstörungen (PTB) leiden. Zu den Symptomen gehören Alpträume, Übelkeit, Kopfschmerzen, Halluzinationen oder Panikattacken, und oft ziehen sich die Betroffenen aufgrund dessen aus der Gesellschaft zurück, verstecken sich jahrelang, manchmal ein Leben lang.
 
Am Beispiel Spaniens, das 1991 Visabeschränkungen für Marokkaner einführte, zeigt Tietäväinen wie die europäischen Regierungen durch ihre Politik die Krise der illegalen Einwanderung befeuert haben. Bis dato waren Saisonarbeiter legal eingereist und nach einigen Monaten wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Dies änderte sich mit Einführung der neuen Regelungen. Der Menschenhandel verbreitete sich rund um Gibraltar und marokkanische Arbeiter, die, nun illegal, in Spanien einreisten, blieben fortan im Lande.
 

Die Grenze des Bootes

 
Die Geschichte „Die Grenze des Bootes“ erzählt von einem der tragischsten Unfälle des Jahres 2016, bei dem Dutzende Menschen beim Versuch illegal von Ägypten nach Italien überzusetzen im Mittelmeer ertranken.
 
Im Zentrum der Geschichte steht eine ägyptische Familie und ihr Traum: Mutter, Vater und Sohn Ali wollen nach Italien auszuwandern, doch die Reise mit den Schmugglern wird zum Alptraum: Zunächst müssen sie sich auf einer Hühnerfarm verstecken, dann werden sie in einem geschlossen, übelriechenden LKW abtransportiert bis sie das Boot erreichen, welches sie nach Italien bringen soll.
 
Es ist ein kleines Boot und es legt ab mit hunderten von Menschen an Bord, Kinder, Jugendliche und Frauen. Diese Anzahl überschreitet die Kapazitätsgrenze des Bootes sodass es versinkt und beinahe alle Flüchtlinge, die an Bord waren, ertrinken.
 


Das Buch „Grenzübergang“, herausgegeben vom Kairoer Sefsefa-Verlag mit Unterstützung des Goethe-Instituts erschien im Rahmen der dritten Ägyptischen Comicwoche. An dem Buch hat eine Vielzahl ägyptischer und europäischer Künstlern mitgewirkt: Totus Ackermann und Reinhard Kleist (Deutschland), Ville Tietäväinen (Finnland), Julia Marti und Barbara Muli (Schweiz) und Mohamed Wahba (Ägypten).